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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Ein Lesebuch der Sozialstatistik

"ach einer schlechten Ernte reicher erscheinen könne als nach einer guten, weil
bei der enormen Steigerung des Getreidepreises, den eine schlechte Ernte zur
Folge hat (soweit nicht der moderne Verkehr ermäßigend eingreift), der Geld¬
wert der schlechten Ernte höher sein kann als der einer guten.

In dem Abschnitt, der Schnappers Spezialität behandelt, wird erzählt,
daß das erste ihm bekannte Haushaltungsbudget zu Augsburg im sechzehnten
Jahrhundert gedruckt und -- gesungen worden ist, wenigstens gesungen zu
werden bestimmt war: "Ein schon newes Lied von den Unkosten aufs das
Hauszhalten, nemlich was auff ein Mann, ein Wyb und ein Magd ein Jahr
lang cmffgeht. Im Thon: es wolt ein wackeres Magetlein des Morgens
früh aufstohn." Es wird darin berichtet, wie ein Jüngling seiner Angebeteten
ein Ständchen bringt, sie aber zur Antwort ihm vorrechnet, was ein Haus¬
halt kostet, was er also durch Arbeit aufbringen müsse, wenn er heiraten
wolle, besonders da er doch wahrscheinlich wolle, daß seine Frau schön bleibe,
dieses aber nur möglich sei, wenn sie ein bequemes Leben habe, sich in Muße
Pflegen und tüchtig Wein trinken könne. Interessant ist die Bemerkung, daß,
je tiefer man in den sozialen Schichten hinabsteigt, desto typischer die Budgets
werden: bei den ganz Armen geht fast die ganze Einnahme auf die für alle
gleiche notwendige Nahrung darauf; je höher hinauf dagegen, desto individueller
werden die Budgets, in den sehr hohen so individuell, daß der Kundige aus
den Ausgabeposten den Namen der Person erraten kann. Bei der Erörterung
der Scheidungsgründe zeigt Schnapper an einem Beispiele, wie schwierig es
ist, bei Ermittlung der relativen Häufigkeit der verschiednen Gründe, auf
die hin die Scheidung beantragt wird, internationale Vergleichungen anzu¬
stellen. In der Union wird der Mann häufig wegen vrueltz^ verklagt, aber
was verstehn die Klägerinnen darunter? Wenn ein roher Mann seiner ganz
einsam lebenden Frau das einzige, was ihr Freude macht, ein Hündchen, ins
Feuer wirft, so muß man das ja Grausamkeit nennen. Zu stark ist schon
das Wort, wenn es sich um einen Mann handelt, der das Tabakrauchen
nicht läßt, das seiner Frau manchmal Kopfschmerzen verursacht. Aber es
kommen noch ganz andre Fälle vor. Eine nennt es Grausamkeit, daß ihr
Mann Bibelverse zitiert hat, die der Gattin Gehorsam gegen den Gatten vor¬
schreiben, wobei er allerdings gedroht hat, sie im Falle des Ungehorsams zu
zermalmen; und eine reiche junge Dame, die einen Todkranken geheiratet hat,
um nach dessen bald zu erwartenden Tode, der Vormundschaft ledig, freie
Verfügung über ihr Vermögen zu bekommen, beantragt, als der Mann wider
Erwarten gesund geworden ist, wegen oruslr^ ima trauä die Scheidung. Den
üblichen Alkoholstatistiken steht Schnapper skeptisch gegenüber; so, wenn nach
Hoppe und Baer-Laquer in Deutschland auf den Kopf 10^ Liter reiner
Alkohol kommen sollen. Das würde in Schnapsform täglich fünf Gläschen
für jedes deutsche Individuum ausmachen, die Frauen, die Säuglinge, die
Gefangnen eingerechnet, und das sieht sehr unwahrscheinlich aus, denn das


Ein Lesebuch der Sozialstatistik

»ach einer schlechten Ernte reicher erscheinen könne als nach einer guten, weil
bei der enormen Steigerung des Getreidepreises, den eine schlechte Ernte zur
Folge hat (soweit nicht der moderne Verkehr ermäßigend eingreift), der Geld¬
wert der schlechten Ernte höher sein kann als der einer guten.

In dem Abschnitt, der Schnappers Spezialität behandelt, wird erzählt,
daß das erste ihm bekannte Haushaltungsbudget zu Augsburg im sechzehnten
Jahrhundert gedruckt und — gesungen worden ist, wenigstens gesungen zu
werden bestimmt war: „Ein schon newes Lied von den Unkosten aufs das
Hauszhalten, nemlich was auff ein Mann, ein Wyb und ein Magd ein Jahr
lang cmffgeht. Im Thon: es wolt ein wackeres Magetlein des Morgens
früh aufstohn." Es wird darin berichtet, wie ein Jüngling seiner Angebeteten
ein Ständchen bringt, sie aber zur Antwort ihm vorrechnet, was ein Haus¬
halt kostet, was er also durch Arbeit aufbringen müsse, wenn er heiraten
wolle, besonders da er doch wahrscheinlich wolle, daß seine Frau schön bleibe,
dieses aber nur möglich sei, wenn sie ein bequemes Leben habe, sich in Muße
Pflegen und tüchtig Wein trinken könne. Interessant ist die Bemerkung, daß,
je tiefer man in den sozialen Schichten hinabsteigt, desto typischer die Budgets
werden: bei den ganz Armen geht fast die ganze Einnahme auf die für alle
gleiche notwendige Nahrung darauf; je höher hinauf dagegen, desto individueller
werden die Budgets, in den sehr hohen so individuell, daß der Kundige aus
den Ausgabeposten den Namen der Person erraten kann. Bei der Erörterung
der Scheidungsgründe zeigt Schnapper an einem Beispiele, wie schwierig es
ist, bei Ermittlung der relativen Häufigkeit der verschiednen Gründe, auf
die hin die Scheidung beantragt wird, internationale Vergleichungen anzu¬
stellen. In der Union wird der Mann häufig wegen vrueltz^ verklagt, aber
was verstehn die Klägerinnen darunter? Wenn ein roher Mann seiner ganz
einsam lebenden Frau das einzige, was ihr Freude macht, ein Hündchen, ins
Feuer wirft, so muß man das ja Grausamkeit nennen. Zu stark ist schon
das Wort, wenn es sich um einen Mann handelt, der das Tabakrauchen
nicht läßt, das seiner Frau manchmal Kopfschmerzen verursacht. Aber es
kommen noch ganz andre Fälle vor. Eine nennt es Grausamkeit, daß ihr
Mann Bibelverse zitiert hat, die der Gattin Gehorsam gegen den Gatten vor¬
schreiben, wobei er allerdings gedroht hat, sie im Falle des Ungehorsams zu
zermalmen; und eine reiche junge Dame, die einen Todkranken geheiratet hat,
um nach dessen bald zu erwartenden Tode, der Vormundschaft ledig, freie
Verfügung über ihr Vermögen zu bekommen, beantragt, als der Mann wider
Erwarten gesund geworden ist, wegen oruslr^ ima trauä die Scheidung. Den
üblichen Alkoholstatistiken steht Schnapper skeptisch gegenüber; so, wenn nach
Hoppe und Baer-Laquer in Deutschland auf den Kopf 10^ Liter reiner
Alkohol kommen sollen. Das würde in Schnapsform täglich fünf Gläschen
für jedes deutsche Individuum ausmachen, die Frauen, die Säuglinge, die
Gefangnen eingerechnet, und das sieht sehr unwahrscheinlich aus, denn das


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[0353] Ein Lesebuch der Sozialstatistik »ach einer schlechten Ernte reicher erscheinen könne als nach einer guten, weil bei der enormen Steigerung des Getreidepreises, den eine schlechte Ernte zur Folge hat (soweit nicht der moderne Verkehr ermäßigend eingreift), der Geld¬ wert der schlechten Ernte höher sein kann als der einer guten. In dem Abschnitt, der Schnappers Spezialität behandelt, wird erzählt, daß das erste ihm bekannte Haushaltungsbudget zu Augsburg im sechzehnten Jahrhundert gedruckt und — gesungen worden ist, wenigstens gesungen zu werden bestimmt war: „Ein schon newes Lied von den Unkosten aufs das Hauszhalten, nemlich was auff ein Mann, ein Wyb und ein Magd ein Jahr lang cmffgeht. Im Thon: es wolt ein wackeres Magetlein des Morgens früh aufstohn." Es wird darin berichtet, wie ein Jüngling seiner Angebeteten ein Ständchen bringt, sie aber zur Antwort ihm vorrechnet, was ein Haus¬ halt kostet, was er also durch Arbeit aufbringen müsse, wenn er heiraten wolle, besonders da er doch wahrscheinlich wolle, daß seine Frau schön bleibe, dieses aber nur möglich sei, wenn sie ein bequemes Leben habe, sich in Muße Pflegen und tüchtig Wein trinken könne. Interessant ist die Bemerkung, daß, je tiefer man in den sozialen Schichten hinabsteigt, desto typischer die Budgets werden: bei den ganz Armen geht fast die ganze Einnahme auf die für alle gleiche notwendige Nahrung darauf; je höher hinauf dagegen, desto individueller werden die Budgets, in den sehr hohen so individuell, daß der Kundige aus den Ausgabeposten den Namen der Person erraten kann. Bei der Erörterung der Scheidungsgründe zeigt Schnapper an einem Beispiele, wie schwierig es ist, bei Ermittlung der relativen Häufigkeit der verschiednen Gründe, auf die hin die Scheidung beantragt wird, internationale Vergleichungen anzu¬ stellen. In der Union wird der Mann häufig wegen vrueltz^ verklagt, aber was verstehn die Klägerinnen darunter? Wenn ein roher Mann seiner ganz einsam lebenden Frau das einzige, was ihr Freude macht, ein Hündchen, ins Feuer wirft, so muß man das ja Grausamkeit nennen. Zu stark ist schon das Wort, wenn es sich um einen Mann handelt, der das Tabakrauchen nicht läßt, das seiner Frau manchmal Kopfschmerzen verursacht. Aber es kommen noch ganz andre Fälle vor. Eine nennt es Grausamkeit, daß ihr Mann Bibelverse zitiert hat, die der Gattin Gehorsam gegen den Gatten vor¬ schreiben, wobei er allerdings gedroht hat, sie im Falle des Ungehorsams zu zermalmen; und eine reiche junge Dame, die einen Todkranken geheiratet hat, um nach dessen bald zu erwartenden Tode, der Vormundschaft ledig, freie Verfügung über ihr Vermögen zu bekommen, beantragt, als der Mann wider Erwarten gesund geworden ist, wegen oruslr^ ima trauä die Scheidung. Den üblichen Alkoholstatistiken steht Schnapper skeptisch gegenüber; so, wenn nach Hoppe und Baer-Laquer in Deutschland auf den Kopf 10^ Liter reiner Alkohol kommen sollen. Das würde in Schnapsform täglich fünf Gläschen für jedes deutsche Individuum ausmachen, die Frauen, die Säuglinge, die Gefangnen eingerechnet, und das sieht sehr unwahrscheinlich aus, denn das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/353>, abgerufen am 12.12.2024.