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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

heit der Strafen; die juristische Gerechtigkeit mag in den meisten Fällen schreiendes
Unrecht sein, aber daß überhaupt irgendwie durch Strafen Gerechtigkeit geübt
oder wenigstens angestrebt wird, das befriedigt das Rechtsgefühl der Masse und
gibt ihr zugleich ein Gefühl der Sicherheit. Das wichtigste aller Ergebnisse
dieser neuern Forschungen und Erörterungen aber besteht in der allgemein
verbreiteten Einsicht, daß Verhütung der Verbrechen die Hauptsache ist, daß
mit den Verbrechern, die man hat, nicht mehr viel anzufangen ist, daß aber
durch soziale Reformen und durch Fürsorgeerziehung der Entstehung neuer
Verbrechen vorgebeugt werden kann. Die sozialen Reformen sind nicht Sache
des Richters, an der Fürsorgeerziehung wirkt er nur insofern mit, als er sie
einzuleiten hat. Auch die Kenntnis der Genesis der Verbrechen, die aus dem
Studium der Lebensgeschichte wirklicher Verbrecher und von Schöpfungen seelen-
knndiger Dichter gewonnen wird, nützt eigentlich nur dem Pädagogen, dem
Geistlichen, dem Sozialpolitiker, nicht dem Richter. Höchstens, daß es dessen
Blick für mildernde Umstände schärft, aber an der Leitung des Strafprozesses
kauu es kaum etwas ändern.

Dagegen scheint mir etwas andres von großer Wichtigkeit für die Rechts¬
pflege zu sein, was Shakespeare vielfach illustriert, und woran weder Liszt
gedacht hat, noch einer der beiden von ihm gelobten Autoren, "der deutsche
Professor der Rechtswissenschaft und der dänische Polizeibeamte", nämlich: daß
das Verbrechen im juristischen Sinne keineswegs identisch ist mit dem Ver¬
brechen im ethischen Sinne. Ist denn Brutus überhaupt ein Verbrecher?
Er, dein Cieero zujubelt, der feinfühlendste Mensch, der tüchtigste Jurist, der
größte Staatstheoretiker seiner Zeit? Nicht im Gerichtshof, sondern auf dem
Schlachtfelde ist ja des Brutus Sache entschieden worden, und Gott selbst
meint, Hütte er gesiegt, so würde das Urteil der Geschichte wohl anders aus¬
gefallen sein; zwischen den historischen und den ethischen Urteilen gähne eine
unüberbrückbare Kluft; auf welche Seite man sich stellen solle, das könne nur
die Individualität eines jeden entscheiden. Gerade für den Juristen aber ist
die Frage bei politischen Verbrechen ein für allemal entschieden: er hat sich
auf die historische Seite zu stellen, die dem Erfolg recht gibt, auf die Seite
dessen, der im Augenblick die Macht hat. Und der war vorläufig Cäsar nicht,
denn dessen Macht war mit seinem Tode erloschen, seine Parteigänger aber
hatten sie erst in einem Kriege zu erringen. Cäsar, meint Gott, war zwar
ein Usurpator -- das sei im Grunde genommen jeder Gewalthaber --, aber er
war doch nun einmal der Repräsentant der Gesellschaft; in der Verletzung der
Lebensinteressen der Gesellschaft besteht das Verbrechen; er war ein Bollwerk
der Gesellschaft gegen die drohende Rückkehr des Chaos. Aber die Republikaner
waren der Überzeugung, daß sich die Ordnung auch ohne Alleinherrscher mit
der republikanischen Verfassung, die sie als noch zu Recht bestehend ansahen,
aufrecht erhalten lasse. Diese Überzeugung war ohne Zweifel irrig, aber
solche Irrtümer können eben nnr durch den Gang der Geschichte widerlegt


Verbrecher bei Shakespeare

heit der Strafen; die juristische Gerechtigkeit mag in den meisten Fällen schreiendes
Unrecht sein, aber daß überhaupt irgendwie durch Strafen Gerechtigkeit geübt
oder wenigstens angestrebt wird, das befriedigt das Rechtsgefühl der Masse und
gibt ihr zugleich ein Gefühl der Sicherheit. Das wichtigste aller Ergebnisse
dieser neuern Forschungen und Erörterungen aber besteht in der allgemein
verbreiteten Einsicht, daß Verhütung der Verbrechen die Hauptsache ist, daß
mit den Verbrechern, die man hat, nicht mehr viel anzufangen ist, daß aber
durch soziale Reformen und durch Fürsorgeerziehung der Entstehung neuer
Verbrechen vorgebeugt werden kann. Die sozialen Reformen sind nicht Sache
des Richters, an der Fürsorgeerziehung wirkt er nur insofern mit, als er sie
einzuleiten hat. Auch die Kenntnis der Genesis der Verbrechen, die aus dem
Studium der Lebensgeschichte wirklicher Verbrecher und von Schöpfungen seelen-
knndiger Dichter gewonnen wird, nützt eigentlich nur dem Pädagogen, dem
Geistlichen, dem Sozialpolitiker, nicht dem Richter. Höchstens, daß es dessen
Blick für mildernde Umstände schärft, aber an der Leitung des Strafprozesses
kauu es kaum etwas ändern.

Dagegen scheint mir etwas andres von großer Wichtigkeit für die Rechts¬
pflege zu sein, was Shakespeare vielfach illustriert, und woran weder Liszt
gedacht hat, noch einer der beiden von ihm gelobten Autoren, „der deutsche
Professor der Rechtswissenschaft und der dänische Polizeibeamte", nämlich: daß
das Verbrechen im juristischen Sinne keineswegs identisch ist mit dem Ver¬
brechen im ethischen Sinne. Ist denn Brutus überhaupt ein Verbrecher?
Er, dein Cieero zujubelt, der feinfühlendste Mensch, der tüchtigste Jurist, der
größte Staatstheoretiker seiner Zeit? Nicht im Gerichtshof, sondern auf dem
Schlachtfelde ist ja des Brutus Sache entschieden worden, und Gott selbst
meint, Hütte er gesiegt, so würde das Urteil der Geschichte wohl anders aus¬
gefallen sein; zwischen den historischen und den ethischen Urteilen gähne eine
unüberbrückbare Kluft; auf welche Seite man sich stellen solle, das könne nur
die Individualität eines jeden entscheiden. Gerade für den Juristen aber ist
die Frage bei politischen Verbrechen ein für allemal entschieden: er hat sich
auf die historische Seite zu stellen, die dem Erfolg recht gibt, auf die Seite
dessen, der im Augenblick die Macht hat. Und der war vorläufig Cäsar nicht,
denn dessen Macht war mit seinem Tode erloschen, seine Parteigänger aber
hatten sie erst in einem Kriege zu erringen. Cäsar, meint Gott, war zwar
ein Usurpator — das sei im Grunde genommen jeder Gewalthaber —, aber er
war doch nun einmal der Repräsentant der Gesellschaft; in der Verletzung der
Lebensinteressen der Gesellschaft besteht das Verbrechen; er war ein Bollwerk
der Gesellschaft gegen die drohende Rückkehr des Chaos. Aber die Republikaner
waren der Überzeugung, daß sich die Ordnung auch ohne Alleinherrscher mit
der republikanischen Verfassung, die sie als noch zu Recht bestehend ansahen,
aufrecht erhalten lasse. Diese Überzeugung war ohne Zweifel irrig, aber
solche Irrtümer können eben nnr durch den Gang der Geschichte widerlegt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/257>, abgerufen am 23.07.2024.