Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Cicero zu betrachten, der man vielleicht alle mögliche Verderbnis, die verschiedensten Laster Zielinski nun stellt diese Bedeutung Ciceros in eine ganz neue Beleuchtung, Cicero zu betrachten, der man vielleicht alle mögliche Verderbnis, die verschiedensten Laster Zielinski nun stellt diese Bedeutung Ciceros in eine ganz neue Beleuchtung, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312799"/> <fw type="header" place="top"> Cicero</fw><lb/> <p xml:id="ID_1724" prev="#ID_1723"> zu betrachten, der man vielleicht alle mögliche Verderbnis, die verschiedensten Laster<lb/> und Mängel nachsagen kann, der aber der Geschichtschreiber, selbst wenn er den<lb/> Stab über sie bricht, die Anerkennung nicht wird versagen können, daß sie die<lb/> Ccisaren überdauert hat, da sie von Cicero an bis auf unsre Zeit zweitausend Jahre<lb/> lang ununterbrochen die Geschicke Europas gelenkt«?) hat. Cicero war der erste<lb/> unter jenen Männern der Feder, die in der Geschichte unsrer Zivilisation bald als<lb/> Stützen der bestehenden Staatsformen, bald als Vorkämpfer der Revolution eine<lb/> Rolle spielen. Wir sehen sie in der heidnischen Zeit als Rhetoren, Juristen,<lb/> Polyhistoren am Werk und hernach als Apologeten des Christentums szuncichst doch,<lb/> von Paulus an, als seine Begründer und Verbreiters und Kirchenväter; wir begegnen<lb/> ihnen im Mittelalter als Mönchen, als Vertretern der Rechts- und der Gottes-<lb/> gelcchrtheit, als Doktoren und Lektoren und in der Renaissance als Humanisten; im<lb/> achtzehnten Jahrhundert kannte man sie in Frankreich unter dem Namen Enzyklopädisten,<lb/> und heute nennen wir sie Advokaten, Journalisten, Publizisten und Professoren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1725" next="#ID_1726"> Zielinski nun stellt diese Bedeutung Ciceros in eine ganz neue Beleuchtung,<lb/> durch die sie ins Riesenhafte wächst: nicht bloß der erste der Intellektuellen,<lb/> der Eröffner einer neuen Weltära, ist er gewesen, sondern er hat durch seine<lb/> Schriften und durch seine Persönlichkeit diese neue, mit den Inhabern der<lb/> materiellen Machtmittel um die Herrschaft ringende Klasse inspiriert, angeregt,<lb/> geleitet bis in die Französische Revolution hinein; er tritt als beinahe eben¬<lb/> bürtiger neben den Apostel Paulus und die Evangelisten. Dieser Nachweis<lb/> wirkt im ersten Augenblick, zusammen mit der Erinnerung an den Cicero der<lb/> Schulpedanten, einigermaßen komisch, aber wenn man dem gelehrten und für<lb/> seinen Helden begeisterten Darsteller bis zu Ende folgt, kann man ihm nicht ganz<lb/> unrecht geben. Wir verzichten auf die Wiedergabe der Charakteristik Ciceros<lb/> und seiner mit der politischen verflochtenen literarischen Tätigkeit; in beiden<lb/> Beziehungen stimmt Zielinski mit Ferrero überein, den er selbstverständlich noch<lb/> nicht gelesen haben kounte. Erwähnt sei nur, daß er deu Periodenstil recht¬<lb/> fertigt, als dein Geiste des Hochgebildeten, seinen Reichtum an Vorstellungen<lb/> und Gedanken planvoll verknüpfenden angemessen, gegenüber dem ungebildeten<lb/> „Simplisten", der natürlich nicht anders könne, als seine wenigen Gedanken<lb/> ungegliedert in einer Reihe aufmarschieren lassen, der die Wahrheit einfach<lb/> wolle, damit er sie fassen, die Rede „einplanig", damit er ihr folgen könne.<lb/> Was Ciceros Stellung in der Politik und damit seine Lebensaufgabe bestimmte,<lb/> das sei der Umstand gewesen, daß er in den Grundsätzen des Scipionenkreises<lb/> aufgewachsen sei, und daß er die römische Verfassung, wie sie sich im Ideal¬<lb/> bilds jenes Kreises edler Seelen darstellte, über alles liebgewonnen habe. „Er<lb/> liebte an ihr: die harmonische Verbindung monarchischer, aristokratischer und<lb/> demokratischer Elemente, durchdrungen vom Geiste hellenischer Gesittung, jeden<lb/> Fortschritts fähig, soweit dieser zur Aufnahme und Entwicklung fördernder, nicht<lb/> zerstörender Ideen führte." Und er arbeitete praktisch an der Verwirklichung<lb/> seines Ideals, indem er sich von Anfang bis zu Ende der Opfer des Unrechts<lb/> annahm: zuerst einzelner zivilrechtlich geschädigter oder von der den Gewalt¬<lb/> habern dienstbare» Strafjusiiz bedrohten Personen, dann der unterjochten und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0448]
Cicero
zu betrachten, der man vielleicht alle mögliche Verderbnis, die verschiedensten Laster
und Mängel nachsagen kann, der aber der Geschichtschreiber, selbst wenn er den
Stab über sie bricht, die Anerkennung nicht wird versagen können, daß sie die
Ccisaren überdauert hat, da sie von Cicero an bis auf unsre Zeit zweitausend Jahre
lang ununterbrochen die Geschicke Europas gelenkt«?) hat. Cicero war der erste
unter jenen Männern der Feder, die in der Geschichte unsrer Zivilisation bald als
Stützen der bestehenden Staatsformen, bald als Vorkämpfer der Revolution eine
Rolle spielen. Wir sehen sie in der heidnischen Zeit als Rhetoren, Juristen,
Polyhistoren am Werk und hernach als Apologeten des Christentums szuncichst doch,
von Paulus an, als seine Begründer und Verbreiters und Kirchenväter; wir begegnen
ihnen im Mittelalter als Mönchen, als Vertretern der Rechts- und der Gottes-
gelcchrtheit, als Doktoren und Lektoren und in der Renaissance als Humanisten; im
achtzehnten Jahrhundert kannte man sie in Frankreich unter dem Namen Enzyklopädisten,
und heute nennen wir sie Advokaten, Journalisten, Publizisten und Professoren.
Zielinski nun stellt diese Bedeutung Ciceros in eine ganz neue Beleuchtung,
durch die sie ins Riesenhafte wächst: nicht bloß der erste der Intellektuellen,
der Eröffner einer neuen Weltära, ist er gewesen, sondern er hat durch seine
Schriften und durch seine Persönlichkeit diese neue, mit den Inhabern der
materiellen Machtmittel um die Herrschaft ringende Klasse inspiriert, angeregt,
geleitet bis in die Französische Revolution hinein; er tritt als beinahe eben¬
bürtiger neben den Apostel Paulus und die Evangelisten. Dieser Nachweis
wirkt im ersten Augenblick, zusammen mit der Erinnerung an den Cicero der
Schulpedanten, einigermaßen komisch, aber wenn man dem gelehrten und für
seinen Helden begeisterten Darsteller bis zu Ende folgt, kann man ihm nicht ganz
unrecht geben. Wir verzichten auf die Wiedergabe der Charakteristik Ciceros
und seiner mit der politischen verflochtenen literarischen Tätigkeit; in beiden
Beziehungen stimmt Zielinski mit Ferrero überein, den er selbstverständlich noch
nicht gelesen haben kounte. Erwähnt sei nur, daß er deu Periodenstil recht¬
fertigt, als dein Geiste des Hochgebildeten, seinen Reichtum an Vorstellungen
und Gedanken planvoll verknüpfenden angemessen, gegenüber dem ungebildeten
„Simplisten", der natürlich nicht anders könne, als seine wenigen Gedanken
ungegliedert in einer Reihe aufmarschieren lassen, der die Wahrheit einfach
wolle, damit er sie fassen, die Rede „einplanig", damit er ihr folgen könne.
Was Ciceros Stellung in der Politik und damit seine Lebensaufgabe bestimmte,
das sei der Umstand gewesen, daß er in den Grundsätzen des Scipionenkreises
aufgewachsen sei, und daß er die römische Verfassung, wie sie sich im Ideal¬
bilds jenes Kreises edler Seelen darstellte, über alles liebgewonnen habe. „Er
liebte an ihr: die harmonische Verbindung monarchischer, aristokratischer und
demokratischer Elemente, durchdrungen vom Geiste hellenischer Gesittung, jeden
Fortschritts fähig, soweit dieser zur Aufnahme und Entwicklung fördernder, nicht
zerstörender Ideen führte." Und er arbeitete praktisch an der Verwirklichung
seines Ideals, indem er sich von Anfang bis zu Ende der Opfer des Unrechts
annahm: zuerst einzelner zivilrechtlich geschädigter oder von der den Gewalt¬
habern dienstbare» Strafjusiiz bedrohten Personen, dann der unterjochten und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |