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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

richterliche Beurteilung gibt. (Auch der König im Hamlet und Hamlet selbst
gehören zu ihnen.) Diesen Mördern nahe stehn ihre Werkzeuge: Halbschurken,
die von ihren Gebietern gezwungen oder verlockt Verbrechen begehn. Einer
von diesen liefert Shakespeare den Stoff zu einer Szene, die mir als die
Krone aller seiner Schöpfungen erscheint: die Szene zwischen Hubert und
Arthur im König Johann. Ein roher Henker, überwunden durch die von der
Angst eingegebne Beredsamkeit eines unschuldigen Kindes! Wie ehrt es
Shakespeares Herz, daß er einen solchen Erfolg als möglich hinstellt in einer
Zeit, wo Richter auf den wahnsinnigen Verdacht der Hexerei hin kleine Kinder
foltern und lebendig verbrennen ließen! (Überhaupt muß man sich über die
Zartheit und Zärtlichkeit wundern, die einen so hervorstechenden Charakterzug
Shakespeares ausmachen; der Roheit seiner Zeit zahlt er seinen Tribut mit
derben Späßen und reichlichen Mordtaten.) In welchem Grade der Begriff
des Verbrechens von der Gesetzgebung abhängt, zeigt "Maß für Maß". Nicht
die liederlichen jungen Edelleute, die Lucio repräsentiert, faßt das harte Gesetz
des Lord Angelo, sondern Claudia soll sterben, dessen Gewissensehe noch ent¬
schuldbarer ist als die Goethes. Sie ist ganz mein Weib, sagt er von
seiner Julia:


Nur daß wir noch bisher nicht kund getan
Den Stand nach außen hin, dies unterblieb
Um einer nicht bezahlten Mitgift willen,
Die noch in der Verwandtschaft Truhen liegt.

Angelo aber ist eine der für die Kriminalpsychologen ergiebigsten Gestalten
des Dichters, weil an ihm gezeigt wird, wie sich ein edler und ohne Heuchelei
sittenstrenger Mann zu einem wirklichen Sittlichkeitsverbrechen schlimmster Art
hinreißen läßt, das auch von der heutigen Justiz als solches behandelt werden
würde. Und er begeht es fast unmittelbar nach der Abweisung des Escalus,
der für Claudio bittet. "Ein andres ist, versucht sein, Escalus, ein andres
fallen." Und er selbst fällt bei der ersten Versuchung!

Ja, Shakespeare ist unerschöpflich, aber doch für ethische Untersuchungen
nicht ganz ohne Vorsicht zu benutzen. Sollen poetische Schöpfungen für solche
brauchbar sein, dann muß der Schöpfer selbst gesund empfinden, muß uns
die guten Charaktere so darstellen, daß sie uns sympathisch sind, die bösen
und schlechten so, daß sie unsern Abscheu oder unsre Verachtung hervorrufend
Das ist bei Shakespeare im allgemeinen, aber nicht ausnahmslos der Fall.
Er mutet uns Teilnahme für Timon von Athen zu, den Undank in Menschen¬
haß hineintreibe, malt ihn aber nicht als vernünftigen und edelmütigen Wohl¬
täter, sondern als verrückten Verschwender und Züchter von Schmarotzern.
Ähnlich Verhaltes sich mit König Lear, dem Altersnarren. Und im Kaufmann
von Venedig sollen wir den Shylock verabscheuen, verachten und verlachen,
dessen Haß gegen Antonio durch die verächtliche Behandlung, die er von
diesem erduldet, gerechtfertigt erscheint, sollen dagegen nicht allein für Antonio


Grenzboten I 1909 33
Verbrecher bei Shakespeare

richterliche Beurteilung gibt. (Auch der König im Hamlet und Hamlet selbst
gehören zu ihnen.) Diesen Mördern nahe stehn ihre Werkzeuge: Halbschurken,
die von ihren Gebietern gezwungen oder verlockt Verbrechen begehn. Einer
von diesen liefert Shakespeare den Stoff zu einer Szene, die mir als die
Krone aller seiner Schöpfungen erscheint: die Szene zwischen Hubert und
Arthur im König Johann. Ein roher Henker, überwunden durch die von der
Angst eingegebne Beredsamkeit eines unschuldigen Kindes! Wie ehrt es
Shakespeares Herz, daß er einen solchen Erfolg als möglich hinstellt in einer
Zeit, wo Richter auf den wahnsinnigen Verdacht der Hexerei hin kleine Kinder
foltern und lebendig verbrennen ließen! (Überhaupt muß man sich über die
Zartheit und Zärtlichkeit wundern, die einen so hervorstechenden Charakterzug
Shakespeares ausmachen; der Roheit seiner Zeit zahlt er seinen Tribut mit
derben Späßen und reichlichen Mordtaten.) In welchem Grade der Begriff
des Verbrechens von der Gesetzgebung abhängt, zeigt „Maß für Maß". Nicht
die liederlichen jungen Edelleute, die Lucio repräsentiert, faßt das harte Gesetz
des Lord Angelo, sondern Claudia soll sterben, dessen Gewissensehe noch ent¬
schuldbarer ist als die Goethes. Sie ist ganz mein Weib, sagt er von
seiner Julia:


Nur daß wir noch bisher nicht kund getan
Den Stand nach außen hin, dies unterblieb
Um einer nicht bezahlten Mitgift willen,
Die noch in der Verwandtschaft Truhen liegt.

Angelo aber ist eine der für die Kriminalpsychologen ergiebigsten Gestalten
des Dichters, weil an ihm gezeigt wird, wie sich ein edler und ohne Heuchelei
sittenstrenger Mann zu einem wirklichen Sittlichkeitsverbrechen schlimmster Art
hinreißen läßt, das auch von der heutigen Justiz als solches behandelt werden
würde. Und er begeht es fast unmittelbar nach der Abweisung des Escalus,
der für Claudio bittet. „Ein andres ist, versucht sein, Escalus, ein andres
fallen." Und er selbst fällt bei der ersten Versuchung!

Ja, Shakespeare ist unerschöpflich, aber doch für ethische Untersuchungen
nicht ganz ohne Vorsicht zu benutzen. Sollen poetische Schöpfungen für solche
brauchbar sein, dann muß der Schöpfer selbst gesund empfinden, muß uns
die guten Charaktere so darstellen, daß sie uns sympathisch sind, die bösen
und schlechten so, daß sie unsern Abscheu oder unsre Verachtung hervorrufend
Das ist bei Shakespeare im allgemeinen, aber nicht ausnahmslos der Fall.
Er mutet uns Teilnahme für Timon von Athen zu, den Undank in Menschen¬
haß hineintreibe, malt ihn aber nicht als vernünftigen und edelmütigen Wohl¬
täter, sondern als verrückten Verschwender und Züchter von Schmarotzern.
Ähnlich Verhaltes sich mit König Lear, dem Altersnarren. Und im Kaufmann
von Venedig sollen wir den Shylock verabscheuen, verachten und verlachen,
dessen Haß gegen Antonio durch die verächtliche Behandlung, die er von
diesem erduldet, gerechtfertigt erscheint, sollen dagegen nicht allein für Antonio


Grenzboten I 1909 33
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[0261] Verbrecher bei Shakespeare richterliche Beurteilung gibt. (Auch der König im Hamlet und Hamlet selbst gehören zu ihnen.) Diesen Mördern nahe stehn ihre Werkzeuge: Halbschurken, die von ihren Gebietern gezwungen oder verlockt Verbrechen begehn. Einer von diesen liefert Shakespeare den Stoff zu einer Szene, die mir als die Krone aller seiner Schöpfungen erscheint: die Szene zwischen Hubert und Arthur im König Johann. Ein roher Henker, überwunden durch die von der Angst eingegebne Beredsamkeit eines unschuldigen Kindes! Wie ehrt es Shakespeares Herz, daß er einen solchen Erfolg als möglich hinstellt in einer Zeit, wo Richter auf den wahnsinnigen Verdacht der Hexerei hin kleine Kinder foltern und lebendig verbrennen ließen! (Überhaupt muß man sich über die Zartheit und Zärtlichkeit wundern, die einen so hervorstechenden Charakterzug Shakespeares ausmachen; der Roheit seiner Zeit zahlt er seinen Tribut mit derben Späßen und reichlichen Mordtaten.) In welchem Grade der Begriff des Verbrechens von der Gesetzgebung abhängt, zeigt „Maß für Maß". Nicht die liederlichen jungen Edelleute, die Lucio repräsentiert, faßt das harte Gesetz des Lord Angelo, sondern Claudia soll sterben, dessen Gewissensehe noch ent¬ schuldbarer ist als die Goethes. Sie ist ganz mein Weib, sagt er von seiner Julia: Nur daß wir noch bisher nicht kund getan Den Stand nach außen hin, dies unterblieb Um einer nicht bezahlten Mitgift willen, Die noch in der Verwandtschaft Truhen liegt. Angelo aber ist eine der für die Kriminalpsychologen ergiebigsten Gestalten des Dichters, weil an ihm gezeigt wird, wie sich ein edler und ohne Heuchelei sittenstrenger Mann zu einem wirklichen Sittlichkeitsverbrechen schlimmster Art hinreißen läßt, das auch von der heutigen Justiz als solches behandelt werden würde. Und er begeht es fast unmittelbar nach der Abweisung des Escalus, der für Claudio bittet. „Ein andres ist, versucht sein, Escalus, ein andres fallen." Und er selbst fällt bei der ersten Versuchung! Ja, Shakespeare ist unerschöpflich, aber doch für ethische Untersuchungen nicht ganz ohne Vorsicht zu benutzen. Sollen poetische Schöpfungen für solche brauchbar sein, dann muß der Schöpfer selbst gesund empfinden, muß uns die guten Charaktere so darstellen, daß sie uns sympathisch sind, die bösen und schlechten so, daß sie unsern Abscheu oder unsre Verachtung hervorrufend Das ist bei Shakespeare im allgemeinen, aber nicht ausnahmslos der Fall. Er mutet uns Teilnahme für Timon von Athen zu, den Undank in Menschen¬ haß hineintreibe, malt ihn aber nicht als vernünftigen und edelmütigen Wohl¬ täter, sondern als verrückten Verschwender und Züchter von Schmarotzern. Ähnlich Verhaltes sich mit König Lear, dem Altersnarren. Und im Kaufmann von Venedig sollen wir den Shylock verabscheuen, verachten und verlachen, dessen Haß gegen Antonio durch die verächtliche Behandlung, die er von diesem erduldet, gerechtfertigt erscheint, sollen dagegen nicht allein für Antonio Grenzboten I 1909 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/261>, abgerufen am 23.07.2024.