Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Sir Lesebuch der Sozialstatistik so sehr ist sie doch imstande, uns von dem eigentümlichen Konnex, ja dem er¬ Auch wenn man nicht mit Ottingen an das Erbsünddogma im Sinne Sir Lesebuch der Sozialstatistik so sehr ist sie doch imstande, uns von dem eigentümlichen Konnex, ja dem er¬ Auch wenn man nicht mit Ottingen an das Erbsünddogma im Sinne <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312699"/> <fw type="header" place="top"> Sir Lesebuch der Sozialstatistik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1339" prev="#ID_1338"> so sehr ist sie doch imstande, uns von dem eigentümlichen Konnex, ja dem er¬<lb/> staunlich konsequenten Verursachungssystem in der geistig-sittlichen Weltordnung,<lb/> namentlich in der Bewegung ganzer sozialer Gruppen menschlicher Gesellschaft zu<lb/> überzeugen. Darauf beruht ihre enorme Wichtigkeit. Sie wird uns weder die<lb/> Freiheit des Willens beweisen, noch den Unterschied guter und böser Handlungen<lb/> lehren, noch auch an sich den Abscheu vor den kolossalen Verbrechermnssen oder<lb/> die Bewunderung für Tausende von Wohltätigkeitsanstalten erzeugen. Da wird<lb/> vielmehr überall die Deduktion, der ans dem Gewissen, aus den Tatsachen innerer<lb/> Erfahrung, aus dem geoffenbarten Gesetz und dem gegliederten System göttlicher<lb/> Wahrheiten hergeleitete prinzipielle Unterschied von dem, was wir gut, und dem,<lb/> was wir böse nennen, von dem, was sein soll, und dem, was schlechterdings nicht<lb/> sein soll, einzugreifen und die rechte Fährte ethischer Beurteilung aufzuweisen<lb/> haben. Aber darin wird die Moralstatistik als induktive Beobachtuugswissenschaft<lb/> dennoch Großes und in apologetischer Beziehung Bedeutsames zu leisten imstande<lb/> sein, daß sie empirisch die Gesetzmäßigkeit der sittlichen Lebensbewegung überhaupt<lb/> gegenüber der oberflächlichen Voraussetzung einer willkürlich sich selbst bestimmenden<lb/> Freiheit wird nachweisen können; sodann daß sie in jeglicher sittlicher Lebens¬<lb/> bewegung den Gemeinschaftsfaktor in seinem durchgreifend konstanten Einfluß wird<lb/> hervortreten lassen; endlich, daß sie dieser Gesetzmäßigkeit nachspürend, durch Analyse<lb/> und Klassifikation einzelne influierende allgemeine und spezielle Ursachen zu kon¬<lb/> statieren suchen wird. Es wird sie dabei nicht bloß der allgemeine Gedanke leiten,<lb/> daß die Ursachen den Wirkungen proportional sein müssen, sondern daß auch dem<lb/> Maximum der Wirkung ein Maximum der Ursachen und dem Minimum jener ein<lb/> Minimum dieser wird entsprechen müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1340" next="#ID_1341"> Auch wenn man nicht mit Ottingen an das Erbsünddogma im Sinne<lb/> der lutherischen Orthodoxie glaubt, muß man anerkennen, daß ihm dieser<lb/> Glaube die großen Wahrheiten der Einheit und der Solidarität des Menschen¬<lb/> geschlechts erschlossen hat und damit die Verantwortung, die daraus dem<lb/> einzelnen mit Rücksicht auf die Gesamtheit wie der Gesellschaft in Beziehung<lb/> auf den einzelnen erwächst. Ich halte dieses Dogma gleich andern Dogmen<lb/> nur für ein Symbol, aber die Bedeutung dieses Symbols, das darum als<lb/> ein geoffenbartes bezeichnet werden darf, liegt eben darin, dasz es jene Wahr¬<lb/> heiten enthüllt und das in ihnen wurzelnde Gefühl der Verantwortung ge¬<lb/> weckt hat, lange bevor die Wissenschaft Spuren davon durch Beobachtung<lb/> entdeckte. (Extreme Nasfentheoretiker, die das Menschengeschlecht in ganz ver-<lb/> schiedne „Tierarten" auseinanderreißen, leugnen geradezu die Einheit wie die<lb/> Solidarität und suchen die Menschenrassen, die Völker durch die Kluft eines<lb/> angeblich natürlichen feindlichen Gegensatzes voneinander zu trennen.) Diese<lb/> Wahrheiten mit statistischen Tabellen klar machen, nenne ich nicht predigen,<lb/> sondern ein Stück Volksaufklürung leisten. Öttingers Moralstatistik wird<lb/> demnach durch das vorliegende Buch keineswegs überflüssig gemacht, sondern<lb/> muß zur Ergänzung herangezogen werden, wie andrerseits auch die Verehrer<lb/> Öttingers die Leistungen Schnapper-Arndts nicht übersehen dürfen, die in<lb/> manchem einen Fortschritt bedeuten, abgesehen davon, daß sie sich ja nicht<lb/> auf die Moralstatistik beschränken, sondern die ganze Sozialstatistik umfassen-<lb/> Übrigens geht Schnapper über jene allgemeinen Anklagen gegen Ottingen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0348]
Sir Lesebuch der Sozialstatistik
so sehr ist sie doch imstande, uns von dem eigentümlichen Konnex, ja dem er¬
staunlich konsequenten Verursachungssystem in der geistig-sittlichen Weltordnung,
namentlich in der Bewegung ganzer sozialer Gruppen menschlicher Gesellschaft zu
überzeugen. Darauf beruht ihre enorme Wichtigkeit. Sie wird uns weder die
Freiheit des Willens beweisen, noch den Unterschied guter und böser Handlungen
lehren, noch auch an sich den Abscheu vor den kolossalen Verbrechermnssen oder
die Bewunderung für Tausende von Wohltätigkeitsanstalten erzeugen. Da wird
vielmehr überall die Deduktion, der ans dem Gewissen, aus den Tatsachen innerer
Erfahrung, aus dem geoffenbarten Gesetz und dem gegliederten System göttlicher
Wahrheiten hergeleitete prinzipielle Unterschied von dem, was wir gut, und dem,
was wir böse nennen, von dem, was sein soll, und dem, was schlechterdings nicht
sein soll, einzugreifen und die rechte Fährte ethischer Beurteilung aufzuweisen
haben. Aber darin wird die Moralstatistik als induktive Beobachtuugswissenschaft
dennoch Großes und in apologetischer Beziehung Bedeutsames zu leisten imstande
sein, daß sie empirisch die Gesetzmäßigkeit der sittlichen Lebensbewegung überhaupt
gegenüber der oberflächlichen Voraussetzung einer willkürlich sich selbst bestimmenden
Freiheit wird nachweisen können; sodann daß sie in jeglicher sittlicher Lebens¬
bewegung den Gemeinschaftsfaktor in seinem durchgreifend konstanten Einfluß wird
hervortreten lassen; endlich, daß sie dieser Gesetzmäßigkeit nachspürend, durch Analyse
und Klassifikation einzelne influierende allgemeine und spezielle Ursachen zu kon¬
statieren suchen wird. Es wird sie dabei nicht bloß der allgemeine Gedanke leiten,
daß die Ursachen den Wirkungen proportional sein müssen, sondern daß auch dem
Maximum der Wirkung ein Maximum der Ursachen und dem Minimum jener ein
Minimum dieser wird entsprechen müssen.
Auch wenn man nicht mit Ottingen an das Erbsünddogma im Sinne
der lutherischen Orthodoxie glaubt, muß man anerkennen, daß ihm dieser
Glaube die großen Wahrheiten der Einheit und der Solidarität des Menschen¬
geschlechts erschlossen hat und damit die Verantwortung, die daraus dem
einzelnen mit Rücksicht auf die Gesamtheit wie der Gesellschaft in Beziehung
auf den einzelnen erwächst. Ich halte dieses Dogma gleich andern Dogmen
nur für ein Symbol, aber die Bedeutung dieses Symbols, das darum als
ein geoffenbartes bezeichnet werden darf, liegt eben darin, dasz es jene Wahr¬
heiten enthüllt und das in ihnen wurzelnde Gefühl der Verantwortung ge¬
weckt hat, lange bevor die Wissenschaft Spuren davon durch Beobachtung
entdeckte. (Extreme Nasfentheoretiker, die das Menschengeschlecht in ganz ver-
schiedne „Tierarten" auseinanderreißen, leugnen geradezu die Einheit wie die
Solidarität und suchen die Menschenrassen, die Völker durch die Kluft eines
angeblich natürlichen feindlichen Gegensatzes voneinander zu trennen.) Diese
Wahrheiten mit statistischen Tabellen klar machen, nenne ich nicht predigen,
sondern ein Stück Volksaufklürung leisten. Öttingers Moralstatistik wird
demnach durch das vorliegende Buch keineswegs überflüssig gemacht, sondern
muß zur Ergänzung herangezogen werden, wie andrerseits auch die Verehrer
Öttingers die Leistungen Schnapper-Arndts nicht übersehen dürfen, die in
manchem einen Fortschritt bedeuten, abgesehen davon, daß sie sich ja nicht
auf die Moralstatistik beschränken, sondern die ganze Sozialstatistik umfassen-
Übrigens geht Schnapper über jene allgemeinen Anklagen gegen Ottingen
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