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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Uriminalpolitische Irrtümer

tmgödien; für das auch Schiller hohe Worte zu finden gewußt hat, und das
uns auch von dem Nietzschischen Übermenschen, wenn er einstmals lebendig
werden sollte, gelegentlich dargestellt werden wird. Dieses Heldentum, dessen
Existenz ebensowenig geleugnet werden kann wie die des tragischen Konflikts
von Pflichten, der sich im Verbrechen löst, wie der Berechtigung des Satzes,
daß unter besondern Umständen das begangne Schlechte an dem erreichten
Guten seinen Meister findet, und daß in großen Taten der Zweck die Mittel
heiligt, ist niemals etwas andres als Einzelerscheinung. Es kann nie in das
ttbergehn, was wir als die Kulturplage Kriminalität bezeichnen. Weder die
erhabne Weltanschauung eines Schiller, noch die Herrenmoral eines Nietzsche
will die Energie des Verbrechers schlechthin als notwendige Kulturmacht preisen.

Über den utopistischen Ansichten des Sozialismus und des Anarchismus und
über den weltfernen Lehrmeinungen der genannten Soziologen steht die historische
Tatsache, daß der Kampf gegen das Verbrechen in keiner geordneten mensch¬
lichen Gesellschaft fehlt, daß auch das Verlangen nach einer starken und gerechten
Strafgewalt alle Kulturnationen beherrscht, daß ferner, wo die verordnete
Strafgewalt diesen Erfordernissen nicht entspricht, sich eine solche bildet, daß
endlich, wenn die Bevölkerung nicht außergewöhnlich gut veranlagt ist, beim
Nachlassen der Strafgewalt die Kriminalität wächst. Daraus ergibt sich aber
die Gesetzmäßigkeit der Reaktion gegen das Verbrechen: sie liegt begründet in
dem nie verschwindende" Gegensatz der Einzel- und Gemeinschaftsinteressen und
in dem Vorzug, den die letzten im geordneten Zusammenleben der Menschen
genießen. Zunehmende Kultur kann dieses Gesetz auch unter der Herrschaft
andrer Wirtschaftsformen umso weniger außer Kraft setzen, je mehr Meuschen
die Erde bevölkern, denn um so nötiger sind dann die Normen, die bei der
Vermehrung der durch die Kultur schon an und für sich vermehrten Reibungs¬
flächen unter den Menschen den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten haben.
Verbrcchenszunahme als Bedingung des Kulturfortschritts wäre wenigstens
teilweise dessen Negation, besteht jener doch gerade auch darin, Verbrechens¬
motive zu beseitigen. Inhalt unsrer Kultur ist allerdings auch das. was in
der Vorbeugung und im Kampf gegen das Verbrechen geleistet wird. So beruht
zum Beispiel unser Zivilprozeß zu einem großen Teil auch auf dem Gedanken.
Sicherheit gegen straffälliges Tun zu schaffen. Und wieviel andre Leistungen
im Gebiete der Ethik, Religion, Politik, Pädagogik und Technik sind noch diesem
Zwecke gewidmet! Aber alle diese Bemühungen bilden schließlich doch nur
einen geringen Teil der ganzen großen Kultur unsrer Zeit.

Mehr noch, wir bedauern es. daß so viel materielle und immaterielle
Kräfte im Kampfe gegen das Verbrechen gebunden sind. Könnte man sie frei
machen, so wäre es möglich, daß alsdann unsre Kultur in rascheren Tempo
aufwärts stiege. So notwendig Kampf für die Entwicklung der Kräfte ist, so
wenig notwendig ist es doch der Kampf gegen die Kriminalität, denn an
Gelegenheit und Anlaß zu Kämpfen fehlt es uns heute noch keineswegs.


Uriminalpolitische Irrtümer

tmgödien; für das auch Schiller hohe Worte zu finden gewußt hat, und das
uns auch von dem Nietzschischen Übermenschen, wenn er einstmals lebendig
werden sollte, gelegentlich dargestellt werden wird. Dieses Heldentum, dessen
Existenz ebensowenig geleugnet werden kann wie die des tragischen Konflikts
von Pflichten, der sich im Verbrechen löst, wie der Berechtigung des Satzes,
daß unter besondern Umständen das begangne Schlechte an dem erreichten
Guten seinen Meister findet, und daß in großen Taten der Zweck die Mittel
heiligt, ist niemals etwas andres als Einzelerscheinung. Es kann nie in das
ttbergehn, was wir als die Kulturplage Kriminalität bezeichnen. Weder die
erhabne Weltanschauung eines Schiller, noch die Herrenmoral eines Nietzsche
will die Energie des Verbrechers schlechthin als notwendige Kulturmacht preisen.

Über den utopistischen Ansichten des Sozialismus und des Anarchismus und
über den weltfernen Lehrmeinungen der genannten Soziologen steht die historische
Tatsache, daß der Kampf gegen das Verbrechen in keiner geordneten mensch¬
lichen Gesellschaft fehlt, daß auch das Verlangen nach einer starken und gerechten
Strafgewalt alle Kulturnationen beherrscht, daß ferner, wo die verordnete
Strafgewalt diesen Erfordernissen nicht entspricht, sich eine solche bildet, daß
endlich, wenn die Bevölkerung nicht außergewöhnlich gut veranlagt ist, beim
Nachlassen der Strafgewalt die Kriminalität wächst. Daraus ergibt sich aber
die Gesetzmäßigkeit der Reaktion gegen das Verbrechen: sie liegt begründet in
dem nie verschwindende» Gegensatz der Einzel- und Gemeinschaftsinteressen und
in dem Vorzug, den die letzten im geordneten Zusammenleben der Menschen
genießen. Zunehmende Kultur kann dieses Gesetz auch unter der Herrschaft
andrer Wirtschaftsformen umso weniger außer Kraft setzen, je mehr Meuschen
die Erde bevölkern, denn um so nötiger sind dann die Normen, die bei der
Vermehrung der durch die Kultur schon an und für sich vermehrten Reibungs¬
flächen unter den Menschen den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten haben.
Verbrcchenszunahme als Bedingung des Kulturfortschritts wäre wenigstens
teilweise dessen Negation, besteht jener doch gerade auch darin, Verbrechens¬
motive zu beseitigen. Inhalt unsrer Kultur ist allerdings auch das. was in
der Vorbeugung und im Kampf gegen das Verbrechen geleistet wird. So beruht
zum Beispiel unser Zivilprozeß zu einem großen Teil auch auf dem Gedanken.
Sicherheit gegen straffälliges Tun zu schaffen. Und wieviel andre Leistungen
im Gebiete der Ethik, Religion, Politik, Pädagogik und Technik sind noch diesem
Zwecke gewidmet! Aber alle diese Bemühungen bilden schließlich doch nur
einen geringen Teil der ganzen großen Kultur unsrer Zeit.

Mehr noch, wir bedauern es. daß so viel materielle und immaterielle
Kräfte im Kampfe gegen das Verbrechen gebunden sind. Könnte man sie frei
machen, so wäre es möglich, daß alsdann unsre Kultur in rascheren Tempo
aufwärts stiege. So notwendig Kampf für die Entwicklung der Kräfte ist, so
wenig notwendig ist es doch der Kampf gegen die Kriminalität, denn an
Gelegenheit und Anlaß zu Kämpfen fehlt es uns heute noch keineswegs.


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[0085] Uriminalpolitische Irrtümer tmgödien; für das auch Schiller hohe Worte zu finden gewußt hat, und das uns auch von dem Nietzschischen Übermenschen, wenn er einstmals lebendig werden sollte, gelegentlich dargestellt werden wird. Dieses Heldentum, dessen Existenz ebensowenig geleugnet werden kann wie die des tragischen Konflikts von Pflichten, der sich im Verbrechen löst, wie der Berechtigung des Satzes, daß unter besondern Umständen das begangne Schlechte an dem erreichten Guten seinen Meister findet, und daß in großen Taten der Zweck die Mittel heiligt, ist niemals etwas andres als Einzelerscheinung. Es kann nie in das ttbergehn, was wir als die Kulturplage Kriminalität bezeichnen. Weder die erhabne Weltanschauung eines Schiller, noch die Herrenmoral eines Nietzsche will die Energie des Verbrechers schlechthin als notwendige Kulturmacht preisen. Über den utopistischen Ansichten des Sozialismus und des Anarchismus und über den weltfernen Lehrmeinungen der genannten Soziologen steht die historische Tatsache, daß der Kampf gegen das Verbrechen in keiner geordneten mensch¬ lichen Gesellschaft fehlt, daß auch das Verlangen nach einer starken und gerechten Strafgewalt alle Kulturnationen beherrscht, daß ferner, wo die verordnete Strafgewalt diesen Erfordernissen nicht entspricht, sich eine solche bildet, daß endlich, wenn die Bevölkerung nicht außergewöhnlich gut veranlagt ist, beim Nachlassen der Strafgewalt die Kriminalität wächst. Daraus ergibt sich aber die Gesetzmäßigkeit der Reaktion gegen das Verbrechen: sie liegt begründet in dem nie verschwindende» Gegensatz der Einzel- und Gemeinschaftsinteressen und in dem Vorzug, den die letzten im geordneten Zusammenleben der Menschen genießen. Zunehmende Kultur kann dieses Gesetz auch unter der Herrschaft andrer Wirtschaftsformen umso weniger außer Kraft setzen, je mehr Meuschen die Erde bevölkern, denn um so nötiger sind dann die Normen, die bei der Vermehrung der durch die Kultur schon an und für sich vermehrten Reibungs¬ flächen unter den Menschen den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten haben. Verbrcchenszunahme als Bedingung des Kulturfortschritts wäre wenigstens teilweise dessen Negation, besteht jener doch gerade auch darin, Verbrechens¬ motive zu beseitigen. Inhalt unsrer Kultur ist allerdings auch das. was in der Vorbeugung und im Kampf gegen das Verbrechen geleistet wird. So beruht zum Beispiel unser Zivilprozeß zu einem großen Teil auch auf dem Gedanken. Sicherheit gegen straffälliges Tun zu schaffen. Und wieviel andre Leistungen im Gebiete der Ethik, Religion, Politik, Pädagogik und Technik sind noch diesem Zwecke gewidmet! Aber alle diese Bemühungen bilden schließlich doch nur einen geringen Teil der ganzen großen Kultur unsrer Zeit. Mehr noch, wir bedauern es. daß so viel materielle und immaterielle Kräfte im Kampfe gegen das Verbrechen gebunden sind. Könnte man sie frei machen, so wäre es möglich, daß alsdann unsre Kultur in rascheren Tempo aufwärts stiege. So notwendig Kampf für die Entwicklung der Kräfte ist, so wenig notwendig ist es doch der Kampf gegen die Kriminalität, denn an Gelegenheit und Anlaß zu Kämpfen fehlt es uns heute noch keineswegs.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/85>, abgerufen am 12.12.2024.