Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Auswanderung nach Brasilien

mit Julio de Castilhos die eigenartige Konstitution dieses Staats ausarbeitete,
die von den einen (den Positivsten) als das größte Werk staatsmännischer
Weisheit unter den Kulturvölkern, von den andern als ein Freibrief für alle
persönliche Willkür des Staatspräsidenten bezeichnet wird. Varella war als
langjähriger Chefredakteur der Federacao, des offiziellen Regierungsblattes, die
Seele der republikanischen Propaganda, identisch mit den Bestrebungen der
Regierung, mit Julio de Castilhos, dessen Ideen als heiliges Vermächtnis von
der jetzt herrschenden Partei betrachtet werden. Der tote Chef hat fast mehr
Gewalt, als er im Leben jemals gehabt hat; unentwegt hält die republikanische
Partei -- so nennen sich die auf Castilhos schwörenden Riograndenser -- an
dem Negierungsprogramm, an den Prinzipien von Julio de Castilhos fest.

Auch die Abneigung gegen die deutsche Einwandrung zieht sich durch die
ganze republikanische Verwaltung trotz aller gegenteiligen Erklärungen von
offizieller Seite bei deutschen Schützen- und Turnfesten, bei hiesigen GeWerbe¬
ausstellungen und sonstigen Gelegenheiten der Betätigung deutschen Gemein¬
sinns und deutscher Schaffensfreudigkeit. Es ist eben gar zu offenkundig, wie
sehr Rio Grande sein Gedeihen, die Vorzüge, die es vor andern brasilianischen
Staaten voraus hat, der Mitarbeit des deutschen Elements verdankt, daß,
wenn es einen weit über den Bedarf des Staates produzierenden Ackerbau,
eine regsame Industrie hat, dies das Verdienst der germanischen Bevölkerung
ist. Man kann es auch nicht aus der Welt schaffen, daß keine andre Nation
einen so bedeutenden Zoll an Blut zum Wohle Brasiliens entrichtet hat wie
die Deutschen, daß diese nicht gezögert haben, die Scholle, die sie mit ihrem
Schweiße gedüngt hatten, auch mit ihrem Leben zu verteidigen und bereit¬
willig im Kriege gegen Rosas und gegen Paraguay alle Opfer an Gut und
Blut gebracht haben; doch bleiben trotz aller Hingabe an die neue Heimat ihre
Haare blond, ihre Augen blau, ihr innerstes Denken und Empfinden germanisch
und im Zusammenhange damit die Liebe zur deutschen Sprache bestehn, und
das ist es eben, was man ihnen nicht verzeiht.

Die berüchtigte "Landbereinigung" ist noch lebendig in aller Andenken,
der Schrecken noch nicht verwunden; die letzten Ausläufer dieses beunruhigenden
Vorgangs erstrecken sich bis in die Gegenwart. Es wurde eine Revision des
Landerwerbs vorgenommen und dabei ermittelt, daß große Strecken der jetzt
von deutschen Kolonisten besetzten Ländereien ehemals zur Zeit des Kaiserreichs
von politischen Magnaten und sonst durch die herrschenden Parteien begünstigten
Leuten auf nicht ganz einwandfreie Weise erworben worden waren. Es
wurden diese Gebiete also einfach als Regierungseigentum erklärt und den
Kolonisten, die ihr Land rechtmäßig erworben hatten, von andern, die ebenfalls
alle legalen Besitztitel vorgelegt hatten, bedeutet, entweder nochmals ihr Land
von der Regierung zu dem jetzt geltenden Werte zu kaufen oder es zu räumen-
Selbst Kolonisten, die ihr Besitztum im ReZistro vorrens eingetragen hatten,
wodurch es ein für allemal unanfechtbar wird, wurden von dieser Maßregel


Zur Auswanderung nach Brasilien

mit Julio de Castilhos die eigenartige Konstitution dieses Staats ausarbeitete,
die von den einen (den Positivsten) als das größte Werk staatsmännischer
Weisheit unter den Kulturvölkern, von den andern als ein Freibrief für alle
persönliche Willkür des Staatspräsidenten bezeichnet wird. Varella war als
langjähriger Chefredakteur der Federacao, des offiziellen Regierungsblattes, die
Seele der republikanischen Propaganda, identisch mit den Bestrebungen der
Regierung, mit Julio de Castilhos, dessen Ideen als heiliges Vermächtnis von
der jetzt herrschenden Partei betrachtet werden. Der tote Chef hat fast mehr
Gewalt, als er im Leben jemals gehabt hat; unentwegt hält die republikanische
Partei — so nennen sich die auf Castilhos schwörenden Riograndenser — an
dem Negierungsprogramm, an den Prinzipien von Julio de Castilhos fest.

Auch die Abneigung gegen die deutsche Einwandrung zieht sich durch die
ganze republikanische Verwaltung trotz aller gegenteiligen Erklärungen von
offizieller Seite bei deutschen Schützen- und Turnfesten, bei hiesigen GeWerbe¬
ausstellungen und sonstigen Gelegenheiten der Betätigung deutschen Gemein¬
sinns und deutscher Schaffensfreudigkeit. Es ist eben gar zu offenkundig, wie
sehr Rio Grande sein Gedeihen, die Vorzüge, die es vor andern brasilianischen
Staaten voraus hat, der Mitarbeit des deutschen Elements verdankt, daß,
wenn es einen weit über den Bedarf des Staates produzierenden Ackerbau,
eine regsame Industrie hat, dies das Verdienst der germanischen Bevölkerung
ist. Man kann es auch nicht aus der Welt schaffen, daß keine andre Nation
einen so bedeutenden Zoll an Blut zum Wohle Brasiliens entrichtet hat wie
die Deutschen, daß diese nicht gezögert haben, die Scholle, die sie mit ihrem
Schweiße gedüngt hatten, auch mit ihrem Leben zu verteidigen und bereit¬
willig im Kriege gegen Rosas und gegen Paraguay alle Opfer an Gut und
Blut gebracht haben; doch bleiben trotz aller Hingabe an die neue Heimat ihre
Haare blond, ihre Augen blau, ihr innerstes Denken und Empfinden germanisch
und im Zusammenhange damit die Liebe zur deutschen Sprache bestehn, und
das ist es eben, was man ihnen nicht verzeiht.

Die berüchtigte „Landbereinigung" ist noch lebendig in aller Andenken,
der Schrecken noch nicht verwunden; die letzten Ausläufer dieses beunruhigenden
Vorgangs erstrecken sich bis in die Gegenwart. Es wurde eine Revision des
Landerwerbs vorgenommen und dabei ermittelt, daß große Strecken der jetzt
von deutschen Kolonisten besetzten Ländereien ehemals zur Zeit des Kaiserreichs
von politischen Magnaten und sonst durch die herrschenden Parteien begünstigten
Leuten auf nicht ganz einwandfreie Weise erworben worden waren. Es
wurden diese Gebiete also einfach als Regierungseigentum erklärt und den
Kolonisten, die ihr Land rechtmäßig erworben hatten, von andern, die ebenfalls
alle legalen Besitztitel vorgelegt hatten, bedeutet, entweder nochmals ihr Land
von der Regierung zu dem jetzt geltenden Werte zu kaufen oder es zu räumen-
Selbst Kolonisten, die ihr Besitztum im ReZistro vorrens eingetragen hatten,
wodurch es ein für allemal unanfechtbar wird, wurden von dieser Maßregel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0122" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313825"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Auswanderung nach Brasilien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_454" prev="#ID_453"> mit Julio de Castilhos die eigenartige Konstitution dieses Staats ausarbeitete,<lb/>
die von den einen (den Positivsten) als das größte Werk staatsmännischer<lb/>
Weisheit unter den Kulturvölkern, von den andern als ein Freibrief für alle<lb/>
persönliche Willkür des Staatspräsidenten bezeichnet wird. Varella war als<lb/>
langjähriger Chefredakteur der Federacao, des offiziellen Regierungsblattes, die<lb/>
Seele der republikanischen Propaganda, identisch mit den Bestrebungen der<lb/>
Regierung, mit Julio de Castilhos, dessen Ideen als heiliges Vermächtnis von<lb/>
der jetzt herrschenden Partei betrachtet werden. Der tote Chef hat fast mehr<lb/>
Gewalt, als er im Leben jemals gehabt hat; unentwegt hält die republikanische<lb/>
Partei &#x2014; so nennen sich die auf Castilhos schwörenden Riograndenser &#x2014; an<lb/>
dem Negierungsprogramm, an den Prinzipien von Julio de Castilhos fest.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_455"> Auch die Abneigung gegen die deutsche Einwandrung zieht sich durch die<lb/>
ganze republikanische Verwaltung trotz aller gegenteiligen Erklärungen von<lb/>
offizieller Seite bei deutschen Schützen- und Turnfesten, bei hiesigen GeWerbe¬<lb/>
ausstellungen und sonstigen Gelegenheiten der Betätigung deutschen Gemein¬<lb/>
sinns und deutscher Schaffensfreudigkeit. Es ist eben gar zu offenkundig, wie<lb/>
sehr Rio Grande sein Gedeihen, die Vorzüge, die es vor andern brasilianischen<lb/>
Staaten voraus hat, der Mitarbeit des deutschen Elements verdankt, daß,<lb/>
wenn es einen weit über den Bedarf des Staates produzierenden Ackerbau,<lb/>
eine regsame Industrie hat, dies das Verdienst der germanischen Bevölkerung<lb/>
ist. Man kann es auch nicht aus der Welt schaffen, daß keine andre Nation<lb/>
einen so bedeutenden Zoll an Blut zum Wohle Brasiliens entrichtet hat wie<lb/>
die Deutschen, daß diese nicht gezögert haben, die Scholle, die sie mit ihrem<lb/>
Schweiße gedüngt hatten, auch mit ihrem Leben zu verteidigen und bereit¬<lb/>
willig im Kriege gegen Rosas und gegen Paraguay alle Opfer an Gut und<lb/>
Blut gebracht haben; doch bleiben trotz aller Hingabe an die neue Heimat ihre<lb/>
Haare blond, ihre Augen blau, ihr innerstes Denken und Empfinden germanisch<lb/>
und im Zusammenhange damit die Liebe zur deutschen Sprache bestehn, und<lb/>
das ist es eben, was man ihnen nicht verzeiht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_456" next="#ID_457"> Die berüchtigte &#x201E;Landbereinigung" ist noch lebendig in aller Andenken,<lb/>
der Schrecken noch nicht verwunden; die letzten Ausläufer dieses beunruhigenden<lb/>
Vorgangs erstrecken sich bis in die Gegenwart. Es wurde eine Revision des<lb/>
Landerwerbs vorgenommen und dabei ermittelt, daß große Strecken der jetzt<lb/>
von deutschen Kolonisten besetzten Ländereien ehemals zur Zeit des Kaiserreichs<lb/>
von politischen Magnaten und sonst durch die herrschenden Parteien begünstigten<lb/>
Leuten auf nicht ganz einwandfreie Weise erworben worden waren. Es<lb/>
wurden diese Gebiete also einfach als Regierungseigentum erklärt und den<lb/>
Kolonisten, die ihr Land rechtmäßig erworben hatten, von andern, die ebenfalls<lb/>
alle legalen Besitztitel vorgelegt hatten, bedeutet, entweder nochmals ihr Land<lb/>
von der Regierung zu dem jetzt geltenden Werte zu kaufen oder es zu räumen-<lb/>
Selbst Kolonisten, die ihr Besitztum im ReZistro vorrens eingetragen hatten,<lb/>
wodurch es ein für allemal unanfechtbar wird, wurden von dieser Maßregel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0122] Zur Auswanderung nach Brasilien mit Julio de Castilhos die eigenartige Konstitution dieses Staats ausarbeitete, die von den einen (den Positivsten) als das größte Werk staatsmännischer Weisheit unter den Kulturvölkern, von den andern als ein Freibrief für alle persönliche Willkür des Staatspräsidenten bezeichnet wird. Varella war als langjähriger Chefredakteur der Federacao, des offiziellen Regierungsblattes, die Seele der republikanischen Propaganda, identisch mit den Bestrebungen der Regierung, mit Julio de Castilhos, dessen Ideen als heiliges Vermächtnis von der jetzt herrschenden Partei betrachtet werden. Der tote Chef hat fast mehr Gewalt, als er im Leben jemals gehabt hat; unentwegt hält die republikanische Partei — so nennen sich die auf Castilhos schwörenden Riograndenser — an dem Negierungsprogramm, an den Prinzipien von Julio de Castilhos fest. Auch die Abneigung gegen die deutsche Einwandrung zieht sich durch die ganze republikanische Verwaltung trotz aller gegenteiligen Erklärungen von offizieller Seite bei deutschen Schützen- und Turnfesten, bei hiesigen GeWerbe¬ ausstellungen und sonstigen Gelegenheiten der Betätigung deutschen Gemein¬ sinns und deutscher Schaffensfreudigkeit. Es ist eben gar zu offenkundig, wie sehr Rio Grande sein Gedeihen, die Vorzüge, die es vor andern brasilianischen Staaten voraus hat, der Mitarbeit des deutschen Elements verdankt, daß, wenn es einen weit über den Bedarf des Staates produzierenden Ackerbau, eine regsame Industrie hat, dies das Verdienst der germanischen Bevölkerung ist. Man kann es auch nicht aus der Welt schaffen, daß keine andre Nation einen so bedeutenden Zoll an Blut zum Wohle Brasiliens entrichtet hat wie die Deutschen, daß diese nicht gezögert haben, die Scholle, die sie mit ihrem Schweiße gedüngt hatten, auch mit ihrem Leben zu verteidigen und bereit¬ willig im Kriege gegen Rosas und gegen Paraguay alle Opfer an Gut und Blut gebracht haben; doch bleiben trotz aller Hingabe an die neue Heimat ihre Haare blond, ihre Augen blau, ihr innerstes Denken und Empfinden germanisch und im Zusammenhange damit die Liebe zur deutschen Sprache bestehn, und das ist es eben, was man ihnen nicht verzeiht. Die berüchtigte „Landbereinigung" ist noch lebendig in aller Andenken, der Schrecken noch nicht verwunden; die letzten Ausläufer dieses beunruhigenden Vorgangs erstrecken sich bis in die Gegenwart. Es wurde eine Revision des Landerwerbs vorgenommen und dabei ermittelt, daß große Strecken der jetzt von deutschen Kolonisten besetzten Ländereien ehemals zur Zeit des Kaiserreichs von politischen Magnaten und sonst durch die herrschenden Parteien begünstigten Leuten auf nicht ganz einwandfreie Weise erworben worden waren. Es wurden diese Gebiete also einfach als Regierungseigentum erklärt und den Kolonisten, die ihr Land rechtmäßig erworben hatten, von andern, die ebenfalls alle legalen Besitztitel vorgelegt hatten, bedeutet, entweder nochmals ihr Land von der Regierung zu dem jetzt geltenden Werte zu kaufen oder es zu räumen- Selbst Kolonisten, die ihr Besitztum im ReZistro vorrens eingetragen hatten, wodurch es ein für allemal unanfechtbar wird, wurden von dieser Maßregel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/122
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/122>, abgerufen am 25.08.2024.