Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Lili Lesebuch der Sozialstcitistik Bier enthält doch wenig Alkohol, und bei der heute in den höhern Ständen Die Kriminalstatistik ist zu vielen Dingen nütze: man kann aus ihr Lili Lesebuch der Sozialstcitistik Bier enthält doch wenig Alkohol, und bei der heute in den höhern Ständen Die Kriminalstatistik ist zu vielen Dingen nütze: man kann aus ihr <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0354" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312705"/> <fw type="header" place="top"> Lili Lesebuch der Sozialstcitistik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1349" prev="#ID_1348"> Bier enthält doch wenig Alkohol, und bei der heute in den höhern Ständen<lb/> herrschenden Mäßigkeit sind Leute, die solche Quantitäten Wein vertilgen wie<lb/> der Junker Hans von Schweinichen und sein fürstlicher Gönner, sehr selten.<lb/> Über die bekannten Experimente, auf die unsre Mäßigkeitsapostel die Forderung<lb/> völliger Abstinenz für alle gründen, urteilt er: „Wenn Auswendiglernen,<lb/> Addieren, Assoziationen auf Neizworte im Experiment erschwert erscheinen,<lb/> und wenn sogar überhaupt jede intensive geistige wie körperliche Tätigkeit<lb/> unter dem Einflüsse von Alkohol weniger gut vonstatten geht swobei noch zu<lb/> beachten ist, daß der Vernünftige seinen Schoppen erst trinkt, nachdem er sein<lb/> Tagewerk beendigt hat), so ist damit noch nicht bewiesen, daß jede Art<lb/> psychischen Geschehens in gleicher Weise ungünstig beeinflußt wird. Allein<lb/> selbst wenn dies der Fall sein sollte, so bliebe außerdem noch festzustellen,<lb/> daß die durch mäßigen Alkoholgenuß hervorgerufne Dauerschädigung tatsächlich<lb/> so groß ist, daß die Forderung der Totalabstinenz auch für alle die berechtigt<lb/> wäre, die jetzt im gelegentlichen oder regelmäßigen Genuß Erholung und<lb/> subjektive Anregung finden. Und schließlich steht den Ergebnissen der Ex-<lb/> perimentalnntersuchungen doch auch noch eine Erfahrung gegenüber, die nicht<lb/> übersehen werden darf: daß nämlich die große Mehrzahl auch solcher Menschen,<lb/> die auf den verschiedensten Gebieten mehr als das Durchschnittliche geleistet<lb/> haben, im Sinne des Laboratoriumversuchs als chronische Alkoholiker anzu¬<lb/> sprechen wären IZu ihnen gehören bekanntlich auch Luther, Goethe und Bis-<lb/> marckj. Wie schwer sich die Ergebnisse solcher Versuche praktisch verwenden<lb/> lassen, erhellt übrigens aus nichts so deutlich als aus dem ebenfalls von<lb/> der Heidelberger Schule erbrachten Nachweis, daß auch ein zweistündiger<lb/> Spaziergang ^überhaupt jede körperliche Anstrengung, wie jedermann an sich<lb/> selbst ohne psychometrische Experimente erfährtj die experimenteller Prüfung<lb/> zugänglichen Leistungen nicht bessert, sondern verschlechtert. Trotzdem wird<lb/> niemand grundsätzlich das Spazierengehn >oder das Schwimmen, Rudern,<lb/> Turnen, Ballspielen und die von Hirnarbeitern zur Erholung vorgenommnen<lb/> Gartenarbeitenj als schädlich verbieten wollen." Wobei allerdings daran er¬<lb/> innert werden muß, daß Spazierengehn, Sport und Gartenarbeit gesündere<lb/> Erholungen sind als Höcker in der Kneipe, mit welchem Ausdruck jedoch ein<lb/> wöchentliches Plauderstündchen beim Glase natürlich nicht bezeichnet zu werden<lb/> verdient.</p><lb/> <p xml:id="ID_1350" next="#ID_1351"> Die Kriminalstatistik ist zu vielen Dingen nütze: man kann aus ihr<lb/> Schlüsse ziehen auf Charaktereigenschaften ganzer Völker und Stände, auf<lb/> soziale und politische Zustände, auf die Wirkung von Gesetzen und Volkssitten<lb/> und kann damit zu praktischen Verbesserungen gelangen, zum Beispiel mit der<lb/> Gewohnheit der Lohnzahlung am Sonnabend brechen — nur zu einem ist sie<lb/> nicht zu gebrauchen, zum Maßstabe der Volkssittlichkeit, auch nur der<lb/> negativen. Hätten wir, schreibt Schnapper, Kriminalstatistiken aus dem<lb/> sechzehnten und dem siebzehnten Jahrhundert, so würden wir wahrscheinlich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0354]
Lili Lesebuch der Sozialstcitistik
Bier enthält doch wenig Alkohol, und bei der heute in den höhern Ständen
herrschenden Mäßigkeit sind Leute, die solche Quantitäten Wein vertilgen wie
der Junker Hans von Schweinichen und sein fürstlicher Gönner, sehr selten.
Über die bekannten Experimente, auf die unsre Mäßigkeitsapostel die Forderung
völliger Abstinenz für alle gründen, urteilt er: „Wenn Auswendiglernen,
Addieren, Assoziationen auf Neizworte im Experiment erschwert erscheinen,
und wenn sogar überhaupt jede intensive geistige wie körperliche Tätigkeit
unter dem Einflüsse von Alkohol weniger gut vonstatten geht swobei noch zu
beachten ist, daß der Vernünftige seinen Schoppen erst trinkt, nachdem er sein
Tagewerk beendigt hat), so ist damit noch nicht bewiesen, daß jede Art
psychischen Geschehens in gleicher Weise ungünstig beeinflußt wird. Allein
selbst wenn dies der Fall sein sollte, so bliebe außerdem noch festzustellen,
daß die durch mäßigen Alkoholgenuß hervorgerufne Dauerschädigung tatsächlich
so groß ist, daß die Forderung der Totalabstinenz auch für alle die berechtigt
wäre, die jetzt im gelegentlichen oder regelmäßigen Genuß Erholung und
subjektive Anregung finden. Und schließlich steht den Ergebnissen der Ex-
perimentalnntersuchungen doch auch noch eine Erfahrung gegenüber, die nicht
übersehen werden darf: daß nämlich die große Mehrzahl auch solcher Menschen,
die auf den verschiedensten Gebieten mehr als das Durchschnittliche geleistet
haben, im Sinne des Laboratoriumversuchs als chronische Alkoholiker anzu¬
sprechen wären IZu ihnen gehören bekanntlich auch Luther, Goethe und Bis-
marckj. Wie schwer sich die Ergebnisse solcher Versuche praktisch verwenden
lassen, erhellt übrigens aus nichts so deutlich als aus dem ebenfalls von
der Heidelberger Schule erbrachten Nachweis, daß auch ein zweistündiger
Spaziergang ^überhaupt jede körperliche Anstrengung, wie jedermann an sich
selbst ohne psychometrische Experimente erfährtj die experimenteller Prüfung
zugänglichen Leistungen nicht bessert, sondern verschlechtert. Trotzdem wird
niemand grundsätzlich das Spazierengehn >oder das Schwimmen, Rudern,
Turnen, Ballspielen und die von Hirnarbeitern zur Erholung vorgenommnen
Gartenarbeitenj als schädlich verbieten wollen." Wobei allerdings daran er¬
innert werden muß, daß Spazierengehn, Sport und Gartenarbeit gesündere
Erholungen sind als Höcker in der Kneipe, mit welchem Ausdruck jedoch ein
wöchentliches Plauderstündchen beim Glase natürlich nicht bezeichnet zu werden
verdient.
Die Kriminalstatistik ist zu vielen Dingen nütze: man kann aus ihr
Schlüsse ziehen auf Charaktereigenschaften ganzer Völker und Stände, auf
soziale und politische Zustände, auf die Wirkung von Gesetzen und Volkssitten
und kann damit zu praktischen Verbesserungen gelangen, zum Beispiel mit der
Gewohnheit der Lohnzahlung am Sonnabend brechen — nur zu einem ist sie
nicht zu gebrauchen, zum Maßstabe der Volkssittlichkeit, auch nur der
negativen. Hätten wir, schreibt Schnapper, Kriminalstatistiken aus dem
sechzehnten und dem siebzehnten Jahrhundert, so würden wir wahrscheinlich
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