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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Johannes Lalvin in seinen Briefen

Krankheit die Rede, in frühern Jahren besonders von quälender Migräne, in
spätern von schweren innern Leiden; aber vom Bett aus diktiert er seine Briefe,
und im Lehnstuhl läßt er sich zur Kirche tragen, um predigen zu können.
Wie unzufrieden ist er mit dem, was er fertig bringt! "Ich habe nicht ohne
Beschämung, schreibt er seinem Freunde Farek, die Stelle in deinem Briefe ge¬
lesen, in der du meinen Fleiß lobst, da ich mir doch so meiner Faulheit und
Langsamkeit bewußt bin. Der Herr gebe, daß ich trotz meines langsamen
Kriechens doch etwas ausrichte" (I, 339). Und was leistet dieser Mann, der
so von sich schreibt! Von früh bis spät müht er sich rastlos im Dienste seines
großen Berufs. Vom Schreibtisch eilt er zur Predigt, von der Predigt zur
Vorlesung, von der Vorlesung zu wichtigen Verhandlungen mit Rat und
Kollegen. Wenn er heimkommt, drängt sich die Schar der Besucher in seinem
Hause, die mit den verschiedensten Anliegen kommen. Was haben ihm allein
die Hunderte von Flüchtigen aus allerlei Ländern für Mühe gemacht, die
damals in Genf zusammenströmten, um dort unbehindert ihres Glaubens leben
zu können! Und daneben die zahllosen kleinen Gefälligkeiten, um die er an¬
gegangen wird. Hier bittet ein Abreisender um einen Empfehlungsbrief, dort
wünscht man von ihm einen Geistlichen, einen Arzt, eine passende Wohnung
empfohlen zu bekommen oder sucht bei ihm Auskunft über die Fortschritte
junger Studenten; nichts vergißt er, nichts nimmt er leicht. Nebenbei findet
er noch Zeit zu unermüdlicher schriftstellerischer Arbeit: Jahr auf Jahr er¬
scheinen seine Kommentare zu den biblischen Büchern, die Frucht tiefen Ein¬
dringens in die Schrift, wohl der bedeutendste Beitrag, den die Reformations¬
zeit überhaupt zur Auslegung der Bibel beigesteuert hat. Wie lernt man den
feinen Exegeten schon ans der einen Widmung zum Römerkvmmentar (I, 81 ff.),
den klaren Kritiker aus dem Urteil über den Entwurf der Magdeburger
Centurien kennen (II, 164). Und welche Summe von treuer, gewissenhaftester
Arbeit, die allein seine Korrespondenz selbst bedeutet; an einem Tage, dem
29. Dezember 1555, schreibt er nicht weniger als zehn ausführliche Briefe an
hochstehende Persönlichkeiten in Polen, in jedem Briefe individuell eingehend
auf die Art des Adressaten, den er nur durch fremde Schilderung kennt.

Aber nicht nur den Riesensleiß Calvins lassen uns seine Briefe erkennen,
sondern die große Persönlichkeit des Mannes mit all ihren hohen Vorzügen
tritt uns in ihnen lebendig entgegen. Immer wieder staunt man über den weiten,
scharfen Blick, über den großen Zug in seiner Tätigkeit. Von eigentlich politischer
Wirksamkeit sucht er sich nach Möglichkeit fernzuhalten; aber es ist begreiflich,
daß der Genfer Rat, wenn er sich in großen Fragen nicht zu raten wußte (II, 133),
das Urteil dieses Mannes einholte, der überall seinen klaren Blick auch für die
politischen Fragen beweist: man lese nur die vorzüglich unterrichtenden Briefe
über das Regensburger Religiousgesprüch im Jahre 1541, an dem Calvin teil¬
nahm. Und die Sorge für die Zukunft der evangelischen Sache trieb ihn selbst
dazu, uach allen Ländern Europas seinen Blick zu richten, um überall mahnend


Johannes Lalvin in seinen Briefen

Krankheit die Rede, in frühern Jahren besonders von quälender Migräne, in
spätern von schweren innern Leiden; aber vom Bett aus diktiert er seine Briefe,
und im Lehnstuhl läßt er sich zur Kirche tragen, um predigen zu können.
Wie unzufrieden ist er mit dem, was er fertig bringt! „Ich habe nicht ohne
Beschämung, schreibt er seinem Freunde Farek, die Stelle in deinem Briefe ge¬
lesen, in der du meinen Fleiß lobst, da ich mir doch so meiner Faulheit und
Langsamkeit bewußt bin. Der Herr gebe, daß ich trotz meines langsamen
Kriechens doch etwas ausrichte" (I, 339). Und was leistet dieser Mann, der
so von sich schreibt! Von früh bis spät müht er sich rastlos im Dienste seines
großen Berufs. Vom Schreibtisch eilt er zur Predigt, von der Predigt zur
Vorlesung, von der Vorlesung zu wichtigen Verhandlungen mit Rat und
Kollegen. Wenn er heimkommt, drängt sich die Schar der Besucher in seinem
Hause, die mit den verschiedensten Anliegen kommen. Was haben ihm allein
die Hunderte von Flüchtigen aus allerlei Ländern für Mühe gemacht, die
damals in Genf zusammenströmten, um dort unbehindert ihres Glaubens leben
zu können! Und daneben die zahllosen kleinen Gefälligkeiten, um die er an¬
gegangen wird. Hier bittet ein Abreisender um einen Empfehlungsbrief, dort
wünscht man von ihm einen Geistlichen, einen Arzt, eine passende Wohnung
empfohlen zu bekommen oder sucht bei ihm Auskunft über die Fortschritte
junger Studenten; nichts vergißt er, nichts nimmt er leicht. Nebenbei findet
er noch Zeit zu unermüdlicher schriftstellerischer Arbeit: Jahr auf Jahr er¬
scheinen seine Kommentare zu den biblischen Büchern, die Frucht tiefen Ein¬
dringens in die Schrift, wohl der bedeutendste Beitrag, den die Reformations¬
zeit überhaupt zur Auslegung der Bibel beigesteuert hat. Wie lernt man den
feinen Exegeten schon ans der einen Widmung zum Römerkvmmentar (I, 81 ff.),
den klaren Kritiker aus dem Urteil über den Entwurf der Magdeburger
Centurien kennen (II, 164). Und welche Summe von treuer, gewissenhaftester
Arbeit, die allein seine Korrespondenz selbst bedeutet; an einem Tage, dem
29. Dezember 1555, schreibt er nicht weniger als zehn ausführliche Briefe an
hochstehende Persönlichkeiten in Polen, in jedem Briefe individuell eingehend
auf die Art des Adressaten, den er nur durch fremde Schilderung kennt.

Aber nicht nur den Riesensleiß Calvins lassen uns seine Briefe erkennen,
sondern die große Persönlichkeit des Mannes mit all ihren hohen Vorzügen
tritt uns in ihnen lebendig entgegen. Immer wieder staunt man über den weiten,
scharfen Blick, über den großen Zug in seiner Tätigkeit. Von eigentlich politischer
Wirksamkeit sucht er sich nach Möglichkeit fernzuhalten; aber es ist begreiflich,
daß der Genfer Rat, wenn er sich in großen Fragen nicht zu raten wußte (II, 133),
das Urteil dieses Mannes einholte, der überall seinen klaren Blick auch für die
politischen Fragen beweist: man lese nur die vorzüglich unterrichtenden Briefe
über das Regensburger Religiousgesprüch im Jahre 1541, an dem Calvin teil¬
nahm. Und die Sorge für die Zukunft der evangelischen Sache trieb ihn selbst
dazu, uach allen Ländern Europas seinen Blick zu richten, um überall mahnend


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[0134] Johannes Lalvin in seinen Briefen Krankheit die Rede, in frühern Jahren besonders von quälender Migräne, in spätern von schweren innern Leiden; aber vom Bett aus diktiert er seine Briefe, und im Lehnstuhl läßt er sich zur Kirche tragen, um predigen zu können. Wie unzufrieden ist er mit dem, was er fertig bringt! „Ich habe nicht ohne Beschämung, schreibt er seinem Freunde Farek, die Stelle in deinem Briefe ge¬ lesen, in der du meinen Fleiß lobst, da ich mir doch so meiner Faulheit und Langsamkeit bewußt bin. Der Herr gebe, daß ich trotz meines langsamen Kriechens doch etwas ausrichte" (I, 339). Und was leistet dieser Mann, der so von sich schreibt! Von früh bis spät müht er sich rastlos im Dienste seines großen Berufs. Vom Schreibtisch eilt er zur Predigt, von der Predigt zur Vorlesung, von der Vorlesung zu wichtigen Verhandlungen mit Rat und Kollegen. Wenn er heimkommt, drängt sich die Schar der Besucher in seinem Hause, die mit den verschiedensten Anliegen kommen. Was haben ihm allein die Hunderte von Flüchtigen aus allerlei Ländern für Mühe gemacht, die damals in Genf zusammenströmten, um dort unbehindert ihres Glaubens leben zu können! Und daneben die zahllosen kleinen Gefälligkeiten, um die er an¬ gegangen wird. Hier bittet ein Abreisender um einen Empfehlungsbrief, dort wünscht man von ihm einen Geistlichen, einen Arzt, eine passende Wohnung empfohlen zu bekommen oder sucht bei ihm Auskunft über die Fortschritte junger Studenten; nichts vergißt er, nichts nimmt er leicht. Nebenbei findet er noch Zeit zu unermüdlicher schriftstellerischer Arbeit: Jahr auf Jahr er¬ scheinen seine Kommentare zu den biblischen Büchern, die Frucht tiefen Ein¬ dringens in die Schrift, wohl der bedeutendste Beitrag, den die Reformations¬ zeit überhaupt zur Auslegung der Bibel beigesteuert hat. Wie lernt man den feinen Exegeten schon ans der einen Widmung zum Römerkvmmentar (I, 81 ff.), den klaren Kritiker aus dem Urteil über den Entwurf der Magdeburger Centurien kennen (II, 164). Und welche Summe von treuer, gewissenhaftester Arbeit, die allein seine Korrespondenz selbst bedeutet; an einem Tage, dem 29. Dezember 1555, schreibt er nicht weniger als zehn ausführliche Briefe an hochstehende Persönlichkeiten in Polen, in jedem Briefe individuell eingehend auf die Art des Adressaten, den er nur durch fremde Schilderung kennt. Aber nicht nur den Riesensleiß Calvins lassen uns seine Briefe erkennen, sondern die große Persönlichkeit des Mannes mit all ihren hohen Vorzügen tritt uns in ihnen lebendig entgegen. Immer wieder staunt man über den weiten, scharfen Blick, über den großen Zug in seiner Tätigkeit. Von eigentlich politischer Wirksamkeit sucht er sich nach Möglichkeit fernzuhalten; aber es ist begreiflich, daß der Genfer Rat, wenn er sich in großen Fragen nicht zu raten wußte (II, 133), das Urteil dieses Mannes einholte, der überall seinen klaren Blick auch für die politischen Fragen beweist: man lese nur die vorzüglich unterrichtenden Briefe über das Regensburger Religiousgesprüch im Jahre 1541, an dem Calvin teil¬ nahm. Und die Sorge für die Zukunft der evangelischen Sache trieb ihn selbst dazu, uach allen Ländern Europas seinen Blick zu richten, um überall mahnend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/134>, abgerufen am 23.07.2024.