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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

Rechtszustand zu seiner Aufrechterhaltung besondrer Maßregeln bedarf, die nicht
alle ethisch gefordert sind, unter Umständen sogar mit ethischen Forderungen
in Widerspruch geraten können, was natürlich soviel wie möglich vermieden
werden soll. Im juristischen Sinne ist Vergehen oder Verbrechen alles, was
die Gesetze verbieten, und die Gesetze ändern sich mit den Bedürfnissen des
Staates. Unter allen Missetätern, die uns Shakespeare vorführt, finde ich
nur einen, der in allen Staaten alter und neuer Zeit verurteilt worden wäre,
den Schelm Autolytus im Wintermürchen, und gerade der erregt selbst des
strengsten Staatsanwalts Lachlust eher als seine Entrüstung (mit mehr Recht
als Falstaff, an dem sich nur rohe Gemüter ergötzen können, oder gar
Petrucchio. Es gereicht dem deutschen Publikum nicht zur Ehre, daß die
Zähmung der Widerspenstigen, ein nach meinem Geschmack dummes und des
großen Dramatikers unwürdiges Stück, das einzige seiner Stücke ist, das
kleinere Bühnen manchmal aufführen). Autolytus analysiert sich selbst. Er
ist "unter dem Merkur geworfen". Nachdem er den jungen Schäfer bestohlen
hat, beschließt er, das Schafschurfest zu besuchen, und "wenn ich die Scherer
nicht zu Schafen mache, so möge man mich ausstoßen und meinen Namen
auf das Register der Tugend setzen". Den jungen Schäfer hat nur seine
Gutmütigkeit zum Schafe gemacht, die übrigen werden ihm von Eitelkeit,
Neugier und Lüsternheit in die Schlingen getrieben. Er erscheint als Hausierer,
wird seinen ganzen Plunder los; "sie drängten sich danach, als wenn alle
meine Lumpereien geweiht wären und dem Käufer Segen brächten". Dabei
sieht er, wessen Börse das beste Ansehen hat. Dann verteilt er Dirnenlieder
und lehrt die Melodie: "Das zog die ganze Herde so zu mir, daß alle
ihre übrigen Sinne in die Ohren steckten; man konnte ihnen die Schnürbrust
lüften, den Beutel vom Leibe schneiden, sie merkten nichts." Und nachdem
er mit Florizel ein glänzendes Geschäft gemacht, und dieses ihm zu weitern
glänzenden Geschäften verholfen hat, schließt er: "Wenn ich auch Lust hätte,
ehrlich zu sein, so sehe ich doch, das Schicksal will es nicht; es läßt mir die
Beuteln den Mund fallen." Ist der Kerl nicht ein vortrefflicher Repräsentant
der großen Zunft derer, die sich auf das muncius ckkvipi berufen? Die
meinen, es sei ja geradezu unrecht, nicht zu nehmen, was die Dummheit so
freigebig spendet, einer Zunft, die nicht aussterben kann, weil die Dummen
nicht alle werden? Einer Zunft, die sich in unsrer Zeit um die interessante
Gesellschaft der Gründer, der Universalmittelfabrikanten, der Neklamevirtuosen
bereichert hat, und die sich nach mancher Leute Meinung rühmen darf, die
Hochmögenden der Vereinigten Staaten zu Vorstehern zu haben? Auch bei
einer "feinen Ptene" pflegen ja die Heiterkeit über die Dummheit der Ge¬
schädigten und die Schadenfreude den Unwillen über den Betrüger zu über¬
wiegen. sodaß also im allgemeinen Handlungen, die im juristischen Sinne
zweifellos Verbrechen sind, in minderen Grade sittlichen Abscheu erregen als
die Mordtaten hochgestellter Gewaltmenschen, für die es weder Richter noch


Verbrecher bei Shakespeare

Rechtszustand zu seiner Aufrechterhaltung besondrer Maßregeln bedarf, die nicht
alle ethisch gefordert sind, unter Umständen sogar mit ethischen Forderungen
in Widerspruch geraten können, was natürlich soviel wie möglich vermieden
werden soll. Im juristischen Sinne ist Vergehen oder Verbrechen alles, was
die Gesetze verbieten, und die Gesetze ändern sich mit den Bedürfnissen des
Staates. Unter allen Missetätern, die uns Shakespeare vorführt, finde ich
nur einen, der in allen Staaten alter und neuer Zeit verurteilt worden wäre,
den Schelm Autolytus im Wintermürchen, und gerade der erregt selbst des
strengsten Staatsanwalts Lachlust eher als seine Entrüstung (mit mehr Recht
als Falstaff, an dem sich nur rohe Gemüter ergötzen können, oder gar
Petrucchio. Es gereicht dem deutschen Publikum nicht zur Ehre, daß die
Zähmung der Widerspenstigen, ein nach meinem Geschmack dummes und des
großen Dramatikers unwürdiges Stück, das einzige seiner Stücke ist, das
kleinere Bühnen manchmal aufführen). Autolytus analysiert sich selbst. Er
ist „unter dem Merkur geworfen". Nachdem er den jungen Schäfer bestohlen
hat, beschließt er, das Schafschurfest zu besuchen, und „wenn ich die Scherer
nicht zu Schafen mache, so möge man mich ausstoßen und meinen Namen
auf das Register der Tugend setzen". Den jungen Schäfer hat nur seine
Gutmütigkeit zum Schafe gemacht, die übrigen werden ihm von Eitelkeit,
Neugier und Lüsternheit in die Schlingen getrieben. Er erscheint als Hausierer,
wird seinen ganzen Plunder los; „sie drängten sich danach, als wenn alle
meine Lumpereien geweiht wären und dem Käufer Segen brächten". Dabei
sieht er, wessen Börse das beste Ansehen hat. Dann verteilt er Dirnenlieder
und lehrt die Melodie: „Das zog die ganze Herde so zu mir, daß alle
ihre übrigen Sinne in die Ohren steckten; man konnte ihnen die Schnürbrust
lüften, den Beutel vom Leibe schneiden, sie merkten nichts." Und nachdem
er mit Florizel ein glänzendes Geschäft gemacht, und dieses ihm zu weitern
glänzenden Geschäften verholfen hat, schließt er: „Wenn ich auch Lust hätte,
ehrlich zu sein, so sehe ich doch, das Schicksal will es nicht; es läßt mir die
Beuteln den Mund fallen." Ist der Kerl nicht ein vortrefflicher Repräsentant
der großen Zunft derer, die sich auf das muncius ckkvipi berufen? Die
meinen, es sei ja geradezu unrecht, nicht zu nehmen, was die Dummheit so
freigebig spendet, einer Zunft, die nicht aussterben kann, weil die Dummen
nicht alle werden? Einer Zunft, die sich in unsrer Zeit um die interessante
Gesellschaft der Gründer, der Universalmittelfabrikanten, der Neklamevirtuosen
bereichert hat, und die sich nach mancher Leute Meinung rühmen darf, die
Hochmögenden der Vereinigten Staaten zu Vorstehern zu haben? Auch bei
einer „feinen Ptene" pflegen ja die Heiterkeit über die Dummheit der Ge¬
schädigten und die Schadenfreude den Unwillen über den Betrüger zu über¬
wiegen. sodaß also im allgemeinen Handlungen, die im juristischen Sinne
zweifellos Verbrechen sind, in minderen Grade sittlichen Abscheu erregen als
die Mordtaten hochgestellter Gewaltmenschen, für die es weder Richter noch


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[0260] Verbrecher bei Shakespeare Rechtszustand zu seiner Aufrechterhaltung besondrer Maßregeln bedarf, die nicht alle ethisch gefordert sind, unter Umständen sogar mit ethischen Forderungen in Widerspruch geraten können, was natürlich soviel wie möglich vermieden werden soll. Im juristischen Sinne ist Vergehen oder Verbrechen alles, was die Gesetze verbieten, und die Gesetze ändern sich mit den Bedürfnissen des Staates. Unter allen Missetätern, die uns Shakespeare vorführt, finde ich nur einen, der in allen Staaten alter und neuer Zeit verurteilt worden wäre, den Schelm Autolytus im Wintermürchen, und gerade der erregt selbst des strengsten Staatsanwalts Lachlust eher als seine Entrüstung (mit mehr Recht als Falstaff, an dem sich nur rohe Gemüter ergötzen können, oder gar Petrucchio. Es gereicht dem deutschen Publikum nicht zur Ehre, daß die Zähmung der Widerspenstigen, ein nach meinem Geschmack dummes und des großen Dramatikers unwürdiges Stück, das einzige seiner Stücke ist, das kleinere Bühnen manchmal aufführen). Autolytus analysiert sich selbst. Er ist „unter dem Merkur geworfen". Nachdem er den jungen Schäfer bestohlen hat, beschließt er, das Schafschurfest zu besuchen, und „wenn ich die Scherer nicht zu Schafen mache, so möge man mich ausstoßen und meinen Namen auf das Register der Tugend setzen". Den jungen Schäfer hat nur seine Gutmütigkeit zum Schafe gemacht, die übrigen werden ihm von Eitelkeit, Neugier und Lüsternheit in die Schlingen getrieben. Er erscheint als Hausierer, wird seinen ganzen Plunder los; „sie drängten sich danach, als wenn alle meine Lumpereien geweiht wären und dem Käufer Segen brächten". Dabei sieht er, wessen Börse das beste Ansehen hat. Dann verteilt er Dirnenlieder und lehrt die Melodie: „Das zog die ganze Herde so zu mir, daß alle ihre übrigen Sinne in die Ohren steckten; man konnte ihnen die Schnürbrust lüften, den Beutel vom Leibe schneiden, sie merkten nichts." Und nachdem er mit Florizel ein glänzendes Geschäft gemacht, und dieses ihm zu weitern glänzenden Geschäften verholfen hat, schließt er: „Wenn ich auch Lust hätte, ehrlich zu sein, so sehe ich doch, das Schicksal will es nicht; es läßt mir die Beuteln den Mund fallen." Ist der Kerl nicht ein vortrefflicher Repräsentant der großen Zunft derer, die sich auf das muncius ckkvipi berufen? Die meinen, es sei ja geradezu unrecht, nicht zu nehmen, was die Dummheit so freigebig spendet, einer Zunft, die nicht aussterben kann, weil die Dummen nicht alle werden? Einer Zunft, die sich in unsrer Zeit um die interessante Gesellschaft der Gründer, der Universalmittelfabrikanten, der Neklamevirtuosen bereichert hat, und die sich nach mancher Leute Meinung rühmen darf, die Hochmögenden der Vereinigten Staaten zu Vorstehern zu haben? Auch bei einer „feinen Ptene" pflegen ja die Heiterkeit über die Dummheit der Ge¬ schädigten und die Schadenfreude den Unwillen über den Betrüger zu über¬ wiegen. sodaß also im allgemeinen Handlungen, die im juristischen Sinne zweifellos Verbrechen sind, in minderen Grade sittlichen Abscheu erregen als die Mordtaten hochgestellter Gewaltmenschen, für die es weder Richter noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/260>, abgerufen am 23.07.2024.