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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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ausgeplünderten Völker. Die Karikatur des großen und großherzigen Staats¬
manns, die bis heute noch vielen das wahrheitsgetreue Bild ersetze, sei sehr
geschickt im Hause des Antonianers Asinius Pollio ausgearbeitet worden.

Ciceros Einfluß nun habe auf jeder der drei Stadien, in denen sich unsre,
die christliche. Kultur entfaltet hat, bestimmend eingewirkt. Im ersten, dem
religiös-ethischen Stadium sei der Glaube zur Herrschaft gelangt, "der einer¬
seits jedem Menschenleben, wie verächtlich und ärmlich auch seine äußere Er¬
scheinungsform sein mag, einen ewigen und unvergänglichen Wert beimißt,
andrerseits aber seine Bekenner nicht zu tatenloser Ruhe und jenseitssüchtigem
Quietismus leitet, sondern, seinem Wahlspruch: via et Isbora getreu, zu nütz¬
licher Kulturarbeit". Im zweiten Stadium, dem der Renaissance, herrscht der
Intellekt und erringt sich die Persönlichkeit das Recht, "selbständig die ihr
eingebornen Keime geistiger Gesittung zu entwickeln und durch individuelle
Verarbeitung des allgemeinen Knlturbesitzes den Fortschritt des menschlichen
Gedankens zu fördern". In der Französischen Revolution endlich setzt sich das
dritte der drei Güter durch, die unsre Kultur von der aller Heiden und Mo¬
hammedaner unterscheidet: das politische Ideal, "demzufolge jeder innerhalb
der ihm vom Gesetze aufgerichteten Schranken in vollem Maße seiner persön¬
lichen Freiheit genießt". Im ersten Stadium nun, weist Ziclinski nach, habe
Cicero der europäischen Menschheit nichts geringeres gespendet als die Ethik.
Formell ist das richtig. Die antike Ethik ist so, wie sie Cicero formuliert hat,
von Lactantius und Ambrosius übernommen und für den christlichen Unter¬
richt zurechtgemacht worden. Bis auf den heutigen Tag werden im katho¬
lischen Katechismus die vier aristotelisch-ciceronianischen Tugenden: Klugheit
ibel Cicero heißt sie Weisheit, aber der Weisheit wird im Katechismus als
einer Gabe des Heiligen Geistes ein höherer Rang angewiesen). Mäßigkeit oder
Müßigung. Gerechtigkeit und Stärke oder Tapferkeit als "Kardinaltugenden"
empfohlen. Inhaltlich aber haben die Kirchenväter aus Cicero doch nichts er¬
fahren, was sie nicht auch aus der Bibel hätten schöpfen können. Was sie
dem Heiden entnahmen, das war die systematische Anordnung und die rationelle
Begründung sowie die Anleitung zum schulmäßigen Vortrage. Zielinski stellt
die Sache so dar. als hätten die Kirchenväter durch die Aufnahme der cicero¬
nianischen Ethik ihr Christentum verleugnet, bis dann Augustinus die Moral
wieder durch die Religion verdrängt habe. Er stützt sich auf den Ausspruch
Tertullians: "Hütet euch, ihr, die ihr ein platonisches, ein stoisches, ein dialek¬
tisches Christentum ausgeklügelt habt! Wir brauchen unsre Gedanken nicht
anzustrengen. seit wir Christus haben; wenn wir nur glauben, so tut uns
weiter nichts not." Ferner auf das Erlebnis, das Hieronymus in einem
seiner Briefe erzählt. In einer schweren Krankheit träumte ihm. er sei vor
den Richterstuhl Gottes geschleppt worden. Man habe ihn gefragt, was er
sei; Christianer, habe er geantwortet; nein: Ciceronianer, habe ihm die Stimme
zugedonnert, und zugleich habe er die Streiche gefühlt, mit denen er für sein


ausgeplünderten Völker. Die Karikatur des großen und großherzigen Staats¬
manns, die bis heute noch vielen das wahrheitsgetreue Bild ersetze, sei sehr
geschickt im Hause des Antonianers Asinius Pollio ausgearbeitet worden.

Ciceros Einfluß nun habe auf jeder der drei Stadien, in denen sich unsre,
die christliche. Kultur entfaltet hat, bestimmend eingewirkt. Im ersten, dem
religiös-ethischen Stadium sei der Glaube zur Herrschaft gelangt, „der einer¬
seits jedem Menschenleben, wie verächtlich und ärmlich auch seine äußere Er¬
scheinungsform sein mag, einen ewigen und unvergänglichen Wert beimißt,
andrerseits aber seine Bekenner nicht zu tatenloser Ruhe und jenseitssüchtigem
Quietismus leitet, sondern, seinem Wahlspruch: via et Isbora getreu, zu nütz¬
licher Kulturarbeit". Im zweiten Stadium, dem der Renaissance, herrscht der
Intellekt und erringt sich die Persönlichkeit das Recht, „selbständig die ihr
eingebornen Keime geistiger Gesittung zu entwickeln und durch individuelle
Verarbeitung des allgemeinen Knlturbesitzes den Fortschritt des menschlichen
Gedankens zu fördern". In der Französischen Revolution endlich setzt sich das
dritte der drei Güter durch, die unsre Kultur von der aller Heiden und Mo¬
hammedaner unterscheidet: das politische Ideal, „demzufolge jeder innerhalb
der ihm vom Gesetze aufgerichteten Schranken in vollem Maße seiner persön¬
lichen Freiheit genießt". Im ersten Stadium nun, weist Ziclinski nach, habe
Cicero der europäischen Menschheit nichts geringeres gespendet als die Ethik.
Formell ist das richtig. Die antike Ethik ist so, wie sie Cicero formuliert hat,
von Lactantius und Ambrosius übernommen und für den christlichen Unter¬
richt zurechtgemacht worden. Bis auf den heutigen Tag werden im katho¬
lischen Katechismus die vier aristotelisch-ciceronianischen Tugenden: Klugheit
ibel Cicero heißt sie Weisheit, aber der Weisheit wird im Katechismus als
einer Gabe des Heiligen Geistes ein höherer Rang angewiesen). Mäßigkeit oder
Müßigung. Gerechtigkeit und Stärke oder Tapferkeit als „Kardinaltugenden"
empfohlen. Inhaltlich aber haben die Kirchenväter aus Cicero doch nichts er¬
fahren, was sie nicht auch aus der Bibel hätten schöpfen können. Was sie
dem Heiden entnahmen, das war die systematische Anordnung und die rationelle
Begründung sowie die Anleitung zum schulmäßigen Vortrage. Zielinski stellt
die Sache so dar. als hätten die Kirchenväter durch die Aufnahme der cicero¬
nianischen Ethik ihr Christentum verleugnet, bis dann Augustinus die Moral
wieder durch die Religion verdrängt habe. Er stützt sich auf den Ausspruch
Tertullians: „Hütet euch, ihr, die ihr ein platonisches, ein stoisches, ein dialek¬
tisches Christentum ausgeklügelt habt! Wir brauchen unsre Gedanken nicht
anzustrengen. seit wir Christus haben; wenn wir nur glauben, so tut uns
weiter nichts not." Ferner auf das Erlebnis, das Hieronymus in einem
seiner Briefe erzählt. In einer schweren Krankheit träumte ihm. er sei vor
den Richterstuhl Gottes geschleppt worden. Man habe ihn gefragt, was er
sei; Christianer, habe er geantwortet; nein: Ciceronianer, habe ihm die Stimme
zugedonnert, und zugleich habe er die Streiche gefühlt, mit denen er für sein


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[0449] ausgeplünderten Völker. Die Karikatur des großen und großherzigen Staats¬ manns, die bis heute noch vielen das wahrheitsgetreue Bild ersetze, sei sehr geschickt im Hause des Antonianers Asinius Pollio ausgearbeitet worden. Ciceros Einfluß nun habe auf jeder der drei Stadien, in denen sich unsre, die christliche. Kultur entfaltet hat, bestimmend eingewirkt. Im ersten, dem religiös-ethischen Stadium sei der Glaube zur Herrschaft gelangt, „der einer¬ seits jedem Menschenleben, wie verächtlich und ärmlich auch seine äußere Er¬ scheinungsform sein mag, einen ewigen und unvergänglichen Wert beimißt, andrerseits aber seine Bekenner nicht zu tatenloser Ruhe und jenseitssüchtigem Quietismus leitet, sondern, seinem Wahlspruch: via et Isbora getreu, zu nütz¬ licher Kulturarbeit". Im zweiten Stadium, dem der Renaissance, herrscht der Intellekt und erringt sich die Persönlichkeit das Recht, „selbständig die ihr eingebornen Keime geistiger Gesittung zu entwickeln und durch individuelle Verarbeitung des allgemeinen Knlturbesitzes den Fortschritt des menschlichen Gedankens zu fördern". In der Französischen Revolution endlich setzt sich das dritte der drei Güter durch, die unsre Kultur von der aller Heiden und Mo¬ hammedaner unterscheidet: das politische Ideal, „demzufolge jeder innerhalb der ihm vom Gesetze aufgerichteten Schranken in vollem Maße seiner persön¬ lichen Freiheit genießt". Im ersten Stadium nun, weist Ziclinski nach, habe Cicero der europäischen Menschheit nichts geringeres gespendet als die Ethik. Formell ist das richtig. Die antike Ethik ist so, wie sie Cicero formuliert hat, von Lactantius und Ambrosius übernommen und für den christlichen Unter¬ richt zurechtgemacht worden. Bis auf den heutigen Tag werden im katho¬ lischen Katechismus die vier aristotelisch-ciceronianischen Tugenden: Klugheit ibel Cicero heißt sie Weisheit, aber der Weisheit wird im Katechismus als einer Gabe des Heiligen Geistes ein höherer Rang angewiesen). Mäßigkeit oder Müßigung. Gerechtigkeit und Stärke oder Tapferkeit als „Kardinaltugenden" empfohlen. Inhaltlich aber haben die Kirchenväter aus Cicero doch nichts er¬ fahren, was sie nicht auch aus der Bibel hätten schöpfen können. Was sie dem Heiden entnahmen, das war die systematische Anordnung und die rationelle Begründung sowie die Anleitung zum schulmäßigen Vortrage. Zielinski stellt die Sache so dar. als hätten die Kirchenväter durch die Aufnahme der cicero¬ nianischen Ethik ihr Christentum verleugnet, bis dann Augustinus die Moral wieder durch die Religion verdrängt habe. Er stützt sich auf den Ausspruch Tertullians: „Hütet euch, ihr, die ihr ein platonisches, ein stoisches, ein dialek¬ tisches Christentum ausgeklügelt habt! Wir brauchen unsre Gedanken nicht anzustrengen. seit wir Christus haben; wenn wir nur glauben, so tut uns weiter nichts not." Ferner auf das Erlebnis, das Hieronymus in einem seiner Briefe erzählt. In einer schweren Krankheit träumte ihm. er sei vor den Richterstuhl Gottes geschleppt worden. Man habe ihn gefragt, was er sei; Christianer, habe er geantwortet; nein: Ciceronianer, habe ihm die Stimme zugedonnert, und zugleich habe er die Streiche gefühlt, mit denen er für sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/449>, abgerufen am 23.07.2024.