Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Sir Lesebuch der Sozialstatistik nicht hinaus; Verwendung von schlechtem Material weist er ihm gar nicht Grenzbvte" l, 1909 45
Sir Lesebuch der Sozialstatistik nicht hinaus; Verwendung von schlechtem Material weist er ihm gar nicht Grenzbvte» l, 1909 45
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0349" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312700"/> <fw type="header" place="top"> Sir Lesebuch der Sozialstatistik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1341" prev="#ID_1340" next="#ID_1342"> nicht hinaus; Verwendung von schlechtem Material weist er ihm gar nicht<lb/> und tendenziöse Verwendung guten Materials uur in einem einzigen Falle<lb/> nach. Das weitschweifige Reden über die Kollektivschuld der Gesellschaft,<lb/> schreibt er, nutze nichts, wenn auf die positiven Einzelursachen der herrschenden<lb/> Mißstände nicht eingegangen wird. (Das geschieht doch auch in Schnappers<lb/> Vorlesungen nur andeutungsweise und findet in einer allgemeinen Moral¬<lb/> statistik nicht Raum, muß Spezialuntersuchungen, zum Beispiel über den<lb/> Zusammenhang von Verbrechen und Alkohol oder von Verbrechen und<lb/> Wohnungselend vorbehalten bleiben.) Und seine Darstellung der Kinder¬<lb/> sterblichkeit (das ist der eine Fall) werde noch wertloser und irreführender<lb/> dadurch, „daß er die uneheliche Kindersterblichkeit, die ja zu wohlfeilen Morali¬<lb/> sieren leichten Anlaß gibt, ganz unverhältnismäßig vor die eheliche Kinder¬<lb/> sterblichkeit in den Vordergrund rückt". Freilich sei der Prozentsatz der un¬<lb/> ehelichen Kinder, die vorzeitig sterben, viel größer als der der ehelichen, aber<lb/> da die Zahl der ehelichen Kinder überhaupt etwa zehnmal so groß ist als<lb/> die der unehelichen, so sei doch die absolute Zahl der Sterbefälle von ehelichen<lb/> Kindern weit größer als der von unehelichen und falle darum für die Gesell¬<lb/> schaft mehr ins Gewicht. Es ist zuzugeben, daß Öttingen die Sterblichkeit<lb/> der ehelichen Kinder noch kräftiger Hütte betonen können, als es S. 882 ge¬<lb/> schieht. (Einen dankenswerten Beitrag zur Kenntnis ihrer Ursachen hat<lb/> Ludwig Kenner im 37. Heft der Grenzboten geliefert. Die „Entmilchung" der<lb/> Dörfer, auch schon der kleinen Städte, hat übrigens schon lange vor der<lb/> Gründung von Molkereigenossenschaften begonnen — mit der Verbesserung<lb/> der Verkehrswege, sogar schon vor dem Ausbau unsers Eisenbahnnetzes; sobald<lb/> gute Chausseen die Wege gang- und fahrbar machten, fingen auch die nicht<lb/> ganz nahe an der Stadt wohnenden Bauerfrauen an, alle ihre Milch, in<lb/> Butter verwandelt, auf den zwei bis vier Stunden entfernten städtischen Markt<lb/> zu schleppen, sodaß es, wie mir einmal ein Arzt klagte, mitten im Rindvieh<lb/> unmöglich war, armen Kindern und armen Kranken Milch zu verschaffen.<lb/> Die Molkereien haben dann natürlich das Übel außerordentlich gesteigert.)<lb/> Dafür könnte man Schnapper-Arndt vorwerfen, daß er selbst nicht ganz<lb/> tendenziös verfahre, zum Beispiel die ungeheure Bedeutung des Zahlenver¬<lb/> hältnisses der Geschlechter nicht gebührend hervorhebe. Bekanntlich weisen die<lb/> beiden Geschlechter im Heiratsalter nahezu gleiche Kopfzahlen auf. Und da<lb/> das Leben das männliche Geschlecht stärker mitnimmt als das weibliche, so<lb/> wird diese Gleichheit dadurch erreicht, daß mehr Knaben als Mädchen geboren<lb/> werden. Kann der Schöpfer (oder, da die deutschen Gelehrten das Wort<lb/> nicht leiden können, „die Natur") deutlicher sagen, daß er unbedingt die<lb/> Monogamie will? Die Konstanz der beiden großen Tatsachen ist um so<lb/> wunderbarer, da im einzelnen völlige Regellosigkeit, reiner Zufall zu herrschen<lb/> scheint; denn es werden ja nicht in jeder Familie je ein Knabe und ein<lb/> Mädchen geboren, sondern in der einen nur Knaben, in der andern nur</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvte» l, 1909 45</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0349]
Sir Lesebuch der Sozialstatistik
nicht hinaus; Verwendung von schlechtem Material weist er ihm gar nicht
und tendenziöse Verwendung guten Materials uur in einem einzigen Falle
nach. Das weitschweifige Reden über die Kollektivschuld der Gesellschaft,
schreibt er, nutze nichts, wenn auf die positiven Einzelursachen der herrschenden
Mißstände nicht eingegangen wird. (Das geschieht doch auch in Schnappers
Vorlesungen nur andeutungsweise und findet in einer allgemeinen Moral¬
statistik nicht Raum, muß Spezialuntersuchungen, zum Beispiel über den
Zusammenhang von Verbrechen und Alkohol oder von Verbrechen und
Wohnungselend vorbehalten bleiben.) Und seine Darstellung der Kinder¬
sterblichkeit (das ist der eine Fall) werde noch wertloser und irreführender
dadurch, „daß er die uneheliche Kindersterblichkeit, die ja zu wohlfeilen Morali¬
sieren leichten Anlaß gibt, ganz unverhältnismäßig vor die eheliche Kinder¬
sterblichkeit in den Vordergrund rückt". Freilich sei der Prozentsatz der un¬
ehelichen Kinder, die vorzeitig sterben, viel größer als der der ehelichen, aber
da die Zahl der ehelichen Kinder überhaupt etwa zehnmal so groß ist als
die der unehelichen, so sei doch die absolute Zahl der Sterbefälle von ehelichen
Kindern weit größer als der von unehelichen und falle darum für die Gesell¬
schaft mehr ins Gewicht. Es ist zuzugeben, daß Öttingen die Sterblichkeit
der ehelichen Kinder noch kräftiger Hütte betonen können, als es S. 882 ge¬
schieht. (Einen dankenswerten Beitrag zur Kenntnis ihrer Ursachen hat
Ludwig Kenner im 37. Heft der Grenzboten geliefert. Die „Entmilchung" der
Dörfer, auch schon der kleinen Städte, hat übrigens schon lange vor der
Gründung von Molkereigenossenschaften begonnen — mit der Verbesserung
der Verkehrswege, sogar schon vor dem Ausbau unsers Eisenbahnnetzes; sobald
gute Chausseen die Wege gang- und fahrbar machten, fingen auch die nicht
ganz nahe an der Stadt wohnenden Bauerfrauen an, alle ihre Milch, in
Butter verwandelt, auf den zwei bis vier Stunden entfernten städtischen Markt
zu schleppen, sodaß es, wie mir einmal ein Arzt klagte, mitten im Rindvieh
unmöglich war, armen Kindern und armen Kranken Milch zu verschaffen.
Die Molkereien haben dann natürlich das Übel außerordentlich gesteigert.)
Dafür könnte man Schnapper-Arndt vorwerfen, daß er selbst nicht ganz
tendenziös verfahre, zum Beispiel die ungeheure Bedeutung des Zahlenver¬
hältnisses der Geschlechter nicht gebührend hervorhebe. Bekanntlich weisen die
beiden Geschlechter im Heiratsalter nahezu gleiche Kopfzahlen auf. Und da
das Leben das männliche Geschlecht stärker mitnimmt als das weibliche, so
wird diese Gleichheit dadurch erreicht, daß mehr Knaben als Mädchen geboren
werden. Kann der Schöpfer (oder, da die deutschen Gelehrten das Wort
nicht leiden können, „die Natur") deutlicher sagen, daß er unbedingt die
Monogamie will? Die Konstanz der beiden großen Tatsachen ist um so
wunderbarer, da im einzelnen völlige Regellosigkeit, reiner Zufall zu herrschen
scheint; denn es werden ja nicht in jeder Familie je ein Knabe und ein
Mädchen geboren, sondern in der einen nur Knaben, in der andern nur
Grenzbvte» l, 1909 45
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