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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Rriminalpolitische Irrtümer

Allerdings kommt vielleicht einmal die Menschheit so weit, daß selbst moralisches
und ziviles Unrecht als kriminelles abgestraft wird. Dann aber wird die
Menschheit so fein organisiert sein, daß es niemand als eine Klosterexistenz
empfindet, wenn ihm die strafrechtliche Ahndung kleinerund kleinster Fehltritte
angedroht wird, denn dann wird auch die Verlockung, solche Fehltritte zu
begeh", nicht größer sein als jetzt gegenüber den heute mit Strafe bedrohten
Handlungen. Wenn wir uns an die Moral des Märchens von der zarten
Prinzessin halten, die den Druck einer Erbse durch sieben Matratzen hindurch
spürt, so würde es doch eben ein Zeichen besonders geläuterten Menschentums
sei", wenn wir einmal so empfindlich würden, daß wir Abwehr gegen jedes
Unrecht, wie gering es auch sei, für nötig halten. Sollen wir uns deswegen
im Kampfe gegen das Verbrechen beschränken?

Wie in allen unsern Handlungen können wir auch im Kampfe gegen das
Verbrechen nur die nächsten Ziele im Auge behalten. Um mit Goethe zu
sprechen: "Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonncnpferde
der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt Nichts,
als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom
Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer
weiß es?" Unsre Zeit schreibt uns aber vor, gegen das Verbrechen zu kämpfen,
wie wir nur immer können, denn es erhebt noch frech genug das Haupt, und
wir sind noch nicht einmal so weit, seine materiellen und immateriellen
Schädigungen genau genug zu erkennen, obgleich wir wohl dazu imstande
wären. Daß diese Jnventuraufuahme, die von unsrer Kriminalstatistik nur
mangelhaft geleistet wird, fehlt, ist um so bedauerlicher, als unsre Zeit Straf¬
recht und Strafprozeß zu reformieren auf sich genommen hat, und diese Reformen
doch vor allem davon abhängig gemacht werden müßten, wie groß das Übel
ist, das im Strafrecht zu bekämpfen ist. Gerade darum kümmert man sich aber
am wenigsten. Die großen und an und für sich gewiß höchst dankenswerten
und fleißigen wissenschaftlichen Vorbereitungen, die für das große Reformwerk
gemacht werden, bewegen sich auf der Linie der Nechtsvergleichung. Das, was
uns wirtschaftlich und ethisch das Verbrechen bedeutet, das lernen wir dabei
um wenig oder nichts besser kennen als vorher. Auf diesem Gebiete bewegen
wir uns nach wie vor, soweit die Kriminalstatistik keine Auskunft zu geben
vermag, mit vagen Vorstellungen und allgemeinen Sentiments. Trotz den gro߬
artigen Leistungen, die in den wissenschaftlichen Vorarbeiten stecken, werden
deshalb die Reformen, insbesondre im Strafprozeßrecht, von den politischen
Forderungen des Tages bestimmt werden.

./ So heißt es, der Mangel der Volkstümlichkeit des jetzt geltenden Straf-
und Strafprozeßrechts macht die Reform nötig. Der Ausdruck "Volkstümlich¬
keit" will mir in Anwendung auf das Strafrecht nicht recht passend erscheinen.
Ein Recht, das notwendig seine Härten und Schärfen vor allem gegen das
Volk richtet, dem das Heer der Beschuldigten ^Angeschuldigten^ Angeklagten,


Rriminalpolitische Irrtümer

Allerdings kommt vielleicht einmal die Menschheit so weit, daß selbst moralisches
und ziviles Unrecht als kriminelles abgestraft wird. Dann aber wird die
Menschheit so fein organisiert sein, daß es niemand als eine Klosterexistenz
empfindet, wenn ihm die strafrechtliche Ahndung kleinerund kleinster Fehltritte
angedroht wird, denn dann wird auch die Verlockung, solche Fehltritte zu
begeh«, nicht größer sein als jetzt gegenüber den heute mit Strafe bedrohten
Handlungen. Wenn wir uns an die Moral des Märchens von der zarten
Prinzessin halten, die den Druck einer Erbse durch sieben Matratzen hindurch
spürt, so würde es doch eben ein Zeichen besonders geläuterten Menschentums
sei«, wenn wir einmal so empfindlich würden, daß wir Abwehr gegen jedes
Unrecht, wie gering es auch sei, für nötig halten. Sollen wir uns deswegen
im Kampfe gegen das Verbrechen beschränken?

Wie in allen unsern Handlungen können wir auch im Kampfe gegen das
Verbrechen nur die nächsten Ziele im Auge behalten. Um mit Goethe zu
sprechen: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonncnpferde
der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt Nichts,
als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom
Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer
weiß es?" Unsre Zeit schreibt uns aber vor, gegen das Verbrechen zu kämpfen,
wie wir nur immer können, denn es erhebt noch frech genug das Haupt, und
wir sind noch nicht einmal so weit, seine materiellen und immateriellen
Schädigungen genau genug zu erkennen, obgleich wir wohl dazu imstande
wären. Daß diese Jnventuraufuahme, die von unsrer Kriminalstatistik nur
mangelhaft geleistet wird, fehlt, ist um so bedauerlicher, als unsre Zeit Straf¬
recht und Strafprozeß zu reformieren auf sich genommen hat, und diese Reformen
doch vor allem davon abhängig gemacht werden müßten, wie groß das Übel
ist, das im Strafrecht zu bekämpfen ist. Gerade darum kümmert man sich aber
am wenigsten. Die großen und an und für sich gewiß höchst dankenswerten
und fleißigen wissenschaftlichen Vorbereitungen, die für das große Reformwerk
gemacht werden, bewegen sich auf der Linie der Nechtsvergleichung. Das, was
uns wirtschaftlich und ethisch das Verbrechen bedeutet, das lernen wir dabei
um wenig oder nichts besser kennen als vorher. Auf diesem Gebiete bewegen
wir uns nach wie vor, soweit die Kriminalstatistik keine Auskunft zu geben
vermag, mit vagen Vorstellungen und allgemeinen Sentiments. Trotz den gro߬
artigen Leistungen, die in den wissenschaftlichen Vorarbeiten stecken, werden
deshalb die Reformen, insbesondre im Strafprozeßrecht, von den politischen
Forderungen des Tages bestimmt werden.

./ So heißt es, der Mangel der Volkstümlichkeit des jetzt geltenden Straf-
und Strafprozeßrechts macht die Reform nötig. Der Ausdruck „Volkstümlich¬
keit" will mir in Anwendung auf das Strafrecht nicht recht passend erscheinen.
Ein Recht, das notwendig seine Härten und Schärfen vor allem gegen das
Volk richtet, dem das Heer der Beschuldigten ^Angeschuldigten^ Angeklagten,


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[0086] Rriminalpolitische Irrtümer Allerdings kommt vielleicht einmal die Menschheit so weit, daß selbst moralisches und ziviles Unrecht als kriminelles abgestraft wird. Dann aber wird die Menschheit so fein organisiert sein, daß es niemand als eine Klosterexistenz empfindet, wenn ihm die strafrechtliche Ahndung kleinerund kleinster Fehltritte angedroht wird, denn dann wird auch die Verlockung, solche Fehltritte zu begeh«, nicht größer sein als jetzt gegenüber den heute mit Strafe bedrohten Handlungen. Wenn wir uns an die Moral des Märchens von der zarten Prinzessin halten, die den Druck einer Erbse durch sieben Matratzen hindurch spürt, so würde es doch eben ein Zeichen besonders geläuterten Menschentums sei«, wenn wir einmal so empfindlich würden, daß wir Abwehr gegen jedes Unrecht, wie gering es auch sei, für nötig halten. Sollen wir uns deswegen im Kampfe gegen das Verbrechen beschränken? Wie in allen unsern Handlungen können wir auch im Kampfe gegen das Verbrechen nur die nächsten Ziele im Auge behalten. Um mit Goethe zu sprechen: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonncnpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt Nichts, als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es?" Unsre Zeit schreibt uns aber vor, gegen das Verbrechen zu kämpfen, wie wir nur immer können, denn es erhebt noch frech genug das Haupt, und wir sind noch nicht einmal so weit, seine materiellen und immateriellen Schädigungen genau genug zu erkennen, obgleich wir wohl dazu imstande wären. Daß diese Jnventuraufuahme, die von unsrer Kriminalstatistik nur mangelhaft geleistet wird, fehlt, ist um so bedauerlicher, als unsre Zeit Straf¬ recht und Strafprozeß zu reformieren auf sich genommen hat, und diese Reformen doch vor allem davon abhängig gemacht werden müßten, wie groß das Übel ist, das im Strafrecht zu bekämpfen ist. Gerade darum kümmert man sich aber am wenigsten. Die großen und an und für sich gewiß höchst dankenswerten und fleißigen wissenschaftlichen Vorbereitungen, die für das große Reformwerk gemacht werden, bewegen sich auf der Linie der Nechtsvergleichung. Das, was uns wirtschaftlich und ethisch das Verbrechen bedeutet, das lernen wir dabei um wenig oder nichts besser kennen als vorher. Auf diesem Gebiete bewegen wir uns nach wie vor, soweit die Kriminalstatistik keine Auskunft zu geben vermag, mit vagen Vorstellungen und allgemeinen Sentiments. Trotz den gro߬ artigen Leistungen, die in den wissenschaftlichen Vorarbeiten stecken, werden deshalb die Reformen, insbesondre im Strafprozeßrecht, von den politischen Forderungen des Tages bestimmt werden. ./ So heißt es, der Mangel der Volkstümlichkeit des jetzt geltenden Straf- und Strafprozeßrechts macht die Reform nötig. Der Ausdruck „Volkstümlich¬ keit" will mir in Anwendung auf das Strafrecht nicht recht passend erscheinen. Ein Recht, das notwendig seine Härten und Schärfen vor allem gegen das Volk richtet, dem das Heer der Beschuldigten ^Angeschuldigten^ Angeklagten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/86>, abgerufen am 23.07.2024.