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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die Reichsfinanzreform

Staaten einen beträchtlich geringern Anteil an der Gesamtsumme der staatlichen
Aufwendungen haben als in andern Ländern.

"Erwägen wir, daß sich trotz Aufbringung der scheinbar so hohen Rüstungs-
kosten bei gleichmäßig fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung unser National¬
vermögen um jährlich rund 2 vom Hundert steigert, so wird die Frage,
ob wir, in der ersten internationalen Gefahrenklasse stehend, diese Prämie durch
unveränderte Pflege unsrer Wehrkraft und durch Ausbau unsrer finanziellen
Rüstung tragen können, nicht anders zu beantworten sein als mit einem runden
Ja!" (Arthur Dix). Generalleutnant z. D. Metzler schätzt nach den Erfahrungen
aus frühern Kriegen die deutschen Kriegskosten für einen Monat auf 1845 Mil¬
lionen, für ein Jahr auf 22 Milliarden. Dr. Rießer berechnet den Gesamt¬
bedarf in den ersten sechs Wochen auf rund 2450 Millionen Mark -- eine
Zahl, die bei weitem zu niedrig gegriffen sein dürfte -- und zieht dann
Vergleiche, die England und Deutschland mit ihrem Kredit in Kriegszeiten ge¬
macht haben.

Das zweite Buch behandelt sodann die Finanznot und ihre Ent¬
stehung, und zwar indem vierten Kapitel zunächst die geschichtliche Ent¬
wicklung und ihre Entstehung.

Die Schulden des Reiches sind innerhalb dreißig Jahren von 0 auf
4251 Millionen Mark gestiegen. Die Schatzanweisungen zur Deckung der lau¬
fenden Betriebsausgaben waren vor dreißig Jahren gar nicht oder nur ganz
vorübergehend notwendig. Jetzt stehen sie dauernd über 475 Millionen Mark
und kommen kaum noch zur Einlösung. Das Defizit des letzten Jahres beläuft
sich nach den Ausführungen des Reichsschatzsekretärs auf weit über 100 Mil¬
lionen Mark, und werden nicht neue Einnahmen erschlossen, so ist für jedes der
nächsten Jahre auf ein Defizit von nicht weniger als 200 bis 250 Millionen
Mark zu rechnen.

Aus dem kürzlich vom Neichsschatzamt für die Vergangenheit aufgestellten
sogenannten gereinigten (purifizierten) Etat -- der bisherige aus Gründen des
Budgetrechts anders aufgestellte läßt die Einnahmen und Ausgaben des ein¬
zelnen Jahres nicht richtig erkennen -- ist zu ersehen, daß mit Ausnahme
des einzigen Jahres 1906 in sämtlichen Jahren seit der Reichsgründung die
Ausgaben des Reiches seine Einnahmen überschritten, und zwar

in den Jahren 1872 bis 1878 um insgesamt 12SS,4 Millionen Mark
" " " 1879 " 1899 " " 1769,8
" " " 1900 " 1907 "__1071,1 _
zusammen um 409K.8 Millionen Mark

Diese rund 4 Milliarden Mindereinnahmen kommen in unsrer heutigen
Reichsschuld zum Ausdruck, denn unter den 4^ Milliarden, die diese aus¬
weist, sind für außergewöhnliche kriegerische Ereignisse, die kein Staat aus
laufenden Mitteln decken kann, etwa 720 Millionen Mark entstanden, nämlich
für die südafrikanischen Aufstände lind die ostasiatische Expedition. Für


Grenzboten I 1909 82
Die Reichsfinanzreform

Staaten einen beträchtlich geringern Anteil an der Gesamtsumme der staatlichen
Aufwendungen haben als in andern Ländern.

„Erwägen wir, daß sich trotz Aufbringung der scheinbar so hohen Rüstungs-
kosten bei gleichmäßig fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung unser National¬
vermögen um jährlich rund 2 vom Hundert steigert, so wird die Frage,
ob wir, in der ersten internationalen Gefahrenklasse stehend, diese Prämie durch
unveränderte Pflege unsrer Wehrkraft und durch Ausbau unsrer finanziellen
Rüstung tragen können, nicht anders zu beantworten sein als mit einem runden
Ja!" (Arthur Dix). Generalleutnant z. D. Metzler schätzt nach den Erfahrungen
aus frühern Kriegen die deutschen Kriegskosten für einen Monat auf 1845 Mil¬
lionen, für ein Jahr auf 22 Milliarden. Dr. Rießer berechnet den Gesamt¬
bedarf in den ersten sechs Wochen auf rund 2450 Millionen Mark — eine
Zahl, die bei weitem zu niedrig gegriffen sein dürfte — und zieht dann
Vergleiche, die England und Deutschland mit ihrem Kredit in Kriegszeiten ge¬
macht haben.

Das zweite Buch behandelt sodann die Finanznot und ihre Ent¬
stehung, und zwar indem vierten Kapitel zunächst die geschichtliche Ent¬
wicklung und ihre Entstehung.

Die Schulden des Reiches sind innerhalb dreißig Jahren von 0 auf
4251 Millionen Mark gestiegen. Die Schatzanweisungen zur Deckung der lau¬
fenden Betriebsausgaben waren vor dreißig Jahren gar nicht oder nur ganz
vorübergehend notwendig. Jetzt stehen sie dauernd über 475 Millionen Mark
und kommen kaum noch zur Einlösung. Das Defizit des letzten Jahres beläuft
sich nach den Ausführungen des Reichsschatzsekretärs auf weit über 100 Mil¬
lionen Mark, und werden nicht neue Einnahmen erschlossen, so ist für jedes der
nächsten Jahre auf ein Defizit von nicht weniger als 200 bis 250 Millionen
Mark zu rechnen.

Aus dem kürzlich vom Neichsschatzamt für die Vergangenheit aufgestellten
sogenannten gereinigten (purifizierten) Etat — der bisherige aus Gründen des
Budgetrechts anders aufgestellte läßt die Einnahmen und Ausgaben des ein¬
zelnen Jahres nicht richtig erkennen — ist zu ersehen, daß mit Ausnahme
des einzigen Jahres 1906 in sämtlichen Jahren seit der Reichsgründung die
Ausgaben des Reiches seine Einnahmen überschritten, und zwar

in den Jahren 1872 bis 1878 um insgesamt 12SS,4 Millionen Mark
„ „ „ 1879 „ 1899 „ „ 1769,8
„ „ „ 1900 „ 1907 „__1071,1 _
zusammen um 409K.8 Millionen Mark

Diese rund 4 Milliarden Mindereinnahmen kommen in unsrer heutigen
Reichsschuld zum Ausdruck, denn unter den 4^ Milliarden, die diese aus¬
weist, sind für außergewöhnliche kriegerische Ereignisse, die kein Staat aus
laufenden Mitteln decken kann, etwa 720 Millionen Mark entstanden, nämlich
für die südafrikanischen Aufstände lind die ostasiatische Expedition. Für


Grenzboten I 1909 82
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[0637] Die Reichsfinanzreform Staaten einen beträchtlich geringern Anteil an der Gesamtsumme der staatlichen Aufwendungen haben als in andern Ländern. „Erwägen wir, daß sich trotz Aufbringung der scheinbar so hohen Rüstungs- kosten bei gleichmäßig fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung unser National¬ vermögen um jährlich rund 2 vom Hundert steigert, so wird die Frage, ob wir, in der ersten internationalen Gefahrenklasse stehend, diese Prämie durch unveränderte Pflege unsrer Wehrkraft und durch Ausbau unsrer finanziellen Rüstung tragen können, nicht anders zu beantworten sein als mit einem runden Ja!" (Arthur Dix). Generalleutnant z. D. Metzler schätzt nach den Erfahrungen aus frühern Kriegen die deutschen Kriegskosten für einen Monat auf 1845 Mil¬ lionen, für ein Jahr auf 22 Milliarden. Dr. Rießer berechnet den Gesamt¬ bedarf in den ersten sechs Wochen auf rund 2450 Millionen Mark — eine Zahl, die bei weitem zu niedrig gegriffen sein dürfte — und zieht dann Vergleiche, die England und Deutschland mit ihrem Kredit in Kriegszeiten ge¬ macht haben. Das zweite Buch behandelt sodann die Finanznot und ihre Ent¬ stehung, und zwar indem vierten Kapitel zunächst die geschichtliche Ent¬ wicklung und ihre Entstehung. Die Schulden des Reiches sind innerhalb dreißig Jahren von 0 auf 4251 Millionen Mark gestiegen. Die Schatzanweisungen zur Deckung der lau¬ fenden Betriebsausgaben waren vor dreißig Jahren gar nicht oder nur ganz vorübergehend notwendig. Jetzt stehen sie dauernd über 475 Millionen Mark und kommen kaum noch zur Einlösung. Das Defizit des letzten Jahres beläuft sich nach den Ausführungen des Reichsschatzsekretärs auf weit über 100 Mil¬ lionen Mark, und werden nicht neue Einnahmen erschlossen, so ist für jedes der nächsten Jahre auf ein Defizit von nicht weniger als 200 bis 250 Millionen Mark zu rechnen. Aus dem kürzlich vom Neichsschatzamt für die Vergangenheit aufgestellten sogenannten gereinigten (purifizierten) Etat — der bisherige aus Gründen des Budgetrechts anders aufgestellte läßt die Einnahmen und Ausgaben des ein¬ zelnen Jahres nicht richtig erkennen — ist zu ersehen, daß mit Ausnahme des einzigen Jahres 1906 in sämtlichen Jahren seit der Reichsgründung die Ausgaben des Reiches seine Einnahmen überschritten, und zwar in den Jahren 1872 bis 1878 um insgesamt 12SS,4 Millionen Mark „ „ „ 1879 „ 1899 „ „ 1769,8 „ „ „ 1900 „ 1907 „__1071,1 _ zusammen um 409K.8 Millionen Mark Diese rund 4 Milliarden Mindereinnahmen kommen in unsrer heutigen Reichsschuld zum Ausdruck, denn unter den 4^ Milliarden, die diese aus¬ weist, sind für außergewöhnliche kriegerische Ereignisse, die kein Staat aus laufenden Mitteln decken kann, etwa 720 Millionen Mark entstanden, nämlich für die südafrikanischen Aufstände lind die ostasiatische Expedition. Für Grenzboten I 1909 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/637>, abgerufen am 25.08.2024.