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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

Jener entdeckt in seinem Opfer den Vater, dieser den einzigen Sohn. Jeder
von beiden bricht in Jammern aus über die unwissentlich und unter dem
Druck von oben begangne Untat und verwünscht die Anstifter und An¬
führer des Bürgerkrieges:


O schlimme Zeit, die solch Beginnen zeugt!
Aus London ward vom König ich gemahnt!
Mein Vater, als Vasall des Grafen Warwick,
Von dem gemahnt, kam auf der Dorischen Seite.
Und ich, der ich von seiner Hand das Leben
Empfangen, raubt es ihm mit meiner Hand.
Verzeih mir, Gott, nicht wußt ich, was ich tat.

Die englische Geschichte jener Zeit, die Shakespeare erzählt, stimmt ja
nun nicht ganz mit der wirklichen, aber an Wildheit, Grausamkeit und Gesetz¬
losigkeit gibt diese jener nichts nach. In der ersten Hälfte des Mittelalters
hat die Religion Jesu die wilde Selbstsucht der Großen gebändigt und
namentlich eine Reihe deutscher Könige zu Musterregenten erzogen. Aber das
Organ dieser Religion, die Kirche, versagte, je länger desto mehr. Zu Macht,
Glanz und Reichtum gelangt, wurde sie nicht allein selbst ungerechte Unter¬
drückerin und Ausbeuterin, sondern erfand, dem Fanatismus und dem Aber¬
glauben ergeben, neue abscheuliche Formen der Ungerechtigkeit; und nicht bloß
im englischen Bürgerkriege, sondern auch in der Kriegsführung und in der
Kriminaljustiz ganz Europas wurde das unter den Vorwänden des Rechts,
des Staatswohls und des Seelenheils verübte Verbrechen die Regel, ein Zu¬
stand, der im Orient, annähernd auch in bekannten Gegenden "Halbasiens",
bis heute herrscht. Das eigentliche Europa daraus zu erlösen, haben zusammen¬
gewirkt: das von der französischen Revolution angebahnte Verfassungsleben,
das die Regierungen unter die Kontrolle der Völker stellt (darin, in der
Wiederherstellung der alten Stünderechte in einer neuen Form, in der Kon¬
trolle der Regierungen, nicht in der unmöglichen "Selbstregierung" der Völker
liegt das Wesen der Konstitutionen), und die moderne Technik, die der Kon¬
trolle die Presse als kräftiges Organ schafft und der Zentralgewalt die Mittel
verleiht, die Ordnung des Rechtsstaats auch in einem großen Gebiet gegen
den Willen kleiner Tyrannen durchzusetzen. Die zweite Reform war schon
unter dem Absolutismus, bei noch unvollkommner Technik, von einzelnen aus¬
gezeichneten Monarchen eingeleitet worden. Beide Reformen zusammen haben
die äußern Bedingungen geschaffen, unter denen die natürliche sittliche Anlage
der Masse sich entfalten und der ihr zu Hilfe kommende Einfluß der Religion
wirksam werden kann.

Damit hat die sogenannte Justiz wenigstens aufgehört, das Werkzeug
und die Verkörperung der Ungerechtigkeit zu sein. Aber daß sich ihr Wirken
mit der Erfüllung ethischer Forderungen vollständig decke, das ist damit noch
nicht gegeben, ja es ist im allgemeinen nicht möglich, weil jeder bestehende


Verbrecher bei Shakespeare

Jener entdeckt in seinem Opfer den Vater, dieser den einzigen Sohn. Jeder
von beiden bricht in Jammern aus über die unwissentlich und unter dem
Druck von oben begangne Untat und verwünscht die Anstifter und An¬
führer des Bürgerkrieges:


O schlimme Zeit, die solch Beginnen zeugt!
Aus London ward vom König ich gemahnt!
Mein Vater, als Vasall des Grafen Warwick,
Von dem gemahnt, kam auf der Dorischen Seite.
Und ich, der ich von seiner Hand das Leben
Empfangen, raubt es ihm mit meiner Hand.
Verzeih mir, Gott, nicht wußt ich, was ich tat.

Die englische Geschichte jener Zeit, die Shakespeare erzählt, stimmt ja
nun nicht ganz mit der wirklichen, aber an Wildheit, Grausamkeit und Gesetz¬
losigkeit gibt diese jener nichts nach. In der ersten Hälfte des Mittelalters
hat die Religion Jesu die wilde Selbstsucht der Großen gebändigt und
namentlich eine Reihe deutscher Könige zu Musterregenten erzogen. Aber das
Organ dieser Religion, die Kirche, versagte, je länger desto mehr. Zu Macht,
Glanz und Reichtum gelangt, wurde sie nicht allein selbst ungerechte Unter¬
drückerin und Ausbeuterin, sondern erfand, dem Fanatismus und dem Aber¬
glauben ergeben, neue abscheuliche Formen der Ungerechtigkeit; und nicht bloß
im englischen Bürgerkriege, sondern auch in der Kriegsführung und in der
Kriminaljustiz ganz Europas wurde das unter den Vorwänden des Rechts,
des Staatswohls und des Seelenheils verübte Verbrechen die Regel, ein Zu¬
stand, der im Orient, annähernd auch in bekannten Gegenden „Halbasiens",
bis heute herrscht. Das eigentliche Europa daraus zu erlösen, haben zusammen¬
gewirkt: das von der französischen Revolution angebahnte Verfassungsleben,
das die Regierungen unter die Kontrolle der Völker stellt (darin, in der
Wiederherstellung der alten Stünderechte in einer neuen Form, in der Kon¬
trolle der Regierungen, nicht in der unmöglichen „Selbstregierung" der Völker
liegt das Wesen der Konstitutionen), und die moderne Technik, die der Kon¬
trolle die Presse als kräftiges Organ schafft und der Zentralgewalt die Mittel
verleiht, die Ordnung des Rechtsstaats auch in einem großen Gebiet gegen
den Willen kleiner Tyrannen durchzusetzen. Die zweite Reform war schon
unter dem Absolutismus, bei noch unvollkommner Technik, von einzelnen aus¬
gezeichneten Monarchen eingeleitet worden. Beide Reformen zusammen haben
die äußern Bedingungen geschaffen, unter denen die natürliche sittliche Anlage
der Masse sich entfalten und der ihr zu Hilfe kommende Einfluß der Religion
wirksam werden kann.

Damit hat die sogenannte Justiz wenigstens aufgehört, das Werkzeug
und die Verkörperung der Ungerechtigkeit zu sein. Aber daß sich ihr Wirken
mit der Erfüllung ethischer Forderungen vollständig decke, das ist damit noch
nicht gegeben, ja es ist im allgemeinen nicht möglich, weil jeder bestehende


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[0259] Verbrecher bei Shakespeare Jener entdeckt in seinem Opfer den Vater, dieser den einzigen Sohn. Jeder von beiden bricht in Jammern aus über die unwissentlich und unter dem Druck von oben begangne Untat und verwünscht die Anstifter und An¬ führer des Bürgerkrieges: O schlimme Zeit, die solch Beginnen zeugt! Aus London ward vom König ich gemahnt! Mein Vater, als Vasall des Grafen Warwick, Von dem gemahnt, kam auf der Dorischen Seite. Und ich, der ich von seiner Hand das Leben Empfangen, raubt es ihm mit meiner Hand. Verzeih mir, Gott, nicht wußt ich, was ich tat. Die englische Geschichte jener Zeit, die Shakespeare erzählt, stimmt ja nun nicht ganz mit der wirklichen, aber an Wildheit, Grausamkeit und Gesetz¬ losigkeit gibt diese jener nichts nach. In der ersten Hälfte des Mittelalters hat die Religion Jesu die wilde Selbstsucht der Großen gebändigt und namentlich eine Reihe deutscher Könige zu Musterregenten erzogen. Aber das Organ dieser Religion, die Kirche, versagte, je länger desto mehr. Zu Macht, Glanz und Reichtum gelangt, wurde sie nicht allein selbst ungerechte Unter¬ drückerin und Ausbeuterin, sondern erfand, dem Fanatismus und dem Aber¬ glauben ergeben, neue abscheuliche Formen der Ungerechtigkeit; und nicht bloß im englischen Bürgerkriege, sondern auch in der Kriegsführung und in der Kriminaljustiz ganz Europas wurde das unter den Vorwänden des Rechts, des Staatswohls und des Seelenheils verübte Verbrechen die Regel, ein Zu¬ stand, der im Orient, annähernd auch in bekannten Gegenden „Halbasiens", bis heute herrscht. Das eigentliche Europa daraus zu erlösen, haben zusammen¬ gewirkt: das von der französischen Revolution angebahnte Verfassungsleben, das die Regierungen unter die Kontrolle der Völker stellt (darin, in der Wiederherstellung der alten Stünderechte in einer neuen Form, in der Kon¬ trolle der Regierungen, nicht in der unmöglichen „Selbstregierung" der Völker liegt das Wesen der Konstitutionen), und die moderne Technik, die der Kon¬ trolle die Presse als kräftiges Organ schafft und der Zentralgewalt die Mittel verleiht, die Ordnung des Rechtsstaats auch in einem großen Gebiet gegen den Willen kleiner Tyrannen durchzusetzen. Die zweite Reform war schon unter dem Absolutismus, bei noch unvollkommner Technik, von einzelnen aus¬ gezeichneten Monarchen eingeleitet worden. Beide Reformen zusammen haben die äußern Bedingungen geschaffen, unter denen die natürliche sittliche Anlage der Masse sich entfalten und der ihr zu Hilfe kommende Einfluß der Religion wirksam werden kann. Damit hat die sogenannte Justiz wenigstens aufgehört, das Werkzeug und die Verkörperung der Ungerechtigkeit zu sein. Aber daß sich ihr Wirken mit der Erfüllung ethischer Forderungen vollständig decke, das ist damit noch nicht gegeben, ja es ist im allgemeinen nicht möglich, weil jeder bestehende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/259>, abgerufen am 23.07.2024.