Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kurpfuscher und soziale Pfuscher

Auskunft gibt. Man wisse: in unserm Jahrhundert des Selbstinteresses gibt
kein Ungenannter Geld für Zeitungsinserate aus, lediglich aus Barmherzigkeit
und Gemeinsinn. Gemeinnützige Menschen handeln anders. Und wer sich
ans eine solche Anpreisung meldet, wird die Geister, die er rief, nicht wieder
los und muß ein großes Lösegeld bezahlen. Die Kurpfuscher sind geschäfts¬
gewandt genug, zu wissen, daß gerade die geheimen Leiden, die, deren
Existenz jeder gern verheimlicht, und bei denen ihm "Fernbehandlung, Be¬
handlung ohne Berufsstörung, briefliche Behandlung" besonders erwünscht
sein muß, ihnen die meiste Aussicht auf Zuspruch geben. Der Gläubige aber
verliert meist die für eine Heilung günstigste Zeit, die Anfangszeit des
Leidens.

Von Mißerfolgen der Kurpfuscher sprächen die Gräber Bünde -- wenn
sie reden könnten; warum spricht die Öffentlichkeit so wenig davon? Weil
der erfolglos Behandelte -- zu spät -- seine Dummheit einsieht und sich
dann natürlich schämt, sie zu gestehn, aber gern dabei ist, dem in der äußersten
Not herbeigerufnen Arzt, der einen völlig aussichtslosen Fall vor sich hatte,
die Schuld aufzubürden.

Welcher große Schaden entsteht namentlich aus ansteckenden und ver¬
erblichen, die Nachkommenschaft beeinträchtigenden Krankheiten! In der Natur
der Sache liegt es, daß man diese Schädigungen nur ahnen kann, daß aber exakte
Beweise, Zahlen und Daten nur sehr schwer und spärlich zu erlangen sind.

Nur ein paar Stichworte: "Ihre Nerven sind schwach." Ein Mittel da¬
gegen, das alles heilt; bei "Schwächezuständen" u. tgi. naturgemäße arznei¬
lose Selbstbehandlung laut Broschüre. Enthaarungswasser "beseitigt" in zwei
Minuten nach einmaligem Gebrauch gänzlich mit der Wurzel die stärksten
Haare im Gesicht und am Körper "Erfolg unfehlbar dauernd für immer und
vollkommen unschädlich"; Entfcttungsmittel, vollkommen unschädlich; ideale
Büste in einem Monat, vollkommen unschädlich.

Selbst die leidenschaftlichsten Trinker werden in zwanzig bis dreißig Tagen
von der Trunksucht durch ein dem Kaffee beigemengtes probates Mittel geheilt.

In den Mitteln, die "das Geheimnis der Wienerin", eine üppige
Büste usw. versprechen, ist vorwiegend und meist Arsenik; und wenn sie Un¬
schädlichkeit versprechen, so ist eben nur etwas weniger Arsenik darin. Merken
darf man sich jedenfalls, daß alle Mittel, deren Zusammenstellung geheim ge¬
halten wird, nicht einwandfrei und in der Regel auch nicht unschädlich sind.
Als relativ unschädlicher -- wenn auch mit Unterschied -- sieht man ge¬
wöhnlich die Wasserapostel und Lehmpfuscher an. Manche Naturärzte, wie
zum Beispiel or. Lcchmcinn, standen auf der Schwelle zum Arzt und taten
dasselbe (nur mit mehr Klimbim), was der moderne Arzt ebenso macht, und es ist
interessant zu hören, daß die Errungenschaften eines Prießnitz, wie Dr. Siefart in
einem Aufsatz in derZeitschrift "Soziale Medizin und Hygiene" vom Dezember 1907
bezeugt, direkt von dem Arzte Joh. Sigismund Hahn entlehnt sind.


Kurpfuscher und soziale Pfuscher

Auskunft gibt. Man wisse: in unserm Jahrhundert des Selbstinteresses gibt
kein Ungenannter Geld für Zeitungsinserate aus, lediglich aus Barmherzigkeit
und Gemeinsinn. Gemeinnützige Menschen handeln anders. Und wer sich
ans eine solche Anpreisung meldet, wird die Geister, die er rief, nicht wieder
los und muß ein großes Lösegeld bezahlen. Die Kurpfuscher sind geschäfts¬
gewandt genug, zu wissen, daß gerade die geheimen Leiden, die, deren
Existenz jeder gern verheimlicht, und bei denen ihm „Fernbehandlung, Be¬
handlung ohne Berufsstörung, briefliche Behandlung" besonders erwünscht
sein muß, ihnen die meiste Aussicht auf Zuspruch geben. Der Gläubige aber
verliert meist die für eine Heilung günstigste Zeit, die Anfangszeit des
Leidens.

Von Mißerfolgen der Kurpfuscher sprächen die Gräber Bünde — wenn
sie reden könnten; warum spricht die Öffentlichkeit so wenig davon? Weil
der erfolglos Behandelte — zu spät — seine Dummheit einsieht und sich
dann natürlich schämt, sie zu gestehn, aber gern dabei ist, dem in der äußersten
Not herbeigerufnen Arzt, der einen völlig aussichtslosen Fall vor sich hatte,
die Schuld aufzubürden.

Welcher große Schaden entsteht namentlich aus ansteckenden und ver¬
erblichen, die Nachkommenschaft beeinträchtigenden Krankheiten! In der Natur
der Sache liegt es, daß man diese Schädigungen nur ahnen kann, daß aber exakte
Beweise, Zahlen und Daten nur sehr schwer und spärlich zu erlangen sind.

Nur ein paar Stichworte: „Ihre Nerven sind schwach." Ein Mittel da¬
gegen, das alles heilt; bei „Schwächezuständen" u. tgi. naturgemäße arznei¬
lose Selbstbehandlung laut Broschüre. Enthaarungswasser „beseitigt" in zwei
Minuten nach einmaligem Gebrauch gänzlich mit der Wurzel die stärksten
Haare im Gesicht und am Körper „Erfolg unfehlbar dauernd für immer und
vollkommen unschädlich"; Entfcttungsmittel, vollkommen unschädlich; ideale
Büste in einem Monat, vollkommen unschädlich.

Selbst die leidenschaftlichsten Trinker werden in zwanzig bis dreißig Tagen
von der Trunksucht durch ein dem Kaffee beigemengtes probates Mittel geheilt.

In den Mitteln, die „das Geheimnis der Wienerin", eine üppige
Büste usw. versprechen, ist vorwiegend und meist Arsenik; und wenn sie Un¬
schädlichkeit versprechen, so ist eben nur etwas weniger Arsenik darin. Merken
darf man sich jedenfalls, daß alle Mittel, deren Zusammenstellung geheim ge¬
halten wird, nicht einwandfrei und in der Regel auch nicht unschädlich sind.
Als relativ unschädlicher — wenn auch mit Unterschied — sieht man ge¬
wöhnlich die Wasserapostel und Lehmpfuscher an. Manche Naturärzte, wie
zum Beispiel or. Lcchmcinn, standen auf der Schwelle zum Arzt und taten
dasselbe (nur mit mehr Klimbim), was der moderne Arzt ebenso macht, und es ist
interessant zu hören, daß die Errungenschaften eines Prießnitz, wie Dr. Siefart in
einem Aufsatz in derZeitschrift „Soziale Medizin und Hygiene" vom Dezember 1907
bezeugt, direkt von dem Arzte Joh. Sigismund Hahn entlehnt sind.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0126" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313829"/>
          <fw type="header" place="top"> Kurpfuscher und soziale Pfuscher</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_472" prev="#ID_471"> Auskunft gibt. Man wisse: in unserm Jahrhundert des Selbstinteresses gibt<lb/>
kein Ungenannter Geld für Zeitungsinserate aus, lediglich aus Barmherzigkeit<lb/>
und Gemeinsinn. Gemeinnützige Menschen handeln anders. Und wer sich<lb/>
ans eine solche Anpreisung meldet, wird die Geister, die er rief, nicht wieder<lb/>
los und muß ein großes Lösegeld bezahlen. Die Kurpfuscher sind geschäfts¬<lb/>
gewandt genug, zu wissen, daß gerade die geheimen Leiden, die, deren<lb/>
Existenz jeder gern verheimlicht, und bei denen ihm &#x201E;Fernbehandlung, Be¬<lb/>
handlung ohne Berufsstörung, briefliche Behandlung" besonders erwünscht<lb/>
sein muß, ihnen die meiste Aussicht auf Zuspruch geben. Der Gläubige aber<lb/>
verliert meist die für eine Heilung günstigste Zeit, die Anfangszeit des<lb/>
Leidens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_473"> Von Mißerfolgen der Kurpfuscher sprächen die Gräber Bünde &#x2014; wenn<lb/>
sie reden könnten; warum spricht die Öffentlichkeit so wenig davon? Weil<lb/>
der erfolglos Behandelte &#x2014; zu spät &#x2014; seine Dummheit einsieht und sich<lb/>
dann natürlich schämt, sie zu gestehn, aber gern dabei ist, dem in der äußersten<lb/>
Not herbeigerufnen Arzt, der einen völlig aussichtslosen Fall vor sich hatte,<lb/>
die Schuld aufzubürden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_474"> Welcher große Schaden entsteht namentlich aus ansteckenden und ver¬<lb/>
erblichen, die Nachkommenschaft beeinträchtigenden Krankheiten! In der Natur<lb/>
der Sache liegt es, daß man diese Schädigungen nur ahnen kann, daß aber exakte<lb/>
Beweise, Zahlen und Daten nur sehr schwer und spärlich zu erlangen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_475"> Nur ein paar Stichworte: &#x201E;Ihre Nerven sind schwach." Ein Mittel da¬<lb/>
gegen, das alles heilt; bei &#x201E;Schwächezuständen" u. tgi. naturgemäße arznei¬<lb/>
lose Selbstbehandlung laut Broschüre. Enthaarungswasser &#x201E;beseitigt" in zwei<lb/>
Minuten nach einmaligem Gebrauch gänzlich mit der Wurzel die stärksten<lb/>
Haare im Gesicht und am Körper &#x201E;Erfolg unfehlbar dauernd für immer und<lb/>
vollkommen unschädlich"; Entfcttungsmittel, vollkommen unschädlich; ideale<lb/>
Büste in einem Monat, vollkommen unschädlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_476"> Selbst die leidenschaftlichsten Trinker werden in zwanzig bis dreißig Tagen<lb/>
von der Trunksucht durch ein dem Kaffee beigemengtes probates Mittel geheilt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_477"> In den Mitteln, die &#x201E;das Geheimnis der Wienerin", eine üppige<lb/>
Büste usw. versprechen, ist vorwiegend und meist Arsenik; und wenn sie Un¬<lb/>
schädlichkeit versprechen, so ist eben nur etwas weniger Arsenik darin. Merken<lb/>
darf man sich jedenfalls, daß alle Mittel, deren Zusammenstellung geheim ge¬<lb/>
halten wird, nicht einwandfrei und in der Regel auch nicht unschädlich sind.<lb/>
Als relativ unschädlicher &#x2014; wenn auch mit Unterschied &#x2014; sieht man ge¬<lb/>
wöhnlich die Wasserapostel und Lehmpfuscher an. Manche Naturärzte, wie<lb/>
zum Beispiel or. Lcchmcinn, standen auf der Schwelle zum Arzt und taten<lb/>
dasselbe (nur mit mehr Klimbim), was der moderne Arzt ebenso macht, und es ist<lb/>
interessant zu hören, daß die Errungenschaften eines Prießnitz, wie Dr. Siefart in<lb/>
einem Aufsatz in derZeitschrift &#x201E;Soziale Medizin und Hygiene" vom Dezember 1907<lb/>
bezeugt, direkt von dem Arzte Joh. Sigismund Hahn entlehnt sind.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0126] Kurpfuscher und soziale Pfuscher Auskunft gibt. Man wisse: in unserm Jahrhundert des Selbstinteresses gibt kein Ungenannter Geld für Zeitungsinserate aus, lediglich aus Barmherzigkeit und Gemeinsinn. Gemeinnützige Menschen handeln anders. Und wer sich ans eine solche Anpreisung meldet, wird die Geister, die er rief, nicht wieder los und muß ein großes Lösegeld bezahlen. Die Kurpfuscher sind geschäfts¬ gewandt genug, zu wissen, daß gerade die geheimen Leiden, die, deren Existenz jeder gern verheimlicht, und bei denen ihm „Fernbehandlung, Be¬ handlung ohne Berufsstörung, briefliche Behandlung" besonders erwünscht sein muß, ihnen die meiste Aussicht auf Zuspruch geben. Der Gläubige aber verliert meist die für eine Heilung günstigste Zeit, die Anfangszeit des Leidens. Von Mißerfolgen der Kurpfuscher sprächen die Gräber Bünde — wenn sie reden könnten; warum spricht die Öffentlichkeit so wenig davon? Weil der erfolglos Behandelte — zu spät — seine Dummheit einsieht und sich dann natürlich schämt, sie zu gestehn, aber gern dabei ist, dem in der äußersten Not herbeigerufnen Arzt, der einen völlig aussichtslosen Fall vor sich hatte, die Schuld aufzubürden. Welcher große Schaden entsteht namentlich aus ansteckenden und ver¬ erblichen, die Nachkommenschaft beeinträchtigenden Krankheiten! In der Natur der Sache liegt es, daß man diese Schädigungen nur ahnen kann, daß aber exakte Beweise, Zahlen und Daten nur sehr schwer und spärlich zu erlangen sind. Nur ein paar Stichworte: „Ihre Nerven sind schwach." Ein Mittel da¬ gegen, das alles heilt; bei „Schwächezuständen" u. tgi. naturgemäße arznei¬ lose Selbstbehandlung laut Broschüre. Enthaarungswasser „beseitigt" in zwei Minuten nach einmaligem Gebrauch gänzlich mit der Wurzel die stärksten Haare im Gesicht und am Körper „Erfolg unfehlbar dauernd für immer und vollkommen unschädlich"; Entfcttungsmittel, vollkommen unschädlich; ideale Büste in einem Monat, vollkommen unschädlich. Selbst die leidenschaftlichsten Trinker werden in zwanzig bis dreißig Tagen von der Trunksucht durch ein dem Kaffee beigemengtes probates Mittel geheilt. In den Mitteln, die „das Geheimnis der Wienerin", eine üppige Büste usw. versprechen, ist vorwiegend und meist Arsenik; und wenn sie Un¬ schädlichkeit versprechen, so ist eben nur etwas weniger Arsenik darin. Merken darf man sich jedenfalls, daß alle Mittel, deren Zusammenstellung geheim ge¬ halten wird, nicht einwandfrei und in der Regel auch nicht unschädlich sind. Als relativ unschädlicher — wenn auch mit Unterschied — sieht man ge¬ wöhnlich die Wasserapostel und Lehmpfuscher an. Manche Naturärzte, wie zum Beispiel or. Lcchmcinn, standen auf der Schwelle zum Arzt und taten dasselbe (nur mit mehr Klimbim), was der moderne Arzt ebenso macht, und es ist interessant zu hören, daß die Errungenschaften eines Prießnitz, wie Dr. Siefart in einem Aufsatz in derZeitschrift „Soziale Medizin und Hygiene" vom Dezember 1907 bezeugt, direkt von dem Arzte Joh. Sigismund Hahn entlehnt sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/126
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/126>, abgerufen am 23.07.2024.