Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Verbrecher bei Shakespeare werden. Auch nach Absetzung des bei Sedan gefangnen Napoleon haben die Shakespeare -- das ist der einzige große Fehler, den man ihm vorwerfen Verbrecher bei Shakespeare werden. Auch nach Absetzung des bei Sedan gefangnen Napoleon haben die Shakespeare — das ist der einzige große Fehler, den man ihm vorwerfen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0258" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312609"/> <fw type="header" place="top"> Verbrecher bei Shakespeare</fw><lb/> <p xml:id="ID_951" prev="#ID_950"> werden. Auch nach Absetzung des bei Sedan gefangnen Napoleon haben die<lb/> Monarchisten ohne Zweifel die Anarchie für unvermeidlich gehalten, und der<lb/> Kommuneaufstand schien ihnen zunächst recht zu geben, allein nach dessen<lb/> Niederwerfung hat dann die Republik die Ordnung aufrecht zu erhalten ver¬<lb/> mocht und sich nun schon beinahe vier Jahrzehnte bewährt. Die Ordnung,<lb/> die der Richter schützt, ist eben nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete, dio<lb/> et nunc, vorhandne Ordnung, eine Ordnung, die von ihrer Nechtsnachfolgerin<lb/> für grundschlecht erklärt werden kann; darum stimmt bei sogenannten poli¬<lb/> tischen Verbrechen das ethische Urteil mit dem historischen sehr oft nicht<lb/> überein. Ernst Moritz Arndt, einer der wenigen Menschen, deren politisches<lb/> Denken und Fühlen ganz und gar unter der Herrschaft eines sittlich geläuterten<lb/> Charakters stand, hat in seinem Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten<lb/> die Frage, ob deutsche Soldaten solchen Fürsten, die auf der Seite Napoleons<lb/> kämpfen, Gehorsam leisten dürfen, mit einem klaren Nein beantwortet, hat sie<lb/> zum Bruch des Fahneneides aufgefordert und damit im juristischen Sinne<lb/> zweifellos Hochverrat begangen. Über die im Augenblick zu Recht bestehende<lb/> gesellschaftliche Ordnung hat er eine Jdealordnung gestellt, die gar nicht vor¬<lb/> handen war, und die auch heute noch nicht vollständig verwirklicht ist: die des<lb/> deutschen Volkes. Kronprätendenten, schreibt Gott, „die kraft eines wirklichen<lb/> oder vermeintlichen Rechtsanspruchs auf den Thron mehr oder weniger gewalt¬<lb/> same Mittel anwenden, ihr Recht geltend zu machen", seien, mit dem Ma߬<lb/> stabe ihres Zeitalters gemessen, keine Verbrecher. Ich kann aber zwischen<lb/> Richard dem Dritten, den er einen ganz gewöhnlichen Verbrecher nennt, und<lb/> den übrigen Kronprätendenten, Königsmördern und Königsmachern der Jork-<lb/> tetralogie keinen wesentlichen Unterschied finden; Richard zeichnet sich vor den<lb/> andern nur durch größere Gewissenlosigkeit, Herzlosigkeit und Bosheit aus,<lb/> und auch er (ebenso Macbeth) ist nicht auf der Richtstatt, sondern auf dem<lb/> Schlachtfelde gerichtet worden. Diese Tetralogie zeigt uns eine Gesellschaft,<lb/> deren Machthaber geradezu die Verkörperung des Unrechts geworden waren,<lb/> sodaß, ihnen nicht gehorchen und die in ihrem Namen gesprochn«« Urteile<lb/> nicht achten, sittliche Pflicht erscheinen konnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_952" next="#ID_953"> Shakespeare — das ist der einzige große Fehler, den man ihm vorwerfen<lb/> kann — empfand so aristokratisch, daß er den Geruch des Volkes nicht ver¬<lb/> trug und es gewöhnlich als einen rohen und gemeinen Haufen von elovns<lb/> darstellt; nur in den Luftiger Weibern feiert er Bttrgertüchtigkeit einem ver-<lb/> kommnen Adelssprößling gegenüber, und in einigen Schäferszenen läßt er auch<lb/> dem Landvolk einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren. Aber im dritten Teile<lb/> von Heinrich dem Vierten (5. Szene des 1. Auszugs) deutet er doch an, daß<lb/> die Grundlagen der sittlichen und damit auch der Staatsordnung nur noch<lb/> im niedern Volke zu finden seien, das der von oben eindringenden Zerrüttung<lb/> und Verderbnis noch widerstrebe. Er läßt einen Sohn und einen Vater<lb/> auftreten, jeden mit der Plünderung eines von ihm Erschlagnen beschäftigt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0258]
Verbrecher bei Shakespeare
werden. Auch nach Absetzung des bei Sedan gefangnen Napoleon haben die
Monarchisten ohne Zweifel die Anarchie für unvermeidlich gehalten, und der
Kommuneaufstand schien ihnen zunächst recht zu geben, allein nach dessen
Niederwerfung hat dann die Republik die Ordnung aufrecht zu erhalten ver¬
mocht und sich nun schon beinahe vier Jahrzehnte bewährt. Die Ordnung,
die der Richter schützt, ist eben nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete, dio
et nunc, vorhandne Ordnung, eine Ordnung, die von ihrer Nechtsnachfolgerin
für grundschlecht erklärt werden kann; darum stimmt bei sogenannten poli¬
tischen Verbrechen das ethische Urteil mit dem historischen sehr oft nicht
überein. Ernst Moritz Arndt, einer der wenigen Menschen, deren politisches
Denken und Fühlen ganz und gar unter der Herrschaft eines sittlich geläuterten
Charakters stand, hat in seinem Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten
die Frage, ob deutsche Soldaten solchen Fürsten, die auf der Seite Napoleons
kämpfen, Gehorsam leisten dürfen, mit einem klaren Nein beantwortet, hat sie
zum Bruch des Fahneneides aufgefordert und damit im juristischen Sinne
zweifellos Hochverrat begangen. Über die im Augenblick zu Recht bestehende
gesellschaftliche Ordnung hat er eine Jdealordnung gestellt, die gar nicht vor¬
handen war, und die auch heute noch nicht vollständig verwirklicht ist: die des
deutschen Volkes. Kronprätendenten, schreibt Gott, „die kraft eines wirklichen
oder vermeintlichen Rechtsanspruchs auf den Thron mehr oder weniger gewalt¬
same Mittel anwenden, ihr Recht geltend zu machen", seien, mit dem Ma߬
stabe ihres Zeitalters gemessen, keine Verbrecher. Ich kann aber zwischen
Richard dem Dritten, den er einen ganz gewöhnlichen Verbrecher nennt, und
den übrigen Kronprätendenten, Königsmördern und Königsmachern der Jork-
tetralogie keinen wesentlichen Unterschied finden; Richard zeichnet sich vor den
andern nur durch größere Gewissenlosigkeit, Herzlosigkeit und Bosheit aus,
und auch er (ebenso Macbeth) ist nicht auf der Richtstatt, sondern auf dem
Schlachtfelde gerichtet worden. Diese Tetralogie zeigt uns eine Gesellschaft,
deren Machthaber geradezu die Verkörperung des Unrechts geworden waren,
sodaß, ihnen nicht gehorchen und die in ihrem Namen gesprochn«« Urteile
nicht achten, sittliche Pflicht erscheinen konnte.
Shakespeare — das ist der einzige große Fehler, den man ihm vorwerfen
kann — empfand so aristokratisch, daß er den Geruch des Volkes nicht ver¬
trug und es gewöhnlich als einen rohen und gemeinen Haufen von elovns
darstellt; nur in den Luftiger Weibern feiert er Bttrgertüchtigkeit einem ver-
kommnen Adelssprößling gegenüber, und in einigen Schäferszenen läßt er auch
dem Landvolk einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren. Aber im dritten Teile
von Heinrich dem Vierten (5. Szene des 1. Auszugs) deutet er doch an, daß
die Grundlagen der sittlichen und damit auch der Staatsordnung nur noch
im niedern Volke zu finden seien, das der von oben eindringenden Zerrüttung
und Verderbnis noch widerstrebe. Er läßt einen Sohn und einen Vater
auftreten, jeden mit der Plünderung eines von ihm Erschlagnen beschäftigt.
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