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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

Diplomatie nachgebend, seinen Drang an die östliche Küste aufgeben muß,
dann wird es aus Selbsterhaltungstrieb gezwungen sein. im.Norden und im
Westen ein Ausfalltor für seinen Kräftcüberschüß zu suchen. Die Partei der
russischen Politiker, die Englands Absichten richtig erkannt hat. trachtet um
danach, einen Stützpunkt zu finden, der geeignet wäre. England mit Hilfe
einer eben nicht großen Flotte im Zaume zu halten. Dieser Stützpunkt kann
aber dank den geographischen Verhältnissen nicht auf russischem Gebiet liegen.
Darum liegt er in Norwegen, im Bezirk Tromsö oder in Finnmarken. Dorthin
richtet der russische Generalstab tatsächlich schon lange seine Blicke. Als
Etappe auf diesem Wege zum Atlantischen Ozean liegt die finnische Frage.
Sie muß zunächst im altrussischen Sinne geregelt sein, wenn Nußland eme
ungefährdete Verbindung zum Atlantischen Ozean haben will. Hieraus er¬
klärt sich die russifikatorische Politik gegen die Schweden in Finnland, hieraus
erklären sich auch die wirtschaftlichen Maßnahmen am Eismeer, die Besiedlung
der eisfreien Murmanküste sowie deren Verbindung mit Se. Petersburg durch
einen Schienenweg. Ohne über den Stand der Frage eingehend unterrichtet
zu sein, kann ich mitteilen, daß die Vermessnngsarbeiten für die geplante Bahn
schon im Jahre 1903 begonnen wurden. während die Besiedlung der Murman¬
küste schon seit zwanzig Jahren energisch betrieben wird.

Nun gibt es aber in Rußland eine große Partei, die mit Englands
Stellung durchaus einverstanden ist. und die infolgedessen das Vordringen
Rußlands über Finnland nach Nordwesten ebenso mißbilligt wie die oft- und
zentralasiatischen Pläne. Für sie gibt es nur einen Weg. der Nußland an¬
geblich zum Heile gereichen könnte -- das ist der Bruch mit "Preußen",
das ist der enge Anschluß an die Westslawen in der äußern und in¬
tensive Kulturarbeit in der innern Politik. Die zunächst zu überwindende
Etappe sei aber die Aussöhnung der russischen Negierung mit den Polen,
wobei vorausgesetzt wird, daß eine Aussöhnung von Volk zu Volk schon statt¬
gefunden habe.*)

Damit kommen wir zu der allslawischen Frage, die hinter der großen
Weltpolitik Rußlands lauert. Denn die größtenteils demokratischen England¬
freunde in der russischen Gesellschaft sind die tatsächlichen Erben der slawja-
"°Philem Ideen, wenn sie auch den Zusammenhang mit den ältern Natio¬
nalisten entrüstet zurückweisen und für ihre Richtung den Namen ..Neoslawophllen"
geprägt haben - denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt em Wort zur
rechten Zeit sich ein. Aus dem Programm der alten Slawophilen ist vielleicht
nur die Feindschaft gegen die römische Kirche gewichen.

Die russische Regierung ihrerseits sieht in den Polen nicht hauptsächlich
slawische Brüder, sondern Träger des der russischen Staatskirche gefährlichen
Ultramontanismus. Darum legt sie auf die Aussöhnung mit den Polen



^AMührlich in dem in. Lause dieses Jahres erscheinenden zweiten Bande meiner
.'Zukunft Polens",
Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat

Diplomatie nachgebend, seinen Drang an die östliche Küste aufgeben muß,
dann wird es aus Selbsterhaltungstrieb gezwungen sein. im.Norden und im
Westen ein Ausfalltor für seinen Kräftcüberschüß zu suchen. Die Partei der
russischen Politiker, die Englands Absichten richtig erkannt hat. trachtet um
danach, einen Stützpunkt zu finden, der geeignet wäre. England mit Hilfe
einer eben nicht großen Flotte im Zaume zu halten. Dieser Stützpunkt kann
aber dank den geographischen Verhältnissen nicht auf russischem Gebiet liegen.
Darum liegt er in Norwegen, im Bezirk Tromsö oder in Finnmarken. Dorthin
richtet der russische Generalstab tatsächlich schon lange seine Blicke. Als
Etappe auf diesem Wege zum Atlantischen Ozean liegt die finnische Frage.
Sie muß zunächst im altrussischen Sinne geregelt sein, wenn Nußland eme
ungefährdete Verbindung zum Atlantischen Ozean haben will. Hieraus er¬
klärt sich die russifikatorische Politik gegen die Schweden in Finnland, hieraus
erklären sich auch die wirtschaftlichen Maßnahmen am Eismeer, die Besiedlung
der eisfreien Murmanküste sowie deren Verbindung mit Se. Petersburg durch
einen Schienenweg. Ohne über den Stand der Frage eingehend unterrichtet
zu sein, kann ich mitteilen, daß die Vermessnngsarbeiten für die geplante Bahn
schon im Jahre 1903 begonnen wurden. während die Besiedlung der Murman¬
küste schon seit zwanzig Jahren energisch betrieben wird.

Nun gibt es aber in Rußland eine große Partei, die mit Englands
Stellung durchaus einverstanden ist. und die infolgedessen das Vordringen
Rußlands über Finnland nach Nordwesten ebenso mißbilligt wie die oft- und
zentralasiatischen Pläne. Für sie gibt es nur einen Weg. der Nußland an¬
geblich zum Heile gereichen könnte — das ist der Bruch mit „Preußen",
das ist der enge Anschluß an die Westslawen in der äußern und in¬
tensive Kulturarbeit in der innern Politik. Die zunächst zu überwindende
Etappe sei aber die Aussöhnung der russischen Negierung mit den Polen,
wobei vorausgesetzt wird, daß eine Aussöhnung von Volk zu Volk schon statt¬
gefunden habe.*)

Damit kommen wir zu der allslawischen Frage, die hinter der großen
Weltpolitik Rußlands lauert. Denn die größtenteils demokratischen England¬
freunde in der russischen Gesellschaft sind die tatsächlichen Erben der slawja-
"°Philem Ideen, wenn sie auch den Zusammenhang mit den ältern Natio¬
nalisten entrüstet zurückweisen und für ihre Richtung den Namen ..Neoslawophllen"
geprägt haben - denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt em Wort zur
rechten Zeit sich ein. Aus dem Programm der alten Slawophilen ist vielleicht
nur die Feindschaft gegen die römische Kirche gewichen.

Die russische Regierung ihrerseits sieht in den Polen nicht hauptsächlich
slawische Brüder, sondern Träger des der russischen Staatskirche gefährlichen
Ultramontanismus. Darum legt sie auf die Aussöhnung mit den Polen



^AMührlich in dem in. Lause dieses Jahres erscheinenden zweiten Bande meiner
.'Zukunft Polens",
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[0539] Das allslawische Problem und der deutsche Nationalstaat Diplomatie nachgebend, seinen Drang an die östliche Küste aufgeben muß, dann wird es aus Selbsterhaltungstrieb gezwungen sein. im.Norden und im Westen ein Ausfalltor für seinen Kräftcüberschüß zu suchen. Die Partei der russischen Politiker, die Englands Absichten richtig erkannt hat. trachtet um danach, einen Stützpunkt zu finden, der geeignet wäre. England mit Hilfe einer eben nicht großen Flotte im Zaume zu halten. Dieser Stützpunkt kann aber dank den geographischen Verhältnissen nicht auf russischem Gebiet liegen. Darum liegt er in Norwegen, im Bezirk Tromsö oder in Finnmarken. Dorthin richtet der russische Generalstab tatsächlich schon lange seine Blicke. Als Etappe auf diesem Wege zum Atlantischen Ozean liegt die finnische Frage. Sie muß zunächst im altrussischen Sinne geregelt sein, wenn Nußland eme ungefährdete Verbindung zum Atlantischen Ozean haben will. Hieraus er¬ klärt sich die russifikatorische Politik gegen die Schweden in Finnland, hieraus erklären sich auch die wirtschaftlichen Maßnahmen am Eismeer, die Besiedlung der eisfreien Murmanküste sowie deren Verbindung mit Se. Petersburg durch einen Schienenweg. Ohne über den Stand der Frage eingehend unterrichtet zu sein, kann ich mitteilen, daß die Vermessnngsarbeiten für die geplante Bahn schon im Jahre 1903 begonnen wurden. während die Besiedlung der Murman¬ küste schon seit zwanzig Jahren energisch betrieben wird. Nun gibt es aber in Rußland eine große Partei, die mit Englands Stellung durchaus einverstanden ist. und die infolgedessen das Vordringen Rußlands über Finnland nach Nordwesten ebenso mißbilligt wie die oft- und zentralasiatischen Pläne. Für sie gibt es nur einen Weg. der Nußland an¬ geblich zum Heile gereichen könnte — das ist der Bruch mit „Preußen", das ist der enge Anschluß an die Westslawen in der äußern und in¬ tensive Kulturarbeit in der innern Politik. Die zunächst zu überwindende Etappe sei aber die Aussöhnung der russischen Negierung mit den Polen, wobei vorausgesetzt wird, daß eine Aussöhnung von Volk zu Volk schon statt¬ gefunden habe.*) Damit kommen wir zu der allslawischen Frage, die hinter der großen Weltpolitik Rußlands lauert. Denn die größtenteils demokratischen England¬ freunde in der russischen Gesellschaft sind die tatsächlichen Erben der slawja- "°Philem Ideen, wenn sie auch den Zusammenhang mit den ältern Natio¬ nalisten entrüstet zurückweisen und für ihre Richtung den Namen ..Neoslawophllen" geprägt haben - denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt em Wort zur rechten Zeit sich ein. Aus dem Programm der alten Slawophilen ist vielleicht nur die Feindschaft gegen die römische Kirche gewichen. Die russische Regierung ihrerseits sieht in den Polen nicht hauptsächlich slawische Brüder, sondern Träger des der russischen Staatskirche gefährlichen Ultramontanismus. Darum legt sie auf die Aussöhnung mit den Polen ^AMührlich in dem in. Lause dieses Jahres erscheinenden zweiten Bande meiner .'Zukunft Polens",

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/539>, abgerufen am 12.12.2024.