Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rriminalpolitische Irrtümer

Verurteilten) und seiner ungezählten Parteigänger doch angehört, kann nimmer¬
mehr volkstümlich sein, solange noch die gelehrte Jurisprudenz darin irgendwas
zu sagen hat, und solange der Staat noch so hohe Anforderungen an die
öffentliche Ordnung und Sicherheit stellt, Volkstümlichkeit des Strafrechts ist
im heutigen Staate und wohl in jedem Staate unerreichbar. Es handelt sich
nur um ein Mehr oder Weniger. Wir stehn im Zeichen des "Mehr", weil
im Kampf der Einzel- und der Gemeinschaftsinteressen jetzt die erstem vorzugs¬
weise berücksichtigt werden. So will es der Zeitgeist. Er geht noch weiter.
Er betont nicht die Interessen eines jeden einzelnen, sondern zunächst die des
einzelnen aus dem Volke. Dieser einzelne aus dem Volke ist uns in unsrer
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu einem viel bedeutendem Etwas,
als vor dem Beginn moderner Sozialpolitik, geworden. Wie alle Gebiete, die
durch Gesetzgebung zu regeln sind, von diesen Einflüssen erfaßt werden, so nun
auch das Strafrecht. Und so konnte einer, der in erster Reihe zu der gesetz¬
geberischen Reformarbeit berufen worden ist, mit Recht sagen, daß unsre Zeit
weniger die Interessen der durch das Verbrechen verletzten als der des Ver¬
brechens beschuldigten zu berücksichtigen geneigt ist. Des Beschuldigten Rechte
auf Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ehre, auf Schonung seiner
Vermögens- und Familieninteressen sollen uns wichtiger sein als die Rechte
des Verletzten und seines Schirmherrn, des Staates als Vertreters der Ge-
meinschaftsinteressen. Darum möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft,
der Beschlagnahme und Durchsuchung, der Zengniszwangshaft, darum Einführung
eines Zwischenverfahrens vor Eröffnung des Hciuptverfcchreus, Ausdehnung des
Laienrichtertums und Vermehrung der Instanzen, und was sonst noch kommen
wird. In Zukunft soll es also heißen, nicht lieber zehn, sondern hundert Schuldige
laufen lassen, als einen Unschuldigen kränken, denn dieses ist die notwendige
Folge dieser Maßnahmen.

Es sieht so aus, als wenn man in Deutschland auch nicht die geringsten
Besorgnisse Hütte, daß uns die Kriminalität der Bevölkerung zu wirklicher und
großer Gefahr werden könnte, als wenn man mit den Sozialisten dächte, die
Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Sozialisierung der Welt
werde von selbst den Rückgang des Verbrechens zur Folge haben, oder gar,
als wenn man mit jenen Soziologen glaubte, ein bißchen mehr Kriminalität
schade gar nicht, das sei ein gutes Zeichen für wachsende Kultur. Man mache
sich doch einmal die Mühe und die Kosten, durch Enquete festzustellen, welche
Delikte bekannt geworden sind, und welche davon zu gerichtlicher Ahndung
gekommen, und welchen wirtschaftlichen und so weit möglich auch sittlichen
Schaden alle diese bekannt gewordnen (geahndete und ungeahndete) Straftaten
hervorgerufen haben, und des Erstaunens wird kein Ende sein. Unsre heutige
Strafrechtspflege leistet nicht mehr, als daß die wirklich begangnen Straftaten
in einigen Stichproben zur gerichtlichen Ahndung gebracht werden. Die general¬
präventive Wirkung unsers Strafrechts und der Strafrechtspflege ist äußerst


Rriminalpolitische Irrtümer

Verurteilten) und seiner ungezählten Parteigänger doch angehört, kann nimmer¬
mehr volkstümlich sein, solange noch die gelehrte Jurisprudenz darin irgendwas
zu sagen hat, und solange der Staat noch so hohe Anforderungen an die
öffentliche Ordnung und Sicherheit stellt, Volkstümlichkeit des Strafrechts ist
im heutigen Staate und wohl in jedem Staate unerreichbar. Es handelt sich
nur um ein Mehr oder Weniger. Wir stehn im Zeichen des „Mehr", weil
im Kampf der Einzel- und der Gemeinschaftsinteressen jetzt die erstem vorzugs¬
weise berücksichtigt werden. So will es der Zeitgeist. Er geht noch weiter.
Er betont nicht die Interessen eines jeden einzelnen, sondern zunächst die des
einzelnen aus dem Volke. Dieser einzelne aus dem Volke ist uns in unsrer
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu einem viel bedeutendem Etwas,
als vor dem Beginn moderner Sozialpolitik, geworden. Wie alle Gebiete, die
durch Gesetzgebung zu regeln sind, von diesen Einflüssen erfaßt werden, so nun
auch das Strafrecht. Und so konnte einer, der in erster Reihe zu der gesetz¬
geberischen Reformarbeit berufen worden ist, mit Recht sagen, daß unsre Zeit
weniger die Interessen der durch das Verbrechen verletzten als der des Ver¬
brechens beschuldigten zu berücksichtigen geneigt ist. Des Beschuldigten Rechte
auf Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ehre, auf Schonung seiner
Vermögens- und Familieninteressen sollen uns wichtiger sein als die Rechte
des Verletzten und seines Schirmherrn, des Staates als Vertreters der Ge-
meinschaftsinteressen. Darum möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft,
der Beschlagnahme und Durchsuchung, der Zengniszwangshaft, darum Einführung
eines Zwischenverfahrens vor Eröffnung des Hciuptverfcchreus, Ausdehnung des
Laienrichtertums und Vermehrung der Instanzen, und was sonst noch kommen
wird. In Zukunft soll es also heißen, nicht lieber zehn, sondern hundert Schuldige
laufen lassen, als einen Unschuldigen kränken, denn dieses ist die notwendige
Folge dieser Maßnahmen.

Es sieht so aus, als wenn man in Deutschland auch nicht die geringsten
Besorgnisse Hütte, daß uns die Kriminalität der Bevölkerung zu wirklicher und
großer Gefahr werden könnte, als wenn man mit den Sozialisten dächte, die
Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Sozialisierung der Welt
werde von selbst den Rückgang des Verbrechens zur Folge haben, oder gar,
als wenn man mit jenen Soziologen glaubte, ein bißchen mehr Kriminalität
schade gar nicht, das sei ein gutes Zeichen für wachsende Kultur. Man mache
sich doch einmal die Mühe und die Kosten, durch Enquete festzustellen, welche
Delikte bekannt geworden sind, und welche davon zu gerichtlicher Ahndung
gekommen, und welchen wirtschaftlichen und so weit möglich auch sittlichen
Schaden alle diese bekannt gewordnen (geahndete und ungeahndete) Straftaten
hervorgerufen haben, und des Erstaunens wird kein Ende sein. Unsre heutige
Strafrechtspflege leistet nicht mehr, als daß die wirklich begangnen Straftaten
in einigen Stichproben zur gerichtlichen Ahndung gebracht werden. Die general¬
präventive Wirkung unsers Strafrechts und der Strafrechtspflege ist äußerst


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0087" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312438"/>
          <fw type="header" place="top"> Rriminalpolitische Irrtümer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_337" prev="#ID_336"> Verurteilten) und seiner ungezählten Parteigänger doch angehört, kann nimmer¬<lb/>
mehr volkstümlich sein, solange noch die gelehrte Jurisprudenz darin irgendwas<lb/>
zu sagen hat, und solange der Staat noch so hohe Anforderungen an die<lb/>
öffentliche Ordnung und Sicherheit stellt, Volkstümlichkeit des Strafrechts ist<lb/>
im heutigen Staate und wohl in jedem Staate unerreichbar. Es handelt sich<lb/>
nur um ein Mehr oder Weniger. Wir stehn im Zeichen des &#x201E;Mehr", weil<lb/>
im Kampf der Einzel- und der Gemeinschaftsinteressen jetzt die erstem vorzugs¬<lb/>
weise berücksichtigt werden. So will es der Zeitgeist. Er geht noch weiter.<lb/>
Er betont nicht die Interessen eines jeden einzelnen, sondern zunächst die des<lb/>
einzelnen aus dem Volke. Dieser einzelne aus dem Volke ist uns in unsrer<lb/>
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu einem viel bedeutendem Etwas,<lb/>
als vor dem Beginn moderner Sozialpolitik, geworden. Wie alle Gebiete, die<lb/>
durch Gesetzgebung zu regeln sind, von diesen Einflüssen erfaßt werden, so nun<lb/>
auch das Strafrecht. Und so konnte einer, der in erster Reihe zu der gesetz¬<lb/>
geberischen Reformarbeit berufen worden ist, mit Recht sagen, daß unsre Zeit<lb/>
weniger die Interessen der durch das Verbrechen verletzten als der des Ver¬<lb/>
brechens beschuldigten zu berücksichtigen geneigt ist. Des Beschuldigten Rechte<lb/>
auf Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ehre, auf Schonung seiner<lb/>
Vermögens- und Familieninteressen sollen uns wichtiger sein als die Rechte<lb/>
des Verletzten und seines Schirmherrn, des Staates als Vertreters der Ge-<lb/>
meinschaftsinteressen. Darum möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft,<lb/>
der Beschlagnahme und Durchsuchung, der Zengniszwangshaft, darum Einführung<lb/>
eines Zwischenverfahrens vor Eröffnung des Hciuptverfcchreus, Ausdehnung des<lb/>
Laienrichtertums und Vermehrung der Instanzen, und was sonst noch kommen<lb/>
wird. In Zukunft soll es also heißen, nicht lieber zehn, sondern hundert Schuldige<lb/>
laufen lassen, als einen Unschuldigen kränken, denn dieses ist die notwendige<lb/>
Folge dieser Maßnahmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_338" next="#ID_339"> Es sieht so aus, als wenn man in Deutschland auch nicht die geringsten<lb/>
Besorgnisse Hütte, daß uns die Kriminalität der Bevölkerung zu wirklicher und<lb/>
großer Gefahr werden könnte, als wenn man mit den Sozialisten dächte, die<lb/>
Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Sozialisierung der Welt<lb/>
werde von selbst den Rückgang des Verbrechens zur Folge haben, oder gar,<lb/>
als wenn man mit jenen Soziologen glaubte, ein bißchen mehr Kriminalität<lb/>
schade gar nicht, das sei ein gutes Zeichen für wachsende Kultur. Man mache<lb/>
sich doch einmal die Mühe und die Kosten, durch Enquete festzustellen, welche<lb/>
Delikte bekannt geworden sind, und welche davon zu gerichtlicher Ahndung<lb/>
gekommen, und welchen wirtschaftlichen und so weit möglich auch sittlichen<lb/>
Schaden alle diese bekannt gewordnen (geahndete und ungeahndete) Straftaten<lb/>
hervorgerufen haben, und des Erstaunens wird kein Ende sein. Unsre heutige<lb/>
Strafrechtspflege leistet nicht mehr, als daß die wirklich begangnen Straftaten<lb/>
in einigen Stichproben zur gerichtlichen Ahndung gebracht werden. Die general¬<lb/>
präventive Wirkung unsers Strafrechts und der Strafrechtspflege ist äußerst</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0087] Rriminalpolitische Irrtümer Verurteilten) und seiner ungezählten Parteigänger doch angehört, kann nimmer¬ mehr volkstümlich sein, solange noch die gelehrte Jurisprudenz darin irgendwas zu sagen hat, und solange der Staat noch so hohe Anforderungen an die öffentliche Ordnung und Sicherheit stellt, Volkstümlichkeit des Strafrechts ist im heutigen Staate und wohl in jedem Staate unerreichbar. Es handelt sich nur um ein Mehr oder Weniger. Wir stehn im Zeichen des „Mehr", weil im Kampf der Einzel- und der Gemeinschaftsinteressen jetzt die erstem vorzugs¬ weise berücksichtigt werden. So will es der Zeitgeist. Er geht noch weiter. Er betont nicht die Interessen eines jeden einzelnen, sondern zunächst die des einzelnen aus dem Volke. Dieser einzelne aus dem Volke ist uns in unsrer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu einem viel bedeutendem Etwas, als vor dem Beginn moderner Sozialpolitik, geworden. Wie alle Gebiete, die durch Gesetzgebung zu regeln sind, von diesen Einflüssen erfaßt werden, so nun auch das Strafrecht. Und so konnte einer, der in erster Reihe zu der gesetz¬ geberischen Reformarbeit berufen worden ist, mit Recht sagen, daß unsre Zeit weniger die Interessen der durch das Verbrechen verletzten als der des Ver¬ brechens beschuldigten zu berücksichtigen geneigt ist. Des Beschuldigten Rechte auf Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ehre, auf Schonung seiner Vermögens- und Familieninteressen sollen uns wichtiger sein als die Rechte des Verletzten und seines Schirmherrn, des Staates als Vertreters der Ge- meinschaftsinteressen. Darum möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft, der Beschlagnahme und Durchsuchung, der Zengniszwangshaft, darum Einführung eines Zwischenverfahrens vor Eröffnung des Hciuptverfcchreus, Ausdehnung des Laienrichtertums und Vermehrung der Instanzen, und was sonst noch kommen wird. In Zukunft soll es also heißen, nicht lieber zehn, sondern hundert Schuldige laufen lassen, als einen Unschuldigen kränken, denn dieses ist die notwendige Folge dieser Maßnahmen. Es sieht so aus, als wenn man in Deutschland auch nicht die geringsten Besorgnisse Hütte, daß uns die Kriminalität der Bevölkerung zu wirklicher und großer Gefahr werden könnte, als wenn man mit den Sozialisten dächte, die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Sozialisierung der Welt werde von selbst den Rückgang des Verbrechens zur Folge haben, oder gar, als wenn man mit jenen Soziologen glaubte, ein bißchen mehr Kriminalität schade gar nicht, das sei ein gutes Zeichen für wachsende Kultur. Man mache sich doch einmal die Mühe und die Kosten, durch Enquete festzustellen, welche Delikte bekannt geworden sind, und welche davon zu gerichtlicher Ahndung gekommen, und welchen wirtschaftlichen und so weit möglich auch sittlichen Schaden alle diese bekannt gewordnen (geahndete und ungeahndete) Straftaten hervorgerufen haben, und des Erstaunens wird kein Ende sein. Unsre heutige Strafrechtspflege leistet nicht mehr, als daß die wirklich begangnen Straftaten in einigen Stichproben zur gerichtlichen Ahndung gebracht werden. Die general¬ präventive Wirkung unsers Strafrechts und der Strafrechtspflege ist äußerst

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/87
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/87>, abgerufen am 12.12.2024.