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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Zur Auswanderung nach Brasilien

Sprache und Eigentümlichkeiten zur Herrschaft bringen würde, und in der das
heimische Element als zu widerstandsschwach aufgehn würde, oder es erscheint
ihnen hinter den Einwandrermassen das drohende Gespenst des Ursprungs¬
landes, das seine Kinder herübersendet, um Quartier zu machen, und bei der
ersten besten Gelegenheit einen Anlaß vom Zaune bricht, um sich weiter Ge¬
biete Brasiliens zu bemächtigen. Solcher schwarzen Absichten bezichtigt man
besonders Deutschland, wobei man Einflüsterungen Englands und Nordamerikas
Gehör leiht, die einem mächtigen kommerziellen Konkurrenten Hindernisse in
den Weg legen wollen und teilweise mit Erfolg die Brasilianer mit der Mög¬
lichkeit eines deutschen Überfalles ängstigen.

In den maßgebenden Kreisen der jetzigen Bundesregierung, in der sich
Männer befinden, die das europäische Leben aus eigner Anschauung kennen,
läßt man sich weder von engherzigen Nativismus noch von kindischer Fremden¬
furcht beirren, die ungeheuern Vorteile der Einwandrung anzuerkennen und
sie als einen der Hauptfaktoren für die zukünftige Gestaltung Brasiliens zu
verwerten. Die Propaganda, die jetzt zur Anziehung von Auswandrern mit
aller Energie in Europa unternommen wird, ist ein Beweis dafür, nur scheint
es, daß ihr eine Propaganda im Innern hätte vorangehn müssen, um über
die realen Vorteile der Einwandrung in den Staaten Licht zu verbreiten und
hier die nötigen Vorbereitungen zu treffen, um den Einwandrern ein gedeih¬
liches Fortkommen zu sichern. Dies ist leider nicht geschehen, und die Übeln
Folgen dieser Versäumnis machen sich schon fühlbar. So lesen wir im
Deutschen Volksblatt, Porto Alegre, 27. Januar 1909: "Über die von uns schon
berichtete Massenauswandrung von Immigranten, die erst kürzlich in Guarany
angesiedelt worden waren (vgl. Deutsches Volksblatt vom 20. Januar), schreibt
das in Concordia erscheinende Diario unterm 5. Januar: In Concordia sind
aus Brasilien 100 holländische Kolonisten vor zehn Tagen eingetroffen, die
wegen absoluten Mangels an Arbeit der verzweifeltsten Lage zu entfliehen
suchten. Gestern kamen von San Thome 19 russische Jmmigrantenfcnnilien
mit 119 Köpfen, alles arbeitsame Leute, die auf einer wirklichen Hunger¬
irrfahrt das brasilianische Gebiet wegen absoluten Arbeitsmangels und der teuern
Lebensverhältnisse verlassen haben.

Hierzu schreibt ein in Salto ansässiger Brasilianer dem hiesigen (Porto
Alegre) Jornal da Maltha: Vor Tagen begab ich mich in Begleitung unsers
Konsuls Landolpho Borges da Fonseca nach Concordia, wo verschiedne Jmmi-
grcmtentrupps aus Rio Grande do Suk eingetroffen waren. Mit Zuhilfe¬
nahme eines Dolmetschers erfuhren wir von zwei Holländern folgendes: Wir
sind im ganzen 280 Personen. 90 Deutsche, 90 Holländer und 100 Russen.
Wir liefen auf Rechnung der brasilianischen Regierung in Rio ein und wurden
von da nach der Kolonie Guarany im Staat Rio Grande do Suk geschafft.
Man hatte uns Wohnung, Arbeit und Unterhalt für einen bestimmten Zeit¬
raum zugesichert. Indes alles fehlte uns. Man brachte uns im Urwald


Zur Auswanderung nach Brasilien

Sprache und Eigentümlichkeiten zur Herrschaft bringen würde, und in der das
heimische Element als zu widerstandsschwach aufgehn würde, oder es erscheint
ihnen hinter den Einwandrermassen das drohende Gespenst des Ursprungs¬
landes, das seine Kinder herübersendet, um Quartier zu machen, und bei der
ersten besten Gelegenheit einen Anlaß vom Zaune bricht, um sich weiter Ge¬
biete Brasiliens zu bemächtigen. Solcher schwarzen Absichten bezichtigt man
besonders Deutschland, wobei man Einflüsterungen Englands und Nordamerikas
Gehör leiht, die einem mächtigen kommerziellen Konkurrenten Hindernisse in
den Weg legen wollen und teilweise mit Erfolg die Brasilianer mit der Mög¬
lichkeit eines deutschen Überfalles ängstigen.

In den maßgebenden Kreisen der jetzigen Bundesregierung, in der sich
Männer befinden, die das europäische Leben aus eigner Anschauung kennen,
läßt man sich weder von engherzigen Nativismus noch von kindischer Fremden¬
furcht beirren, die ungeheuern Vorteile der Einwandrung anzuerkennen und
sie als einen der Hauptfaktoren für die zukünftige Gestaltung Brasiliens zu
verwerten. Die Propaganda, die jetzt zur Anziehung von Auswandrern mit
aller Energie in Europa unternommen wird, ist ein Beweis dafür, nur scheint
es, daß ihr eine Propaganda im Innern hätte vorangehn müssen, um über
die realen Vorteile der Einwandrung in den Staaten Licht zu verbreiten und
hier die nötigen Vorbereitungen zu treffen, um den Einwandrern ein gedeih¬
liches Fortkommen zu sichern. Dies ist leider nicht geschehen, und die Übeln
Folgen dieser Versäumnis machen sich schon fühlbar. So lesen wir im
Deutschen Volksblatt, Porto Alegre, 27. Januar 1909: „Über die von uns schon
berichtete Massenauswandrung von Immigranten, die erst kürzlich in Guarany
angesiedelt worden waren (vgl. Deutsches Volksblatt vom 20. Januar), schreibt
das in Concordia erscheinende Diario unterm 5. Januar: In Concordia sind
aus Brasilien 100 holländische Kolonisten vor zehn Tagen eingetroffen, die
wegen absoluten Mangels an Arbeit der verzweifeltsten Lage zu entfliehen
suchten. Gestern kamen von San Thome 19 russische Jmmigrantenfcnnilien
mit 119 Köpfen, alles arbeitsame Leute, die auf einer wirklichen Hunger¬
irrfahrt das brasilianische Gebiet wegen absoluten Arbeitsmangels und der teuern
Lebensverhältnisse verlassen haben.

Hierzu schreibt ein in Salto ansässiger Brasilianer dem hiesigen (Porto
Alegre) Jornal da Maltha: Vor Tagen begab ich mich in Begleitung unsers
Konsuls Landolpho Borges da Fonseca nach Concordia, wo verschiedne Jmmi-
grcmtentrupps aus Rio Grande do Suk eingetroffen waren. Mit Zuhilfe¬
nahme eines Dolmetschers erfuhren wir von zwei Holländern folgendes: Wir
sind im ganzen 280 Personen. 90 Deutsche, 90 Holländer und 100 Russen.
Wir liefen auf Rechnung der brasilianischen Regierung in Rio ein und wurden
von da nach der Kolonie Guarany im Staat Rio Grande do Suk geschafft.
Man hatte uns Wohnung, Arbeit und Unterhalt für einen bestimmten Zeit¬
raum zugesichert. Indes alles fehlte uns. Man brachte uns im Urwald


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/119>, abgerufen am 23.12.2024.