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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichsfinanzreform

werbende Zwecke, das heißt für solche Anlagen, die man vernünftigerweise aus
dem Kapital bestreiten darf, wie bestimmte Eisenbahn- und Postbauten, Kanal¬
anlagen usw., sind im ganzen 650 bis 700 Millionen Mark verwandt worden.
Bei dem verbleibenden Rest der Reichsschulden, fast 3000 Millionen Mark,
dagegen handelt es sich um solche Ausgaben, die in normalen Zeiten aus
laufenden Einnahmen zu decken wären.

Zurückzuführen ist diese verfehlte Finanzpolitik darauf, daß es bis 1901
an hinreichenden Grundsätzen darüber gefehlt hat, was in den ordentlichen und
was in den außerordentlichen Etat gehört. Erst seit 1901 sind genaue Grund¬
sätze darüber aufgestellt, was auf Anleihe genommen werden darf. Diese haben
im Laufe der Jahre noch eine schärfere Ausbildung erfahren.

Ein weiteres Deckungsmittel für das Reich neben den unzulänglichen
eignen Einnahmen und der besprochenen Kontrahierung von Schulden ist die
eigenartige Einrichtung der Matrikularbeitrüge. Diese können von allen Ver¬
suchen, den Reichsbednrf zu decken, wohl als das unzuträglichste und ver¬
fehlteste Hilfsmittel angesehen werden. "Die Vorlage ist die Proklamation der
finanziellen Zerrüttung und Anarchie in den sämtlichen deutschen Bundesstaaten"
(Dr. von Miquel). Das Reich hat sich auf die Beiträge der Einzelstaaten ver¬
lassen, dadurch aber sich selbst nichts genützt, vielmehr diesen geschadet. "Denn
die Form der Verträge trifft, wie Fürst Bismarck sagte, den kontribualen
Staat nicht gerecht nach den Verhältnissen seiner Leistungsfähigkeit. Das
Gefühl, zu ungerechten Leistungen herangezogen zu werden, entwickelt das Be¬
streben, einer solchen Ungerechtigkeit sich zu entziehen, und verstimmt."

Es werden sodann die verschiednen Reformversuche und deren teilweise
Mißerfolge vom Jahre 1873 bis 1906 näher geschildert, insbesondre die beiden
in der deutschen Finauzgeschichte so lehrreichen, gescheiterten Projekte: Reichs¬
eisenbahn und Tabakmonopol. Dadurch, daß das Reichseisenbahnprojekt nicht
verwirklicht worden ist, sind dem Deutschen Reiche bis jetzt Einnahmen in Höhe
von mindestens 5,7 Milliarden Mark entgangen, aus dem Scheitern des Tabak¬
monopolentwurfs von 1882 berechnet man einen Schaden von reichlich vier
Milliarden.

In dem folgenden fünften Kapitel wird das finanzielle Ver¬
hältnis des Reichs zu den Bundesstaaten erörtert. Bei der vorge¬
sehenen Neureglung des Reiches würde der von den Bundesstaaten so schwer
empfundne schwankende Charakter der Rückwirkung der finanziellen Verbindung
mit dem Reiche nahezu ganz beseitigt werden. Das gilt schon von den Über¬
weisungen, denn aus dem Zwischenhandel soll aus Branntwein regelmäßig ein
Reinertrag von 220 Millionen Mark herausgewirtschaftet werden. Für den
seltnen Ausnahmefall, daß trotz des in Aussicht genommnen Ausgleichsfonds
der Reinertrag einmal hinter diesem Betrage zurückbleibt, soll der Minder¬
ertrag dem Reiche zur Last fallen, soweit in dem betreffenden Jahrfünft die
Matriknlarbeiträge nicht unter dem gesetzlichen Höchstbetrage bleiben.


Die Reichsfinanzreform

werbende Zwecke, das heißt für solche Anlagen, die man vernünftigerweise aus
dem Kapital bestreiten darf, wie bestimmte Eisenbahn- und Postbauten, Kanal¬
anlagen usw., sind im ganzen 650 bis 700 Millionen Mark verwandt worden.
Bei dem verbleibenden Rest der Reichsschulden, fast 3000 Millionen Mark,
dagegen handelt es sich um solche Ausgaben, die in normalen Zeiten aus
laufenden Einnahmen zu decken wären.

Zurückzuführen ist diese verfehlte Finanzpolitik darauf, daß es bis 1901
an hinreichenden Grundsätzen darüber gefehlt hat, was in den ordentlichen und
was in den außerordentlichen Etat gehört. Erst seit 1901 sind genaue Grund¬
sätze darüber aufgestellt, was auf Anleihe genommen werden darf. Diese haben
im Laufe der Jahre noch eine schärfere Ausbildung erfahren.

Ein weiteres Deckungsmittel für das Reich neben den unzulänglichen
eignen Einnahmen und der besprochenen Kontrahierung von Schulden ist die
eigenartige Einrichtung der Matrikularbeitrüge. Diese können von allen Ver¬
suchen, den Reichsbednrf zu decken, wohl als das unzuträglichste und ver¬
fehlteste Hilfsmittel angesehen werden. „Die Vorlage ist die Proklamation der
finanziellen Zerrüttung und Anarchie in den sämtlichen deutschen Bundesstaaten"
(Dr. von Miquel). Das Reich hat sich auf die Beiträge der Einzelstaaten ver¬
lassen, dadurch aber sich selbst nichts genützt, vielmehr diesen geschadet. „Denn
die Form der Verträge trifft, wie Fürst Bismarck sagte, den kontribualen
Staat nicht gerecht nach den Verhältnissen seiner Leistungsfähigkeit. Das
Gefühl, zu ungerechten Leistungen herangezogen zu werden, entwickelt das Be¬
streben, einer solchen Ungerechtigkeit sich zu entziehen, und verstimmt."

Es werden sodann die verschiednen Reformversuche und deren teilweise
Mißerfolge vom Jahre 1873 bis 1906 näher geschildert, insbesondre die beiden
in der deutschen Finauzgeschichte so lehrreichen, gescheiterten Projekte: Reichs¬
eisenbahn und Tabakmonopol. Dadurch, daß das Reichseisenbahnprojekt nicht
verwirklicht worden ist, sind dem Deutschen Reiche bis jetzt Einnahmen in Höhe
von mindestens 5,7 Milliarden Mark entgangen, aus dem Scheitern des Tabak¬
monopolentwurfs von 1882 berechnet man einen Schaden von reichlich vier
Milliarden.

In dem folgenden fünften Kapitel wird das finanzielle Ver¬
hältnis des Reichs zu den Bundesstaaten erörtert. Bei der vorge¬
sehenen Neureglung des Reiches würde der von den Bundesstaaten so schwer
empfundne schwankende Charakter der Rückwirkung der finanziellen Verbindung
mit dem Reiche nahezu ganz beseitigt werden. Das gilt schon von den Über¬
weisungen, denn aus dem Zwischenhandel soll aus Branntwein regelmäßig ein
Reinertrag von 220 Millionen Mark herausgewirtschaftet werden. Für den
seltnen Ausnahmefall, daß trotz des in Aussicht genommnen Ausgleichsfonds
der Reinertrag einmal hinter diesem Betrage zurückbleibt, soll der Minder¬
ertrag dem Reiche zur Last fallen, soweit in dem betreffenden Jahrfünft die
Matriknlarbeiträge nicht unter dem gesetzlichen Höchstbetrage bleiben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/638>, abgerufen am 23.07.2024.