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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Sozialpolitik

artigen Richtlinien in bezug auf die Reform der Arbeiterversicherung. Hinzu¬
weisen wäre ferner auf die Resolutionen und Diskussionen des Zentralverbandes
deutscher Industrieller, in denen dem Reichstag und der Regierung in schärfster
Form ein Mißtrauensvotum erteilt wird. Hierher gehören auch die gutacht¬
lichen Äußerungen vieler Handelskammern zu einzelnen Fragen der sozialpoli¬
tischen Gesetzgebung, wobei über diese mit stark übertriebner Skepsis abgeurteilt
wird. Die erste Stelle kann in dieser Hinsicht wohl der kürzlich erschienene
Jahresbericht der Handelskammer zu Hamburg für das Jahr 1908 beanspruchen,
der, wie ein Hamburger Blatt rühmend hervorhebt, "ein vernichtendes Ge¬
samturteil über die Sozialpolitik des neuen Kurses" enthält.

Die angeführten Zeugnisse hochgradiger Übellaune Hütten eine Berechtigung,
wenn sich ihre Vorwürfe gegen die mancherlei parlamentarischen Fehler, die
in der Vergangenheit begangen worden sind, richteten; es wird aber bedauer¬
licherweise mehrfach mit Nachdruck hervorgehoben, daß auch dem "neuen Kurse"
mit größtem Mißtrauen zu begegnen sei. Hierzu liegt aber bei objektiver Be¬
trachtung bisher keine erkennbare Veranlassung vor. In einem konservativen
Blatte begegnen wir der Behauptung, daß der alte Kurs auch unter dem neuen
Staatssekretär in schönster Blüte stünde. Es sei eine Politik des Abwartens,
des Lcmfenlassens; nirgends mache sich der feste Wille bemerkbar, das not¬
wendige, entschiedn" Halt! zu rufen. Diese Bemerkungen sind nur insofern
richtig, als sie feststellen, daß ein Kurswechsel in Wirklichkeit nicht stattge¬
funden hat. Wer hätte das aber auch im Ernst erwartet, und wie kann man
verlangen, daß die im Um- und Ausbau begriffne soziale Gesetzgebung plötzlich
fallengelassen werde, oder daß etwa ungeachtet der bekannten Parteiungen im
Reichstag, die als gegeben in Rechnung zu stellen sind, mit Sondergesetzen
gegen die Sozialdemokratie vorzugehn sei? Der Staat darf auch gar nicht
von dem opfer- und segensreichen Werke der Sozialreform, deren angemessene
Fortsetzung uns aufwärts führen soll, seine Hand willkürlich abziehen, anch
dann nicht, wenn sich arge Verdrossenheit auf der einen, schnöder Undank auf
der andern Seite kundgeben. Er darf ferner aus Achtung vor dem gefunden
Sinn in allen Schichten der deutschen Nation nicht daran verzweifeln, daß es
ihm bei ausharrender Geduld mit der Zeit gelingen werde, eine Brücke der
Verständigung von den Arbeitnehmern zu den Arbeitgebern über die anscheinend
unversöhnlichen Gegensätze hinweg zu schlagen. Um das zu erreichen, wäre es
grundfalsch, die Neigungen "des starken Mannes" hervorzukehren, anstatt mit
zäher Beharrlichkeit um der guten Sache willen die Fäden aneinanderzuknüpsen
und den vielfach noch schlummernden versöhnlichen Tendenzen die Stätte zu
bereiten.

Ein solches Programm mag denen nicht behagen, die im Erwerbsleben
nur den unvertummerten Materialismus gelten lassen "vollen, und die die
Sozialpolitik lediglich von Standpunkt bestimmter persönlicher Interessen be¬
urteilen. Wollte sich der Staat diesen, in mancher Hinsicht bequemern An-


Unsre Sozialpolitik

artigen Richtlinien in bezug auf die Reform der Arbeiterversicherung. Hinzu¬
weisen wäre ferner auf die Resolutionen und Diskussionen des Zentralverbandes
deutscher Industrieller, in denen dem Reichstag und der Regierung in schärfster
Form ein Mißtrauensvotum erteilt wird. Hierher gehören auch die gutacht¬
lichen Äußerungen vieler Handelskammern zu einzelnen Fragen der sozialpoli¬
tischen Gesetzgebung, wobei über diese mit stark übertriebner Skepsis abgeurteilt
wird. Die erste Stelle kann in dieser Hinsicht wohl der kürzlich erschienene
Jahresbericht der Handelskammer zu Hamburg für das Jahr 1908 beanspruchen,
der, wie ein Hamburger Blatt rühmend hervorhebt, „ein vernichtendes Ge¬
samturteil über die Sozialpolitik des neuen Kurses" enthält.

Die angeführten Zeugnisse hochgradiger Übellaune Hütten eine Berechtigung,
wenn sich ihre Vorwürfe gegen die mancherlei parlamentarischen Fehler, die
in der Vergangenheit begangen worden sind, richteten; es wird aber bedauer¬
licherweise mehrfach mit Nachdruck hervorgehoben, daß auch dem „neuen Kurse"
mit größtem Mißtrauen zu begegnen sei. Hierzu liegt aber bei objektiver Be¬
trachtung bisher keine erkennbare Veranlassung vor. In einem konservativen
Blatte begegnen wir der Behauptung, daß der alte Kurs auch unter dem neuen
Staatssekretär in schönster Blüte stünde. Es sei eine Politik des Abwartens,
des Lcmfenlassens; nirgends mache sich der feste Wille bemerkbar, das not¬
wendige, entschiedn« Halt! zu rufen. Diese Bemerkungen sind nur insofern
richtig, als sie feststellen, daß ein Kurswechsel in Wirklichkeit nicht stattge¬
funden hat. Wer hätte das aber auch im Ernst erwartet, und wie kann man
verlangen, daß die im Um- und Ausbau begriffne soziale Gesetzgebung plötzlich
fallengelassen werde, oder daß etwa ungeachtet der bekannten Parteiungen im
Reichstag, die als gegeben in Rechnung zu stellen sind, mit Sondergesetzen
gegen die Sozialdemokratie vorzugehn sei? Der Staat darf auch gar nicht
von dem opfer- und segensreichen Werke der Sozialreform, deren angemessene
Fortsetzung uns aufwärts führen soll, seine Hand willkürlich abziehen, anch
dann nicht, wenn sich arge Verdrossenheit auf der einen, schnöder Undank auf
der andern Seite kundgeben. Er darf ferner aus Achtung vor dem gefunden
Sinn in allen Schichten der deutschen Nation nicht daran verzweifeln, daß es
ihm bei ausharrender Geduld mit der Zeit gelingen werde, eine Brücke der
Verständigung von den Arbeitnehmern zu den Arbeitgebern über die anscheinend
unversöhnlichen Gegensätze hinweg zu schlagen. Um das zu erreichen, wäre es
grundfalsch, die Neigungen „des starken Mannes" hervorzukehren, anstatt mit
zäher Beharrlichkeit um der guten Sache willen die Fäden aneinanderzuknüpsen
und den vielfach noch schlummernden versöhnlichen Tendenzen die Stätte zu
bereiten.

Ein solches Programm mag denen nicht behagen, die im Erwerbsleben
nur den unvertummerten Materialismus gelten lassen »vollen, und die die
Sozialpolitik lediglich von Standpunkt bestimmter persönlicher Interessen be¬
urteilen. Wollte sich der Staat diesen, in mancher Hinsicht bequemern An-


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[0586] Unsre Sozialpolitik artigen Richtlinien in bezug auf die Reform der Arbeiterversicherung. Hinzu¬ weisen wäre ferner auf die Resolutionen und Diskussionen des Zentralverbandes deutscher Industrieller, in denen dem Reichstag und der Regierung in schärfster Form ein Mißtrauensvotum erteilt wird. Hierher gehören auch die gutacht¬ lichen Äußerungen vieler Handelskammern zu einzelnen Fragen der sozialpoli¬ tischen Gesetzgebung, wobei über diese mit stark übertriebner Skepsis abgeurteilt wird. Die erste Stelle kann in dieser Hinsicht wohl der kürzlich erschienene Jahresbericht der Handelskammer zu Hamburg für das Jahr 1908 beanspruchen, der, wie ein Hamburger Blatt rühmend hervorhebt, „ein vernichtendes Ge¬ samturteil über die Sozialpolitik des neuen Kurses" enthält. Die angeführten Zeugnisse hochgradiger Übellaune Hütten eine Berechtigung, wenn sich ihre Vorwürfe gegen die mancherlei parlamentarischen Fehler, die in der Vergangenheit begangen worden sind, richteten; es wird aber bedauer¬ licherweise mehrfach mit Nachdruck hervorgehoben, daß auch dem „neuen Kurse" mit größtem Mißtrauen zu begegnen sei. Hierzu liegt aber bei objektiver Be¬ trachtung bisher keine erkennbare Veranlassung vor. In einem konservativen Blatte begegnen wir der Behauptung, daß der alte Kurs auch unter dem neuen Staatssekretär in schönster Blüte stünde. Es sei eine Politik des Abwartens, des Lcmfenlassens; nirgends mache sich der feste Wille bemerkbar, das not¬ wendige, entschiedn« Halt! zu rufen. Diese Bemerkungen sind nur insofern richtig, als sie feststellen, daß ein Kurswechsel in Wirklichkeit nicht stattge¬ funden hat. Wer hätte das aber auch im Ernst erwartet, und wie kann man verlangen, daß die im Um- und Ausbau begriffne soziale Gesetzgebung plötzlich fallengelassen werde, oder daß etwa ungeachtet der bekannten Parteiungen im Reichstag, die als gegeben in Rechnung zu stellen sind, mit Sondergesetzen gegen die Sozialdemokratie vorzugehn sei? Der Staat darf auch gar nicht von dem opfer- und segensreichen Werke der Sozialreform, deren angemessene Fortsetzung uns aufwärts führen soll, seine Hand willkürlich abziehen, anch dann nicht, wenn sich arge Verdrossenheit auf der einen, schnöder Undank auf der andern Seite kundgeben. Er darf ferner aus Achtung vor dem gefunden Sinn in allen Schichten der deutschen Nation nicht daran verzweifeln, daß es ihm bei ausharrender Geduld mit der Zeit gelingen werde, eine Brücke der Verständigung von den Arbeitnehmern zu den Arbeitgebern über die anscheinend unversöhnlichen Gegensätze hinweg zu schlagen. Um das zu erreichen, wäre es grundfalsch, die Neigungen „des starken Mannes" hervorzukehren, anstatt mit zäher Beharrlichkeit um der guten Sache willen die Fäden aneinanderzuknüpsen und den vielfach noch schlummernden versöhnlichen Tendenzen die Stätte zu bereiten. Ein solches Programm mag denen nicht behagen, die im Erwerbsleben nur den unvertummerten Materialismus gelten lassen »vollen, und die die Sozialpolitik lediglich von Standpunkt bestimmter persönlicher Interessen be¬ urteilen. Wollte sich der Staat diesen, in mancher Hinsicht bequemern An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/586>, abgerufen am 03.07.2024.