Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Lesebuch der Sozialstatistik

Gründlichkeit und Vollständigkeit, wie es -- in Deutschland wenigstens --
kein zweites gibt. Und das Verdienst Öttingers besteht vorzugsweise darin,
daß er Verständnis für statistische Untersuchungen in Kreisen geweckt hat, die
den von Berufs wegen zur Handhabung von Ziffertabellen genötigten fern
stehn, besonders in den Kreisen der Geistlichen, der Pädagogen, der Justiz¬
beamten. Was aber den eigentlichen Gegenstand des Werkes betrifft, so be¬
kennt Schnapper-Arndt selbst: "Als Verfasser eines größern moralstatistischen
Lehrbuchs ist eigentlich nur Alexander von Öttingen zu nennen." Zugleich
jedoch sucht er ihn zu diskreditieren, und eben deswegen ist es doppelt not¬
wendig, an den vor einem Jahre verstorbnen zu erinnern. Schnapper schreibt:
"Sein Werk ist ein Protest gegen die, die eine mechanische Weltanschauung
vertreten, oder denen man sie untergeschoben hat smehr noch ein Protest gegen
einseitigen Individualismus und Indeterminismus^. Das Buch fand darum
in weiten Kreisen eine warme Aufnahme; ich möchte ihm jedoch nur insoweit
Lob spenden, als es eine sehr fleißige Sammlung außerordentlich mühsam
zusammenzubringenden Stoffes ist. Durch die endlosen Sittenpredigten, die
es zu einem starken Umfange haben anschwellen lassen, geht ein Zug großer
Unfruchtbarkeit, und trotz der fortwährenden Wiederkehr der Worte "Ethik"
und "ethisch" hat ethisches Handeln sicherlich durch viele andre, die sich selbst
für Materialisten hielten, aber darum doch Idealisten waren swenn er doch
einen solchen nennen möchte!j, mehr Förderung erfahren als durch ihn.
Seine Sache war es nicht, sich die sozialen Dinge im Original anzuschauen,
und er kennt das menschliche Herz nur aus Büchern, die es selbst nicht
kannten." Daran ist nur so viel richtig, daß der Dorpater Professor wahr¬
scheinlich keine Forschungen in Proletarierwohnungen angestellt hat; non
owvia xossumus oirmss; wer ein so ungeheures Buchwissen aufhäuft, der hat
für umfassende Studien am lebendigen Objekt keine Zeit übrig. Aber darum
braucht ihm noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens abgesprochen
zu werden. Was aber den bedeutenden Umfang des getadelten Werkes be¬
trifft, so sind es nicht "Sittenpredigten", die ihn verschulden, sondern auf
gründlicher Forschung beruhende Abhandlungen über psychologische, ethische,
volkswirtschaftliche Gegenstände, die für die Anwendung der Statistik im
ethischen Gebiete erst die Grundlage schaffen. In Schnapper-Arndts Vor¬
trügen sucht man vergebens eine Kennzeichnung der prinzipiellen Stellung, die
der Moralstatistiker einzunehmen hat, wie sie in den folgenden Sätzen
Öttingers enthalten ist (sie schließt sich an die vortreffliche Darlegung des
Wesens der sittlichen Freiheit an):

So wenig die Moralstatistik mit ihrer induktiven Methode uns berechtigt
oder befähigt, von irgendeiner Erscheinungsgruppe im menschlichen Gesamtleben zu
sagen, ob das, was da erscheint, frei oder unfrei, normal oder abnorm, gut oder
böse, ein Laster oder eine Tugend, ein Verbrechen oder ein Verdienst ist -- denn
sie bringt uns ja nur die Tatsachen und deren zusammenhängende Erscheinung,
nicht aber einen höhern, allgemein geltenden Maßstab für ihre Beurteilung --;


Lin Lesebuch der Sozialstatistik

Gründlichkeit und Vollständigkeit, wie es — in Deutschland wenigstens —
kein zweites gibt. Und das Verdienst Öttingers besteht vorzugsweise darin,
daß er Verständnis für statistische Untersuchungen in Kreisen geweckt hat, die
den von Berufs wegen zur Handhabung von Ziffertabellen genötigten fern
stehn, besonders in den Kreisen der Geistlichen, der Pädagogen, der Justiz¬
beamten. Was aber den eigentlichen Gegenstand des Werkes betrifft, so be¬
kennt Schnapper-Arndt selbst: „Als Verfasser eines größern moralstatistischen
Lehrbuchs ist eigentlich nur Alexander von Öttingen zu nennen." Zugleich
jedoch sucht er ihn zu diskreditieren, und eben deswegen ist es doppelt not¬
wendig, an den vor einem Jahre verstorbnen zu erinnern. Schnapper schreibt:
„Sein Werk ist ein Protest gegen die, die eine mechanische Weltanschauung
vertreten, oder denen man sie untergeschoben hat smehr noch ein Protest gegen
einseitigen Individualismus und Indeterminismus^. Das Buch fand darum
in weiten Kreisen eine warme Aufnahme; ich möchte ihm jedoch nur insoweit
Lob spenden, als es eine sehr fleißige Sammlung außerordentlich mühsam
zusammenzubringenden Stoffes ist. Durch die endlosen Sittenpredigten, die
es zu einem starken Umfange haben anschwellen lassen, geht ein Zug großer
Unfruchtbarkeit, und trotz der fortwährenden Wiederkehr der Worte »Ethik«
und »ethisch« hat ethisches Handeln sicherlich durch viele andre, die sich selbst
für Materialisten hielten, aber darum doch Idealisten waren swenn er doch
einen solchen nennen möchte!j, mehr Förderung erfahren als durch ihn.
Seine Sache war es nicht, sich die sozialen Dinge im Original anzuschauen,
und er kennt das menschliche Herz nur aus Büchern, die es selbst nicht
kannten." Daran ist nur so viel richtig, daß der Dorpater Professor wahr¬
scheinlich keine Forschungen in Proletarierwohnungen angestellt hat; non
owvia xossumus oirmss; wer ein so ungeheures Buchwissen aufhäuft, der hat
für umfassende Studien am lebendigen Objekt keine Zeit übrig. Aber darum
braucht ihm noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens abgesprochen
zu werden. Was aber den bedeutenden Umfang des getadelten Werkes be¬
trifft, so sind es nicht „Sittenpredigten", die ihn verschulden, sondern auf
gründlicher Forschung beruhende Abhandlungen über psychologische, ethische,
volkswirtschaftliche Gegenstände, die für die Anwendung der Statistik im
ethischen Gebiete erst die Grundlage schaffen. In Schnapper-Arndts Vor¬
trügen sucht man vergebens eine Kennzeichnung der prinzipiellen Stellung, die
der Moralstatistiker einzunehmen hat, wie sie in den folgenden Sätzen
Öttingers enthalten ist (sie schließt sich an die vortreffliche Darlegung des
Wesens der sittlichen Freiheit an):

So wenig die Moralstatistik mit ihrer induktiven Methode uns berechtigt
oder befähigt, von irgendeiner Erscheinungsgruppe im menschlichen Gesamtleben zu
sagen, ob das, was da erscheint, frei oder unfrei, normal oder abnorm, gut oder
böse, ein Laster oder eine Tugend, ein Verbrechen oder ein Verdienst ist — denn
sie bringt uns ja nur die Tatsachen und deren zusammenhängende Erscheinung,
nicht aber einen höhern, allgemein geltenden Maßstab für ihre Beurteilung —;


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312698"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Lesebuch der Sozialstatistik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1337" prev="#ID_1336"> Gründlichkeit und Vollständigkeit, wie es &#x2014; in Deutschland wenigstens &#x2014;<lb/>
kein zweites gibt. Und das Verdienst Öttingers besteht vorzugsweise darin,<lb/>
daß er Verständnis für statistische Untersuchungen in Kreisen geweckt hat, die<lb/>
den von Berufs wegen zur Handhabung von Ziffertabellen genötigten fern<lb/>
stehn, besonders in den Kreisen der Geistlichen, der Pädagogen, der Justiz¬<lb/>
beamten. Was aber den eigentlichen Gegenstand des Werkes betrifft, so be¬<lb/>
kennt Schnapper-Arndt selbst: &#x201E;Als Verfasser eines größern moralstatistischen<lb/>
Lehrbuchs ist eigentlich nur Alexander von Öttingen zu nennen." Zugleich<lb/>
jedoch sucht er ihn zu diskreditieren, und eben deswegen ist es doppelt not¬<lb/>
wendig, an den vor einem Jahre verstorbnen zu erinnern. Schnapper schreibt:<lb/>
&#x201E;Sein Werk ist ein Protest gegen die, die eine mechanische Weltanschauung<lb/>
vertreten, oder denen man sie untergeschoben hat smehr noch ein Protest gegen<lb/>
einseitigen Individualismus und Indeterminismus^. Das Buch fand darum<lb/>
in weiten Kreisen eine warme Aufnahme; ich möchte ihm jedoch nur insoweit<lb/>
Lob spenden, als es eine sehr fleißige Sammlung außerordentlich mühsam<lb/>
zusammenzubringenden Stoffes ist. Durch die endlosen Sittenpredigten, die<lb/>
es zu einem starken Umfange haben anschwellen lassen, geht ein Zug großer<lb/>
Unfruchtbarkeit, und trotz der fortwährenden Wiederkehr der Worte »Ethik«<lb/>
und »ethisch« hat ethisches Handeln sicherlich durch viele andre, die sich selbst<lb/>
für Materialisten hielten, aber darum doch Idealisten waren swenn er doch<lb/>
einen solchen nennen möchte!j, mehr Förderung erfahren als durch ihn.<lb/>
Seine Sache war es nicht, sich die sozialen Dinge im Original anzuschauen,<lb/>
und er kennt das menschliche Herz nur aus Büchern, die es selbst nicht<lb/>
kannten." Daran ist nur so viel richtig, daß der Dorpater Professor wahr¬<lb/>
scheinlich keine Forschungen in Proletarierwohnungen angestellt hat; non<lb/>
owvia xossumus oirmss; wer ein so ungeheures Buchwissen aufhäuft, der hat<lb/>
für umfassende Studien am lebendigen Objekt keine Zeit übrig. Aber darum<lb/>
braucht ihm noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens abgesprochen<lb/>
zu werden. Was aber den bedeutenden Umfang des getadelten Werkes be¬<lb/>
trifft, so sind es nicht &#x201E;Sittenpredigten", die ihn verschulden, sondern auf<lb/>
gründlicher Forschung beruhende Abhandlungen über psychologische, ethische,<lb/>
volkswirtschaftliche Gegenstände, die für die Anwendung der Statistik im<lb/>
ethischen Gebiete erst die Grundlage schaffen. In Schnapper-Arndts Vor¬<lb/>
trügen sucht man vergebens eine Kennzeichnung der prinzipiellen Stellung, die<lb/>
der Moralstatistiker einzunehmen hat, wie sie in den folgenden Sätzen<lb/>
Öttingers enthalten ist (sie schließt sich an die vortreffliche Darlegung des<lb/>
Wesens der sittlichen Freiheit an):</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1338" next="#ID_1339"> So wenig die Moralstatistik mit ihrer induktiven Methode uns berechtigt<lb/>
oder befähigt, von irgendeiner Erscheinungsgruppe im menschlichen Gesamtleben zu<lb/>
sagen, ob das, was da erscheint, frei oder unfrei, normal oder abnorm, gut oder<lb/>
böse, ein Laster oder eine Tugend, ein Verbrechen oder ein Verdienst ist &#x2014; denn<lb/>
sie bringt uns ja nur die Tatsachen und deren zusammenhängende Erscheinung,<lb/>
nicht aber einen höhern, allgemein geltenden Maßstab für ihre Beurteilung &#x2014;;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0347] Lin Lesebuch der Sozialstatistik Gründlichkeit und Vollständigkeit, wie es — in Deutschland wenigstens — kein zweites gibt. Und das Verdienst Öttingers besteht vorzugsweise darin, daß er Verständnis für statistische Untersuchungen in Kreisen geweckt hat, die den von Berufs wegen zur Handhabung von Ziffertabellen genötigten fern stehn, besonders in den Kreisen der Geistlichen, der Pädagogen, der Justiz¬ beamten. Was aber den eigentlichen Gegenstand des Werkes betrifft, so be¬ kennt Schnapper-Arndt selbst: „Als Verfasser eines größern moralstatistischen Lehrbuchs ist eigentlich nur Alexander von Öttingen zu nennen." Zugleich jedoch sucht er ihn zu diskreditieren, und eben deswegen ist es doppelt not¬ wendig, an den vor einem Jahre verstorbnen zu erinnern. Schnapper schreibt: „Sein Werk ist ein Protest gegen die, die eine mechanische Weltanschauung vertreten, oder denen man sie untergeschoben hat smehr noch ein Protest gegen einseitigen Individualismus und Indeterminismus^. Das Buch fand darum in weiten Kreisen eine warme Aufnahme; ich möchte ihm jedoch nur insoweit Lob spenden, als es eine sehr fleißige Sammlung außerordentlich mühsam zusammenzubringenden Stoffes ist. Durch die endlosen Sittenpredigten, die es zu einem starken Umfange haben anschwellen lassen, geht ein Zug großer Unfruchtbarkeit, und trotz der fortwährenden Wiederkehr der Worte »Ethik« und »ethisch« hat ethisches Handeln sicherlich durch viele andre, die sich selbst für Materialisten hielten, aber darum doch Idealisten waren swenn er doch einen solchen nennen möchte!j, mehr Förderung erfahren als durch ihn. Seine Sache war es nicht, sich die sozialen Dinge im Original anzuschauen, und er kennt das menschliche Herz nur aus Büchern, die es selbst nicht kannten." Daran ist nur so viel richtig, daß der Dorpater Professor wahr¬ scheinlich keine Forschungen in Proletarierwohnungen angestellt hat; non owvia xossumus oirmss; wer ein so ungeheures Buchwissen aufhäuft, der hat für umfassende Studien am lebendigen Objekt keine Zeit übrig. Aber darum braucht ihm noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens abgesprochen zu werden. Was aber den bedeutenden Umfang des getadelten Werkes be¬ trifft, so sind es nicht „Sittenpredigten", die ihn verschulden, sondern auf gründlicher Forschung beruhende Abhandlungen über psychologische, ethische, volkswirtschaftliche Gegenstände, die für die Anwendung der Statistik im ethischen Gebiete erst die Grundlage schaffen. In Schnapper-Arndts Vor¬ trügen sucht man vergebens eine Kennzeichnung der prinzipiellen Stellung, die der Moralstatistiker einzunehmen hat, wie sie in den folgenden Sätzen Öttingers enthalten ist (sie schließt sich an die vortreffliche Darlegung des Wesens der sittlichen Freiheit an): So wenig die Moralstatistik mit ihrer induktiven Methode uns berechtigt oder befähigt, von irgendeiner Erscheinungsgruppe im menschlichen Gesamtleben zu sagen, ob das, was da erscheint, frei oder unfrei, normal oder abnorm, gut oder böse, ein Laster oder eine Tugend, ein Verbrechen oder ein Verdienst ist — denn sie bringt uns ja nur die Tatsachen und deren zusammenhängende Erscheinung, nicht aber einen höhern, allgemein geltenden Maßstab für ihre Beurteilung —;

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/347
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/347>, abgerufen am 12.12.2024.