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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Zur Auswanderung nach Lrasilien

Kopfes" Brasiliens, nach dem Haag geschah in diesem Sinne, und wie man
hier immer liest und hört, hat diese Maßregel die beabsichtigte Wirkung nicht
verfehlt. Es werden in bezug darauf oft und gern die Auslassungen Steads
in der Revier ok ü,coin?8 zitiert, wonach die Erfolge Ruy Barbosas ans dem
Kongreß im Haag den kriegerischen Triumphen Japans gleichgestellt werden;
es wird behauptet, Brasilien wäre dadurch zur neunten Großmacht erhoben
worden. Die Vaterlandsliebe der Brasilianer nimmt solche Erfolge und Ur¬
teile gern zum Ausgangspunkt kühner Hoffnungen und überschwenglicher Be¬
trachtungen. Welche Zukunft ist nicht einem Lande vorbehalten, das in solcher
Ausdehnung unerschöpfliche Schätze birgt, von dem ein geringer Teil, das
Amazonastal, allein imstande ist, die gesamte Bevölkerung Europas zu er¬
nähren, gegen dessen Reichtümer an Metall alles Gold Europas verschwindet,
das in günstigen Bedingungen zur Erzeugung der wertvollsten Ausfuhrartikel,
wie Kaffee, Gummi, von keinem andern Gebiet der Erde jemals erreicht werden
kann! Im Geiste sieht der patriotische Brasilianer dieses gewaltige Gebiet nach
allen Richtungen von Eisenbahnen, Kanälen durchzogen, von Fabriken und
Werkstätten bedeckt, allenthalben ein Gewimmel rühriger Leute. Das ist es
eben, was diesem Lande nottut: Leute, sehr viel Leute, um diesen ganzen
Segen der Natur zu verarbeiten, der Menschheit zugute kommen zu lassen
und in Wohlstand und Gedeihen für viele Millionen zu verwandeln. Darüber
kann bei den einsichtigen Brasilianern kein Zweifel bestehn, daß ihre Heimat
durch ihre eigne natürliche Vermehrung niemals die glänzenden Ziele, die sich
die Patrioten gesteckt haben, wird erreichen können, daß sie dazu vielmehr,
wie Nordamerika, auf einen starken Zuzug von Europa angewiesen ist. Trotz
alledem gibt es eine nativistische Richtung, die sich grundsätzlich gegen jede
Einwanderung sträubt. Oft sind dies Leute, denen der vergleichende Maßstab
fehlt, die alles Ernstes glauben, daß sie sich in jeder Hinsicht den großen
Kulturnationen als ebenbürtig an die Seite stellen können, die, obwohl sie zu
den gebildeten und einflußreichen Kreisen gehören, doch, von der Manie der
Selbstverherrlichung befallen, den Ausländer als minderwertiges Wesen be¬
trachten, die sich ihr Urteil über die europäischen Nationen nach dem Gros
der Einwanderer bilden, die ja zum größten Teil Handarbeiter sind und sich
wohl auch sonst nicht gerade durch Eleganz auszeichnen und sich auf dem
fremden Boden, in ganz neuen Verhältnissen, noch besonders unbeholfen aus¬
nehmen. Für diese Leute, und sie sind hier gar nicht so selten, gibt es kein
Gebiet, auf dem der Brasilianer nicht imstande ist, alle andern Nationen zu
übertreffen, und nach ihrer Meinung braucht er durchaus nicht die Hilfe andrer,
die ihn nur beeinträchtigen, seinen Unternehmungen den Mangel nationaler
Genialität nehmen würden. Wie bei den einen die Selbstüberschätzung, ist es
bei den andern die Selbstunterschätzung, die sie der Einwanderung gegenüber
ablehnend und mißtrauisch macht. Sie fürchten für die Integrität des Landes,
sei es durch schließliches Überwiegen einer fremden Nationalität, die ihre


Zur Auswanderung nach Lrasilien

Kopfes" Brasiliens, nach dem Haag geschah in diesem Sinne, und wie man
hier immer liest und hört, hat diese Maßregel die beabsichtigte Wirkung nicht
verfehlt. Es werden in bezug darauf oft und gern die Auslassungen Steads
in der Revier ok ü,coin?8 zitiert, wonach die Erfolge Ruy Barbosas ans dem
Kongreß im Haag den kriegerischen Triumphen Japans gleichgestellt werden;
es wird behauptet, Brasilien wäre dadurch zur neunten Großmacht erhoben
worden. Die Vaterlandsliebe der Brasilianer nimmt solche Erfolge und Ur¬
teile gern zum Ausgangspunkt kühner Hoffnungen und überschwenglicher Be¬
trachtungen. Welche Zukunft ist nicht einem Lande vorbehalten, das in solcher
Ausdehnung unerschöpfliche Schätze birgt, von dem ein geringer Teil, das
Amazonastal, allein imstande ist, die gesamte Bevölkerung Europas zu er¬
nähren, gegen dessen Reichtümer an Metall alles Gold Europas verschwindet,
das in günstigen Bedingungen zur Erzeugung der wertvollsten Ausfuhrartikel,
wie Kaffee, Gummi, von keinem andern Gebiet der Erde jemals erreicht werden
kann! Im Geiste sieht der patriotische Brasilianer dieses gewaltige Gebiet nach
allen Richtungen von Eisenbahnen, Kanälen durchzogen, von Fabriken und
Werkstätten bedeckt, allenthalben ein Gewimmel rühriger Leute. Das ist es
eben, was diesem Lande nottut: Leute, sehr viel Leute, um diesen ganzen
Segen der Natur zu verarbeiten, der Menschheit zugute kommen zu lassen
und in Wohlstand und Gedeihen für viele Millionen zu verwandeln. Darüber
kann bei den einsichtigen Brasilianern kein Zweifel bestehn, daß ihre Heimat
durch ihre eigne natürliche Vermehrung niemals die glänzenden Ziele, die sich
die Patrioten gesteckt haben, wird erreichen können, daß sie dazu vielmehr,
wie Nordamerika, auf einen starken Zuzug von Europa angewiesen ist. Trotz
alledem gibt es eine nativistische Richtung, die sich grundsätzlich gegen jede
Einwanderung sträubt. Oft sind dies Leute, denen der vergleichende Maßstab
fehlt, die alles Ernstes glauben, daß sie sich in jeder Hinsicht den großen
Kulturnationen als ebenbürtig an die Seite stellen können, die, obwohl sie zu
den gebildeten und einflußreichen Kreisen gehören, doch, von der Manie der
Selbstverherrlichung befallen, den Ausländer als minderwertiges Wesen be¬
trachten, die sich ihr Urteil über die europäischen Nationen nach dem Gros
der Einwanderer bilden, die ja zum größten Teil Handarbeiter sind und sich
wohl auch sonst nicht gerade durch Eleganz auszeichnen und sich auf dem
fremden Boden, in ganz neuen Verhältnissen, noch besonders unbeholfen aus¬
nehmen. Für diese Leute, und sie sind hier gar nicht so selten, gibt es kein
Gebiet, auf dem der Brasilianer nicht imstande ist, alle andern Nationen zu
übertreffen, und nach ihrer Meinung braucht er durchaus nicht die Hilfe andrer,
die ihn nur beeinträchtigen, seinen Unternehmungen den Mangel nationaler
Genialität nehmen würden. Wie bei den einen die Selbstüberschätzung, ist es
bei den andern die Selbstunterschätzung, die sie der Einwanderung gegenüber
ablehnend und mißtrauisch macht. Sie fürchten für die Integrität des Landes,
sei es durch schließliches Überwiegen einer fremden Nationalität, die ihre


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[0118] Zur Auswanderung nach Lrasilien Kopfes" Brasiliens, nach dem Haag geschah in diesem Sinne, und wie man hier immer liest und hört, hat diese Maßregel die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Es werden in bezug darauf oft und gern die Auslassungen Steads in der Revier ok ü,coin?8 zitiert, wonach die Erfolge Ruy Barbosas ans dem Kongreß im Haag den kriegerischen Triumphen Japans gleichgestellt werden; es wird behauptet, Brasilien wäre dadurch zur neunten Großmacht erhoben worden. Die Vaterlandsliebe der Brasilianer nimmt solche Erfolge und Ur¬ teile gern zum Ausgangspunkt kühner Hoffnungen und überschwenglicher Be¬ trachtungen. Welche Zukunft ist nicht einem Lande vorbehalten, das in solcher Ausdehnung unerschöpfliche Schätze birgt, von dem ein geringer Teil, das Amazonastal, allein imstande ist, die gesamte Bevölkerung Europas zu er¬ nähren, gegen dessen Reichtümer an Metall alles Gold Europas verschwindet, das in günstigen Bedingungen zur Erzeugung der wertvollsten Ausfuhrartikel, wie Kaffee, Gummi, von keinem andern Gebiet der Erde jemals erreicht werden kann! Im Geiste sieht der patriotische Brasilianer dieses gewaltige Gebiet nach allen Richtungen von Eisenbahnen, Kanälen durchzogen, von Fabriken und Werkstätten bedeckt, allenthalben ein Gewimmel rühriger Leute. Das ist es eben, was diesem Lande nottut: Leute, sehr viel Leute, um diesen ganzen Segen der Natur zu verarbeiten, der Menschheit zugute kommen zu lassen und in Wohlstand und Gedeihen für viele Millionen zu verwandeln. Darüber kann bei den einsichtigen Brasilianern kein Zweifel bestehn, daß ihre Heimat durch ihre eigne natürliche Vermehrung niemals die glänzenden Ziele, die sich die Patrioten gesteckt haben, wird erreichen können, daß sie dazu vielmehr, wie Nordamerika, auf einen starken Zuzug von Europa angewiesen ist. Trotz alledem gibt es eine nativistische Richtung, die sich grundsätzlich gegen jede Einwanderung sträubt. Oft sind dies Leute, denen der vergleichende Maßstab fehlt, die alles Ernstes glauben, daß sie sich in jeder Hinsicht den großen Kulturnationen als ebenbürtig an die Seite stellen können, die, obwohl sie zu den gebildeten und einflußreichen Kreisen gehören, doch, von der Manie der Selbstverherrlichung befallen, den Ausländer als minderwertiges Wesen be¬ trachten, die sich ihr Urteil über die europäischen Nationen nach dem Gros der Einwanderer bilden, die ja zum größten Teil Handarbeiter sind und sich wohl auch sonst nicht gerade durch Eleganz auszeichnen und sich auf dem fremden Boden, in ganz neuen Verhältnissen, noch besonders unbeholfen aus¬ nehmen. Für diese Leute, und sie sind hier gar nicht so selten, gibt es kein Gebiet, auf dem der Brasilianer nicht imstande ist, alle andern Nationen zu übertreffen, und nach ihrer Meinung braucht er durchaus nicht die Hilfe andrer, die ihn nur beeinträchtigen, seinen Unternehmungen den Mangel nationaler Genialität nehmen würden. Wie bei den einen die Selbstüberschätzung, ist es bei den andern die Selbstunterschätzung, die sie der Einwanderung gegenüber ablehnend und mißtrauisch macht. Sie fürchten für die Integrität des Landes, sei es durch schließliches Überwiegen einer fremden Nationalität, die ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/118>, abgerufen am 23.12.2024.