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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Vom thrakischen Meere
<L. Fredrich von^. Samothrake

mes der großartigen Gemälde, die der Dichter im ersten Buche der
Ilias vor uns entrollt -- man denkt dabei unwillkürlich an Böcklins
"Odysseus auf der Jusel der Kalypso" --, zeigt den Strand des
Meeres, und an ihm sitzt ein einsamer Mensch und streckt die Arme
meerwärts; Achilleus ist es, der voll Schmerz in verletzten, Ehrgefühl
und voll Begierde nach Rache zur Mutter, der Secgöttin Thetis,
fleht. Sie erhört ihn; wie ein Nebel hebt sie sich aus den Wassern. Sie hatte
keinen weiten Weg gehabt. Wir erinnern uns der andern Stelle aus dem dreizehnten
Buche: der Erderschütterer Poseidon spähte gen Troja und saß "hoch auf dem obersten
Gipfel der hochunuvaldeten Samos Thrakias; dort erschien mit allen Höhn ihm
der Jda, auch erschien ihm Priamos Stadt und der Danaer Schiffe". Von diesen
Schiffen aus aber stand in umgekehrter Richtung vor Aedilis Augen im Nordwesten
die gewaltige Pyramide von Samothrake und vor ihr die niedrige Jmbros.
Zwischen diesen Inseln lag nach einer dritten Stelle der Ilias der schimmernde
Palast von Thetis Vater Nereus ans dem Meeresgrunde; von dort also nahte die
Tochter. Wie der Dichter dazu gekommen ist, gerade dort den Meergreis wohnen
zu lassen, wer Will dos heute sagen! Aber man darf daran erinnern, daß ein
Schriftsteller des ersten Jahrhunderts v. Chr. eine alte Sage verzeichnete, nach der
Fischer beim Auswerfen der Netze dort in der Tiefe versnnkne Städte erblickt
hätten; und an der Szürnsa-Klippe, die sich östlich von Samothrake über die Fläche
des Meeres hebt, sieht man noch heute, so fabeln die Schwammfischer, versunkne
Häuser, und ein Ungeheuer haust an ihr, das den Menschen verschlingt, der dort
zu tauchen wagt. Ani diese ungeheure Höhe im thrakischen Meere (Samos ist ein
karisches Wort und bedeutet Höhe) sind natürlich früh Sagen gesponnen worden,
lange ehe sie die hochheilige, der Sitz der Großen Götter von Samothrake wurde.
Wie andre besonders eindrucksvoll über Flächen anfragende Berge soll dieser Fels
bei einer furchtbaren Sintflut einst die letzten Menschen gerettet haben. Die
Meeresstraßen vom Schwarzen Meere her seien damals eingerissen, große Teile
von Kleinasien und den Inseln des thrakischen Meeres weggespült worden. Es ist,
°is ob eine dunkle Kunde aus ferner ferner Vergangenheit in diesem Bericht, der
°uf die Tempellegende von Samothrake zurückgeht, vorläge. In der Tat müssen,
wie die geologische Zusammensetzung der Inseln Lemnos und Jmbros und des nächsten
Festlandes und wie die Meerestiefen beweisen, hier einst ungeheure Umwälzungen
stattgefunden haben; aber dem Menschen kann davon eine Überlieferung schwerlich
geblieben sein. Während das Meer nördlich von Samothrake und südlich von Lemnos
und Jmbros unter 200 Meter tief ist, klafft zwischen der nördlichen und den beiden
südlichen Inseln ein Spalt, der bis zu 1244 Metern hinabreicht. Bis zu 1750 Metern
türmt sich Samothrake selbst im Phengari, dem antiken Saos auf; es liegt hier
also eine Höhendifferenz von 3000 Metern vor.




Vom thrakischen Meere
<L. Fredrich von^. Samothrake

mes der großartigen Gemälde, die der Dichter im ersten Buche der
Ilias vor uns entrollt — man denkt dabei unwillkürlich an Böcklins
„Odysseus auf der Jusel der Kalypso" —, zeigt den Strand des
Meeres, und an ihm sitzt ein einsamer Mensch und streckt die Arme
meerwärts; Achilleus ist es, der voll Schmerz in verletzten, Ehrgefühl
und voll Begierde nach Rache zur Mutter, der Secgöttin Thetis,
fleht. Sie erhört ihn; wie ein Nebel hebt sie sich aus den Wassern. Sie hatte
keinen weiten Weg gehabt. Wir erinnern uns der andern Stelle aus dem dreizehnten
Buche: der Erderschütterer Poseidon spähte gen Troja und saß „hoch auf dem obersten
Gipfel der hochunuvaldeten Samos Thrakias; dort erschien mit allen Höhn ihm
der Jda, auch erschien ihm Priamos Stadt und der Danaer Schiffe". Von diesen
Schiffen aus aber stand in umgekehrter Richtung vor Aedilis Augen im Nordwesten
die gewaltige Pyramide von Samothrake und vor ihr die niedrige Jmbros.
Zwischen diesen Inseln lag nach einer dritten Stelle der Ilias der schimmernde
Palast von Thetis Vater Nereus ans dem Meeresgrunde; von dort also nahte die
Tochter. Wie der Dichter dazu gekommen ist, gerade dort den Meergreis wohnen
zu lassen, wer Will dos heute sagen! Aber man darf daran erinnern, daß ein
Schriftsteller des ersten Jahrhunderts v. Chr. eine alte Sage verzeichnete, nach der
Fischer beim Auswerfen der Netze dort in der Tiefe versnnkne Städte erblickt
hätten; und an der Szürnsa-Klippe, die sich östlich von Samothrake über die Fläche
des Meeres hebt, sieht man noch heute, so fabeln die Schwammfischer, versunkne
Häuser, und ein Ungeheuer haust an ihr, das den Menschen verschlingt, der dort
zu tauchen wagt. Ani diese ungeheure Höhe im thrakischen Meere (Samos ist ein
karisches Wort und bedeutet Höhe) sind natürlich früh Sagen gesponnen worden,
lange ehe sie die hochheilige, der Sitz der Großen Götter von Samothrake wurde.
Wie andre besonders eindrucksvoll über Flächen anfragende Berge soll dieser Fels
bei einer furchtbaren Sintflut einst die letzten Menschen gerettet haben. Die
Meeresstraßen vom Schwarzen Meere her seien damals eingerissen, große Teile
von Kleinasien und den Inseln des thrakischen Meeres weggespült worden. Es ist,
°is ob eine dunkle Kunde aus ferner ferner Vergangenheit in diesem Bericht, der
°uf die Tempellegende von Samothrake zurückgeht, vorläge. In der Tat müssen,
wie die geologische Zusammensetzung der Inseln Lemnos und Jmbros und des nächsten
Festlandes und wie die Meerestiefen beweisen, hier einst ungeheure Umwälzungen
stattgefunden haben; aber dem Menschen kann davon eine Überlieferung schwerlich
geblieben sein. Während das Meer nördlich von Samothrake und südlich von Lemnos
und Jmbros unter 200 Meter tief ist, klafft zwischen der nördlichen und den beiden
südlichen Inseln ein Spalt, der bis zu 1244 Metern hinabreicht. Bis zu 1750 Metern
türmt sich Samothrake selbst im Phengari, dem antiken Saos auf; es liegt hier
also eine Höhendifferenz von 3000 Metern vor.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/95>, abgerufen am 03.07.2024.