Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

solange kein besondres Gewicht, so lange sie nicht eine rücksichtslose Unterwerfung
ist. Professor Dr. Hoetzsch hat diesen Ausdruck jüngst (in Schmollers Jahr¬
buch als zu weit gehend) beanstandet -- er läßt sich jedoch aus der amtlichen
Literatur des Heiligen spröd erklären. Den Beweis für meine Auffassung
liefert aber die Behandlung der Polen in Rußland. Wenn wir allein die
Maßnahmen der innerrussischen Politik während des Jahres 1908 an uns
vorbeiziehn lassen, so stehn sie vor uns als eine ununterbrochne Kette von
Demütigungen des polnischen Nationalgefühls sowie als Beschränkungen aller
der Rechte und Freiheiten, die im Laufe des Jahres 1905 unfreiwillig ge¬
geben worden waren.

Die seinerzeit in Aussicht gestellte städtische Selbstverwaltung ist bisher
dem Zartum Polen ebensowenig beschieden worden wie die Sjemstwo oder
die Geschwornengerichte. Dagegen wurde mit der polnischen Privatschule nach
Möglichkeit aufgeräumt. Schon im Jahre 1907 begann man die polnische
Matica zu schließen, die bekanntlich den Zweck hatte, die polnischen Massen
nationalpolnisch zu erziehen.*) Im Herbst 1908 wurde die Warschauer Universität
geschlossen und der nationalen Aufklärung der polnischen Massen ein Riegel
vorgeschoben. Zugleich wurden auch alle sonstigen polnischen Privatschulen ge¬
schlossen, und einige tausend Kinder des einzigen Unterrichts beraubt. Die
noch bestehenden Schulen müssen den Geschichts- und Geographieunterricht in
russischer Sprache gewährleisten, und nur Mathematik, Naturkunde, Physik und
neue Sprachen dürfen in polnischer Sprache unterrichtet werden. Diese immerhin
nicht großen Konzessionen hat die Regierung überdies nur unter dem Drängen
der dritten Duma bewilligt. Im November wurde die Bestimmung ergänzt
durch die Forderung, der Geschichts- und Geographieunterricht dürfe nur von
Personen orthodoxen Glaubens erteilt werden. Hierdurch sind zahlreiche polnische
Lehrer, sogar solche, die schon dreißig Jahre um den staatlichen Schulen den
Geschichtsunterricht geleitet hatten, auf die Straße geworfen worden.

Auf der andern Seite begünstigt die Regierung alle zersetzenden Er¬
scheinungen in der polnischen Gesellschaft wie die Sekte der Mariaviten. Sie
hat ihr vollständige Freiheit der Religionsausübung gewährt zu einer Zeit,
wo sich selbst die fünfzehn Millionen russischer Altgläubigen und ihnen verwandte
Sekten solcher Freiheit noch nicht erfreuen konnten.

Gegenwärtig wird an der Newa die von den Polen sogenannte vierte
Teilung Polens vorbereitet, indem der lange gehegte und vielfach erwognc
Plan erneut zur Beratung steht, die östlichen Kreise der Gouvernements Ljublin
und Sjedletz an die benachbarten russischen Gouvernements anzuschließen -- sie
also der auf dem Code Napoleon beruhenden bürgerlichen Gesetzgebung im
Zartum zu entziehen.



*) Ich habe über die "Matin" im März 1907 ausführlich an dieser Stelle berichtet
Siehe Russischer Brief Ur, 5, Grenzboten I 1907, S. S4S bis SSS.
Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

solange kein besondres Gewicht, so lange sie nicht eine rücksichtslose Unterwerfung
ist. Professor Dr. Hoetzsch hat diesen Ausdruck jüngst (in Schmollers Jahr¬
buch als zu weit gehend) beanstandet — er läßt sich jedoch aus der amtlichen
Literatur des Heiligen spröd erklären. Den Beweis für meine Auffassung
liefert aber die Behandlung der Polen in Rußland. Wenn wir allein die
Maßnahmen der innerrussischen Politik während des Jahres 1908 an uns
vorbeiziehn lassen, so stehn sie vor uns als eine ununterbrochne Kette von
Demütigungen des polnischen Nationalgefühls sowie als Beschränkungen aller
der Rechte und Freiheiten, die im Laufe des Jahres 1905 unfreiwillig ge¬
geben worden waren.

Die seinerzeit in Aussicht gestellte städtische Selbstverwaltung ist bisher
dem Zartum Polen ebensowenig beschieden worden wie die Sjemstwo oder
die Geschwornengerichte. Dagegen wurde mit der polnischen Privatschule nach
Möglichkeit aufgeräumt. Schon im Jahre 1907 begann man die polnische
Matica zu schließen, die bekanntlich den Zweck hatte, die polnischen Massen
nationalpolnisch zu erziehen.*) Im Herbst 1908 wurde die Warschauer Universität
geschlossen und der nationalen Aufklärung der polnischen Massen ein Riegel
vorgeschoben. Zugleich wurden auch alle sonstigen polnischen Privatschulen ge¬
schlossen, und einige tausend Kinder des einzigen Unterrichts beraubt. Die
noch bestehenden Schulen müssen den Geschichts- und Geographieunterricht in
russischer Sprache gewährleisten, und nur Mathematik, Naturkunde, Physik und
neue Sprachen dürfen in polnischer Sprache unterrichtet werden. Diese immerhin
nicht großen Konzessionen hat die Regierung überdies nur unter dem Drängen
der dritten Duma bewilligt. Im November wurde die Bestimmung ergänzt
durch die Forderung, der Geschichts- und Geographieunterricht dürfe nur von
Personen orthodoxen Glaubens erteilt werden. Hierdurch sind zahlreiche polnische
Lehrer, sogar solche, die schon dreißig Jahre um den staatlichen Schulen den
Geschichtsunterricht geleitet hatten, auf die Straße geworfen worden.

Auf der andern Seite begünstigt die Regierung alle zersetzenden Er¬
scheinungen in der polnischen Gesellschaft wie die Sekte der Mariaviten. Sie
hat ihr vollständige Freiheit der Religionsausübung gewährt zu einer Zeit,
wo sich selbst die fünfzehn Millionen russischer Altgläubigen und ihnen verwandte
Sekten solcher Freiheit noch nicht erfreuen konnten.

Gegenwärtig wird an der Newa die von den Polen sogenannte vierte
Teilung Polens vorbereitet, indem der lange gehegte und vielfach erwognc
Plan erneut zur Beratung steht, die östlichen Kreise der Gouvernements Ljublin
und Sjedletz an die benachbarten russischen Gouvernements anzuschließen — sie
also der auf dem Code Napoleon beruhenden bürgerlichen Gesetzgebung im
Zartum zu entziehen.



*) Ich habe über die „Matin" im März 1907 ausführlich an dieser Stelle berichtet
Siehe Russischer Brief Ur, 5, Grenzboten I 1907, S. S4S bis SSS.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312891"/>
            <fw type="header" place="top"> Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2169" prev="#ID_2168"> solange kein besondres Gewicht, so lange sie nicht eine rücksichtslose Unterwerfung<lb/>
ist. Professor Dr. Hoetzsch hat diesen Ausdruck jüngst (in Schmollers Jahr¬<lb/>
buch als zu weit gehend) beanstandet &#x2014; er läßt sich jedoch aus der amtlichen<lb/>
Literatur des Heiligen spröd erklären. Den Beweis für meine Auffassung<lb/>
liefert aber die Behandlung der Polen in Rußland. Wenn wir allein die<lb/>
Maßnahmen der innerrussischen Politik während des Jahres 1908 an uns<lb/>
vorbeiziehn lassen, so stehn sie vor uns als eine ununterbrochne Kette von<lb/>
Demütigungen des polnischen Nationalgefühls sowie als Beschränkungen aller<lb/>
der Rechte und Freiheiten, die im Laufe des Jahres 1905 unfreiwillig ge¬<lb/>
geben worden waren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2170"> Die seinerzeit in Aussicht gestellte städtische Selbstverwaltung ist bisher<lb/>
dem Zartum Polen ebensowenig beschieden worden wie die Sjemstwo oder<lb/>
die Geschwornengerichte. Dagegen wurde mit der polnischen Privatschule nach<lb/>
Möglichkeit aufgeräumt. Schon im Jahre 1907 begann man die polnische<lb/>
Matica zu schließen, die bekanntlich den Zweck hatte, die polnischen Massen<lb/>
nationalpolnisch zu erziehen.*) Im Herbst 1908 wurde die Warschauer Universität<lb/>
geschlossen und der nationalen Aufklärung der polnischen Massen ein Riegel<lb/>
vorgeschoben. Zugleich wurden auch alle sonstigen polnischen Privatschulen ge¬<lb/>
schlossen, und einige tausend Kinder des einzigen Unterrichts beraubt. Die<lb/>
noch bestehenden Schulen müssen den Geschichts- und Geographieunterricht in<lb/>
russischer Sprache gewährleisten, und nur Mathematik, Naturkunde, Physik und<lb/>
neue Sprachen dürfen in polnischer Sprache unterrichtet werden. Diese immerhin<lb/>
nicht großen Konzessionen hat die Regierung überdies nur unter dem Drängen<lb/>
der dritten Duma bewilligt. Im November wurde die Bestimmung ergänzt<lb/>
durch die Forderung, der Geschichts- und Geographieunterricht dürfe nur von<lb/>
Personen orthodoxen Glaubens erteilt werden. Hierdurch sind zahlreiche polnische<lb/>
Lehrer, sogar solche, die schon dreißig Jahre um den staatlichen Schulen den<lb/>
Geschichtsunterricht geleitet hatten, auf die Straße geworfen worden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2171"> Auf der andern Seite begünstigt die Regierung alle zersetzenden Er¬<lb/>
scheinungen in der polnischen Gesellschaft wie die Sekte der Mariaviten. Sie<lb/>
hat ihr vollständige Freiheit der Religionsausübung gewährt zu einer Zeit,<lb/>
wo sich selbst die fünfzehn Millionen russischer Altgläubigen und ihnen verwandte<lb/>
Sekten solcher Freiheit noch nicht erfreuen konnten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2172"> Gegenwärtig wird an der Newa die von den Polen sogenannte vierte<lb/>
Teilung Polens vorbereitet, indem der lange gehegte und vielfach erwognc<lb/>
Plan erneut zur Beratung steht, die östlichen Kreise der Gouvernements Ljublin<lb/>
und Sjedletz an die benachbarten russischen Gouvernements anzuschließen &#x2014; sie<lb/>
also der auf dem Code Napoleon beruhenden bürgerlichen Gesetzgebung im<lb/>
Zartum zu entziehen.</p><lb/>
            <note xml:id="FID_56" place="foot"> *) Ich habe über die &#x201E;Matin" im März 1907 ausführlich an dieser Stelle berichtet<lb/>
Siehe Russischer Brief Ur, 5, Grenzboten I 1907, S. S4S bis SSS.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0540] Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat solange kein besondres Gewicht, so lange sie nicht eine rücksichtslose Unterwerfung ist. Professor Dr. Hoetzsch hat diesen Ausdruck jüngst (in Schmollers Jahr¬ buch als zu weit gehend) beanstandet — er läßt sich jedoch aus der amtlichen Literatur des Heiligen spröd erklären. Den Beweis für meine Auffassung liefert aber die Behandlung der Polen in Rußland. Wenn wir allein die Maßnahmen der innerrussischen Politik während des Jahres 1908 an uns vorbeiziehn lassen, so stehn sie vor uns als eine ununterbrochne Kette von Demütigungen des polnischen Nationalgefühls sowie als Beschränkungen aller der Rechte und Freiheiten, die im Laufe des Jahres 1905 unfreiwillig ge¬ geben worden waren. Die seinerzeit in Aussicht gestellte städtische Selbstverwaltung ist bisher dem Zartum Polen ebensowenig beschieden worden wie die Sjemstwo oder die Geschwornengerichte. Dagegen wurde mit der polnischen Privatschule nach Möglichkeit aufgeräumt. Schon im Jahre 1907 begann man die polnische Matica zu schließen, die bekanntlich den Zweck hatte, die polnischen Massen nationalpolnisch zu erziehen.*) Im Herbst 1908 wurde die Warschauer Universität geschlossen und der nationalen Aufklärung der polnischen Massen ein Riegel vorgeschoben. Zugleich wurden auch alle sonstigen polnischen Privatschulen ge¬ schlossen, und einige tausend Kinder des einzigen Unterrichts beraubt. Die noch bestehenden Schulen müssen den Geschichts- und Geographieunterricht in russischer Sprache gewährleisten, und nur Mathematik, Naturkunde, Physik und neue Sprachen dürfen in polnischer Sprache unterrichtet werden. Diese immerhin nicht großen Konzessionen hat die Regierung überdies nur unter dem Drängen der dritten Duma bewilligt. Im November wurde die Bestimmung ergänzt durch die Forderung, der Geschichts- und Geographieunterricht dürfe nur von Personen orthodoxen Glaubens erteilt werden. Hierdurch sind zahlreiche polnische Lehrer, sogar solche, die schon dreißig Jahre um den staatlichen Schulen den Geschichtsunterricht geleitet hatten, auf die Straße geworfen worden. Auf der andern Seite begünstigt die Regierung alle zersetzenden Er¬ scheinungen in der polnischen Gesellschaft wie die Sekte der Mariaviten. Sie hat ihr vollständige Freiheit der Religionsausübung gewährt zu einer Zeit, wo sich selbst die fünfzehn Millionen russischer Altgläubigen und ihnen verwandte Sekten solcher Freiheit noch nicht erfreuen konnten. Gegenwärtig wird an der Newa die von den Polen sogenannte vierte Teilung Polens vorbereitet, indem der lange gehegte und vielfach erwognc Plan erneut zur Beratung steht, die östlichen Kreise der Gouvernements Ljublin und Sjedletz an die benachbarten russischen Gouvernements anzuschließen — sie also der auf dem Code Napoleon beruhenden bürgerlichen Gesetzgebung im Zartum zu entziehen. *) Ich habe über die „Matin" im März 1907 ausführlich an dieser Stelle berichtet Siehe Russischer Brief Ur, 5, Grenzboten I 1907, S. S4S bis SSS.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/540
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/540>, abgerufen am 03.07.2024.