Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Auswanderung nach Brasilien

unter. Ohne alle Hilfsmittel überschritten wir die Grenze und marschierten
zu Fuß 40 bis 50 Leguas bis nach San Thome, wo wir von der argentinischen
Regierung Passage uach Concordia erhielten."

Wie aus dem obigen hervorgeht, steht die Niograndenser Regierung
den Einwandrern nicht besonders wohlwollend gegenüber, diese nach Guarany
schicken ist fast dasselbe, wie sie nach Cayenne deportieren. Guarany ist der
abgelegenste Puukt des Staats, ohne Verbindung mit der Außenwelt, wo die
Hauptabnehmer für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Wildschweine und
Hirsche sind.

Seit Proklamierung der Republik, seitdem in Rio Grande do Sui der
Positivismus ans Ruder gekommen ist, eine Sekte, die die Theorien des fran¬
zösischen Philosophen Comte als Evangelium verehrt und dort in Praxis um¬
setzen will, herrscht in jenem Staate eine den Fremden und besonders den
Deutschen nicht günstige Strömung. Auf das Verhalten, das die Niogran¬
denser Regierung seither beobachtet hat, werfen ein erklärendes Licht einige
Stellen aus dem Werke Alfredo Vcirellas Rio 6rxmä6 alö Luk, äösoiixyAo
M^sica, nistoriM e eeonoiiÜLA, Vslotas o l'ordo ^le^rs, 1897, ein den Nicht-
brasilianern leider unbekanntes Buch. Es heißt da Band I, Seite 356ff.:
"Auf den Niograndenser Stamm werden von 1824 bis heute andre Reiser
gepfropft. Die Zukunft möge sagen, ob wir hierbei gewinnen oder verlieren.
In jenem Jahre führte man auf Veranlassung der kaiserlichen Negierung die
erste Masse von Deutschen ein und gründete mit ihnen die Kolonie von San
Leopoldo. Der Bürgerkrieg brachte die Einwanderung zum Stehn, bald darauf
begannen jedoch die großen Züge. Mit Deutschen gründete man außer der
erwähnten Kolonie die von Mundonovo, Neu-Petropolis, S. Cruz, S. Lourenco
und andre, die heute emanzipiert sind. Man schätzt die Zahl der Kolonisten
dieser Nationalität auf einige achtzigtausend.

Bis vor einigen Jahren schien sich die Einwandrung aus Deutschland
von Jahr zu Jahr vergrößern zu wollen, aber es findet schon eine starke Ver¬
minderung statt, und wir glauben, daß diese Einwandrung in kurzem ganz
aufhören wird. Als Ursache für diese Tatsache wird uns folgendes ange¬
geben: Die immer zunehmende lateinische Einwandrung, gegen die die Deutschen
große Abneigung haben, und vor deren Initiative die germanische Arbeit zurück¬
weichen muß und unterliegt. Der teutonische Exklusivismus, der sich bestrebt,
die Gewohnheiten des alten Vaterlandes in dem Lande, worin sich der Deutsche
uationälisiert, aufrechtzuerhalten und sogar den Herren des Landes aufzu-
zwingen, und wenn dieses nicht gelingt, zeigen die Deutschen die größte Gering¬
schätzung gegen das gastfreundliche Land, wo sie sich befinden, was -- wie
man mir allgemein sagt -- immer mehr die trennende Kluft zwischen diesen
Ausländern und den Einheimischen vergrößert. Es ist nicht zu leugnen, daß
sich mit Recht oder Unrecht das frühere Wohlwollen gegen das deutsche Element
in ausgesprochne Antipathie verwandelt hat. Mit Unbehagen blicken die Rio-


Zur Auswanderung nach Brasilien

unter. Ohne alle Hilfsmittel überschritten wir die Grenze und marschierten
zu Fuß 40 bis 50 Leguas bis nach San Thome, wo wir von der argentinischen
Regierung Passage uach Concordia erhielten."

Wie aus dem obigen hervorgeht, steht die Niograndenser Regierung
den Einwandrern nicht besonders wohlwollend gegenüber, diese nach Guarany
schicken ist fast dasselbe, wie sie nach Cayenne deportieren. Guarany ist der
abgelegenste Puukt des Staats, ohne Verbindung mit der Außenwelt, wo die
Hauptabnehmer für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Wildschweine und
Hirsche sind.

Seit Proklamierung der Republik, seitdem in Rio Grande do Sui der
Positivismus ans Ruder gekommen ist, eine Sekte, die die Theorien des fran¬
zösischen Philosophen Comte als Evangelium verehrt und dort in Praxis um¬
setzen will, herrscht in jenem Staate eine den Fremden und besonders den
Deutschen nicht günstige Strömung. Auf das Verhalten, das die Niogran¬
denser Regierung seither beobachtet hat, werfen ein erklärendes Licht einige
Stellen aus dem Werke Alfredo Vcirellas Rio 6rxmä6 alö Luk, äösoiixyAo
M^sica, nistoriM e eeonoiiÜLA, Vslotas o l'ordo ^le^rs, 1897, ein den Nicht-
brasilianern leider unbekanntes Buch. Es heißt da Band I, Seite 356ff.:
„Auf den Niograndenser Stamm werden von 1824 bis heute andre Reiser
gepfropft. Die Zukunft möge sagen, ob wir hierbei gewinnen oder verlieren.
In jenem Jahre führte man auf Veranlassung der kaiserlichen Negierung die
erste Masse von Deutschen ein und gründete mit ihnen die Kolonie von San
Leopoldo. Der Bürgerkrieg brachte die Einwanderung zum Stehn, bald darauf
begannen jedoch die großen Züge. Mit Deutschen gründete man außer der
erwähnten Kolonie die von Mundonovo, Neu-Petropolis, S. Cruz, S. Lourenco
und andre, die heute emanzipiert sind. Man schätzt die Zahl der Kolonisten
dieser Nationalität auf einige achtzigtausend.

Bis vor einigen Jahren schien sich die Einwandrung aus Deutschland
von Jahr zu Jahr vergrößern zu wollen, aber es findet schon eine starke Ver¬
minderung statt, und wir glauben, daß diese Einwandrung in kurzem ganz
aufhören wird. Als Ursache für diese Tatsache wird uns folgendes ange¬
geben: Die immer zunehmende lateinische Einwandrung, gegen die die Deutschen
große Abneigung haben, und vor deren Initiative die germanische Arbeit zurück¬
weichen muß und unterliegt. Der teutonische Exklusivismus, der sich bestrebt,
die Gewohnheiten des alten Vaterlandes in dem Lande, worin sich der Deutsche
uationälisiert, aufrechtzuerhalten und sogar den Herren des Landes aufzu-
zwingen, und wenn dieses nicht gelingt, zeigen die Deutschen die größte Gering¬
schätzung gegen das gastfreundliche Land, wo sie sich befinden, was — wie
man mir allgemein sagt — immer mehr die trennende Kluft zwischen diesen
Ausländern und den Einheimischen vergrößert. Es ist nicht zu leugnen, daß
sich mit Recht oder Unrecht das frühere Wohlwollen gegen das deutsche Element
in ausgesprochne Antipathie verwandelt hat. Mit Unbehagen blicken die Rio-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313823"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Auswanderung nach Brasilien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_444" prev="#ID_443"> unter. Ohne alle Hilfsmittel überschritten wir die Grenze und marschierten<lb/>
zu Fuß 40 bis 50 Leguas bis nach San Thome, wo wir von der argentinischen<lb/>
Regierung Passage uach Concordia erhielten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_445"> Wie aus dem obigen hervorgeht, steht die Niograndenser Regierung<lb/>
den Einwandrern nicht besonders wohlwollend gegenüber, diese nach Guarany<lb/>
schicken ist fast dasselbe, wie sie nach Cayenne deportieren. Guarany ist der<lb/>
abgelegenste Puukt des Staats, ohne Verbindung mit der Außenwelt, wo die<lb/>
Hauptabnehmer für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Wildschweine und<lb/>
Hirsche sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_446"> Seit Proklamierung der Republik, seitdem in Rio Grande do Sui der<lb/>
Positivismus ans Ruder gekommen ist, eine Sekte, die die Theorien des fran¬<lb/>
zösischen Philosophen Comte als Evangelium verehrt und dort in Praxis um¬<lb/>
setzen will, herrscht in jenem Staate eine den Fremden und besonders den<lb/>
Deutschen nicht günstige Strömung. Auf das Verhalten, das die Niogran¬<lb/>
denser Regierung seither beobachtet hat, werfen ein erklärendes Licht einige<lb/>
Stellen aus dem Werke Alfredo Vcirellas Rio 6rxmä6 alö Luk, äösoiixyAo<lb/>
M^sica, nistoriM e eeonoiiÜLA, Vslotas o l'ordo ^le^rs, 1897, ein den Nicht-<lb/>
brasilianern leider unbekanntes Buch. Es heißt da Band I, Seite 356ff.:<lb/>
&#x201E;Auf den Niograndenser Stamm werden von 1824 bis heute andre Reiser<lb/>
gepfropft. Die Zukunft möge sagen, ob wir hierbei gewinnen oder verlieren.<lb/>
In jenem Jahre führte man auf Veranlassung der kaiserlichen Negierung die<lb/>
erste Masse von Deutschen ein und gründete mit ihnen die Kolonie von San<lb/>
Leopoldo. Der Bürgerkrieg brachte die Einwanderung zum Stehn, bald darauf<lb/>
begannen jedoch die großen Züge. Mit Deutschen gründete man außer der<lb/>
erwähnten Kolonie die von Mundonovo, Neu-Petropolis, S. Cruz, S. Lourenco<lb/>
und andre, die heute emanzipiert sind. Man schätzt die Zahl der Kolonisten<lb/>
dieser Nationalität auf einige achtzigtausend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_447" next="#ID_448"> Bis vor einigen Jahren schien sich die Einwandrung aus Deutschland<lb/>
von Jahr zu Jahr vergrößern zu wollen, aber es findet schon eine starke Ver¬<lb/>
minderung statt, und wir glauben, daß diese Einwandrung in kurzem ganz<lb/>
aufhören wird. Als Ursache für diese Tatsache wird uns folgendes ange¬<lb/>
geben: Die immer zunehmende lateinische Einwandrung, gegen die die Deutschen<lb/>
große Abneigung haben, und vor deren Initiative die germanische Arbeit zurück¬<lb/>
weichen muß und unterliegt. Der teutonische Exklusivismus, der sich bestrebt,<lb/>
die Gewohnheiten des alten Vaterlandes in dem Lande, worin sich der Deutsche<lb/>
uationälisiert, aufrechtzuerhalten und sogar den Herren des Landes aufzu-<lb/>
zwingen, und wenn dieses nicht gelingt, zeigen die Deutschen die größte Gering¬<lb/>
schätzung gegen das gastfreundliche Land, wo sie sich befinden, was &#x2014; wie<lb/>
man mir allgemein sagt &#x2014; immer mehr die trennende Kluft zwischen diesen<lb/>
Ausländern und den Einheimischen vergrößert. Es ist nicht zu leugnen, daß<lb/>
sich mit Recht oder Unrecht das frühere Wohlwollen gegen das deutsche Element<lb/>
in ausgesprochne Antipathie verwandelt hat. Mit Unbehagen blicken die Rio-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0120] Zur Auswanderung nach Brasilien unter. Ohne alle Hilfsmittel überschritten wir die Grenze und marschierten zu Fuß 40 bis 50 Leguas bis nach San Thome, wo wir von der argentinischen Regierung Passage uach Concordia erhielten." Wie aus dem obigen hervorgeht, steht die Niograndenser Regierung den Einwandrern nicht besonders wohlwollend gegenüber, diese nach Guarany schicken ist fast dasselbe, wie sie nach Cayenne deportieren. Guarany ist der abgelegenste Puukt des Staats, ohne Verbindung mit der Außenwelt, wo die Hauptabnehmer für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Wildschweine und Hirsche sind. Seit Proklamierung der Republik, seitdem in Rio Grande do Sui der Positivismus ans Ruder gekommen ist, eine Sekte, die die Theorien des fran¬ zösischen Philosophen Comte als Evangelium verehrt und dort in Praxis um¬ setzen will, herrscht in jenem Staate eine den Fremden und besonders den Deutschen nicht günstige Strömung. Auf das Verhalten, das die Niogran¬ denser Regierung seither beobachtet hat, werfen ein erklärendes Licht einige Stellen aus dem Werke Alfredo Vcirellas Rio 6rxmä6 alö Luk, äösoiixyAo M^sica, nistoriM e eeonoiiÜLA, Vslotas o l'ordo ^le^rs, 1897, ein den Nicht- brasilianern leider unbekanntes Buch. Es heißt da Band I, Seite 356ff.: „Auf den Niograndenser Stamm werden von 1824 bis heute andre Reiser gepfropft. Die Zukunft möge sagen, ob wir hierbei gewinnen oder verlieren. In jenem Jahre führte man auf Veranlassung der kaiserlichen Negierung die erste Masse von Deutschen ein und gründete mit ihnen die Kolonie von San Leopoldo. Der Bürgerkrieg brachte die Einwanderung zum Stehn, bald darauf begannen jedoch die großen Züge. Mit Deutschen gründete man außer der erwähnten Kolonie die von Mundonovo, Neu-Petropolis, S. Cruz, S. Lourenco und andre, die heute emanzipiert sind. Man schätzt die Zahl der Kolonisten dieser Nationalität auf einige achtzigtausend. Bis vor einigen Jahren schien sich die Einwandrung aus Deutschland von Jahr zu Jahr vergrößern zu wollen, aber es findet schon eine starke Ver¬ minderung statt, und wir glauben, daß diese Einwandrung in kurzem ganz aufhören wird. Als Ursache für diese Tatsache wird uns folgendes ange¬ geben: Die immer zunehmende lateinische Einwandrung, gegen die die Deutschen große Abneigung haben, und vor deren Initiative die germanische Arbeit zurück¬ weichen muß und unterliegt. Der teutonische Exklusivismus, der sich bestrebt, die Gewohnheiten des alten Vaterlandes in dem Lande, worin sich der Deutsche uationälisiert, aufrechtzuerhalten und sogar den Herren des Landes aufzu- zwingen, und wenn dieses nicht gelingt, zeigen die Deutschen die größte Gering¬ schätzung gegen das gastfreundliche Land, wo sie sich befinden, was — wie man mir allgemein sagt — immer mehr die trennende Kluft zwischen diesen Ausländern und den Einheimischen vergrößert. Es ist nicht zu leugnen, daß sich mit Recht oder Unrecht das frühere Wohlwollen gegen das deutsche Element in ausgesprochne Antipathie verwandelt hat. Mit Unbehagen blicken die Rio-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/120
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/120>, abgerufen am 22.12.2024.