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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Der Varnassus in Neusiedel

schweizer Grenzdorfes ganz offen und frei ihre Vorbereitungen zu dem gefähr¬
lichen Marsch über die italienische Grenze traf! Ich habe mit den Leuten an
demselben Tische gesessen und habe mit ihnen über die Einzelheiten ihres
sträflichen Handwerks gesprochen. Ohne die geringste Zurückhaltung erzählten
sie mir, welche Mengen und Gattungen von Waren sie bei sich führten,
welche Kriegslisten sie anwandten, um die italienischen Zollwächter an der Nase
herumzuführen, für welchen geringen Lohn sie eine um die andre Nacht ihr
Leben aufs Spiel setzten. Nur den Namen ihres Patrone, ihres Brodherrn,
des dunkeln Ehrenmannes, der drüben in Italien im trocknen sitzt und sich
vom Angstschweiß dieser armen Teufel mästet, den nannten sie nicht, denn
so verlangt es, wie der Anführer mir mit Stolz sagte, die Schmugglerehre!
Mit diesem blühenden Erwerbszweig hat es ein Ende, sobald der Schienen¬
weg das Veltlin mit Tirol verbindet. Dann wird es lebendig in den jetzt
so stillen Gebirgstälern, es bilden sich neue Ansiedlungen, der Verkehr hebt
sich, kurzum es fehlen die Bedingungen für die Ausübung des stillen, heim¬
lichen Handwerks.

Doch die Adda wird noch manchen Tropfen Wassers in den Comer See
hinuntertreiben, ehe der erste Spatenstich an der Bahn von Bormio nach
Mals getan wird. Die Schwärmer für unentweihte Gebirgsromantik, die
Jäger und die Schmuggler brauchen eine Störung ihrer Interessen auf Jahre
hinaus noch nicht zu fürchten. Fragt man in Bormio, ob und wann wohl
ein Schienenweg nach Tirol gebaut werden wird, so erhält man die heitere,
zu nichts verpflichtende Antwort: Li^mors, olu lo sa!




Der parnassus in Neusiedel
von Fritz Anders

"> n Neusiedel, einer mittlern Stadt Thüringens, war großes Begräbnis.
Herr Alfred Rumpelmann, einst in Firma Rumpelmann und schweiget,
der reichste Mann der Stadt, war gestorben und wurde mit allem
Pompe, den Neusiedel aufzubringen hatte, auf dem Stndtfriedhof be¬
grabe". Von dem Turme des fernen Domes hörte man über alle
! andern Glocken hinweg die Stimme der großen Glocke, und von
der Spitze des Trcmerzuges, der sich schon weit draußen vor der Stadt befand,
vernahm man einzelne knarrige Töne des Trauermarsches, den die "Färschtlichen",
womit die Jxhäuser Kapelle gemeint war, spielte. Es war ein endloser Zug. Vorn
ein schwankender, blumiger Aufbau, über dem ein paar Fächerpalmen-Blätter schmerzlich
zuckende Bewegungen ausführten, dann eine lange Reihe schwarzer Zylinder, zwischen
denen sich einzelne Helme ausrechnen wie Schwefelkieskristalle in einer schwarzen
Metallstufe, und dann an Hochzeits-, Trauer- und andern Kutschen, was die Stadt
aufzubringen hatte.

Man war schon eine halbe Stunde unterwegs, und die Unterhaltung innerhalb
des Zuges war in bestem Gange. Vor uns schreiten zwei Herrn, die der bessern
Gesellschaft angehörten, aber die bessern Jahrzehnte ihres Lebens hinter sich hatten.


Der Varnassus in Neusiedel

schweizer Grenzdorfes ganz offen und frei ihre Vorbereitungen zu dem gefähr¬
lichen Marsch über die italienische Grenze traf! Ich habe mit den Leuten an
demselben Tische gesessen und habe mit ihnen über die Einzelheiten ihres
sträflichen Handwerks gesprochen. Ohne die geringste Zurückhaltung erzählten
sie mir, welche Mengen und Gattungen von Waren sie bei sich führten,
welche Kriegslisten sie anwandten, um die italienischen Zollwächter an der Nase
herumzuführen, für welchen geringen Lohn sie eine um die andre Nacht ihr
Leben aufs Spiel setzten. Nur den Namen ihres Patrone, ihres Brodherrn,
des dunkeln Ehrenmannes, der drüben in Italien im trocknen sitzt und sich
vom Angstschweiß dieser armen Teufel mästet, den nannten sie nicht, denn
so verlangt es, wie der Anführer mir mit Stolz sagte, die Schmugglerehre!
Mit diesem blühenden Erwerbszweig hat es ein Ende, sobald der Schienen¬
weg das Veltlin mit Tirol verbindet. Dann wird es lebendig in den jetzt
so stillen Gebirgstälern, es bilden sich neue Ansiedlungen, der Verkehr hebt
sich, kurzum es fehlen die Bedingungen für die Ausübung des stillen, heim¬
lichen Handwerks.

Doch die Adda wird noch manchen Tropfen Wassers in den Comer See
hinuntertreiben, ehe der erste Spatenstich an der Bahn von Bormio nach
Mals getan wird. Die Schwärmer für unentweihte Gebirgsromantik, die
Jäger und die Schmuggler brauchen eine Störung ihrer Interessen auf Jahre
hinaus noch nicht zu fürchten. Fragt man in Bormio, ob und wann wohl
ein Schienenweg nach Tirol gebaut werden wird, so erhält man die heitere,
zu nichts verpflichtende Antwort: Li^mors, olu lo sa!




Der parnassus in Neusiedel
von Fritz Anders

»> n Neusiedel, einer mittlern Stadt Thüringens, war großes Begräbnis.
Herr Alfred Rumpelmann, einst in Firma Rumpelmann und schweiget,
der reichste Mann der Stadt, war gestorben und wurde mit allem
Pompe, den Neusiedel aufzubringen hatte, auf dem Stndtfriedhof be¬
grabe». Von dem Turme des fernen Domes hörte man über alle
! andern Glocken hinweg die Stimme der großen Glocke, und von
der Spitze des Trcmerzuges, der sich schon weit draußen vor der Stadt befand,
vernahm man einzelne knarrige Töne des Trauermarsches, den die „Färschtlichen",
womit die Jxhäuser Kapelle gemeint war, spielte. Es war ein endloser Zug. Vorn
ein schwankender, blumiger Aufbau, über dem ein paar Fächerpalmen-Blätter schmerzlich
zuckende Bewegungen ausführten, dann eine lange Reihe schwarzer Zylinder, zwischen
denen sich einzelne Helme ausrechnen wie Schwefelkieskristalle in einer schwarzen
Metallstufe, und dann an Hochzeits-, Trauer- und andern Kutschen, was die Stadt
aufzubringen hatte.

Man war schon eine halbe Stunde unterwegs, und die Unterhaltung innerhalb
des Zuges war in bestem Gange. Vor uns schreiten zwei Herrn, die der bessern
Gesellschaft angehörten, aber die bessern Jahrzehnte ihres Lebens hinter sich hatten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/53>, abgerufen am 12.12.2024.