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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

und seinen Geist mit großer Energie ausbildete und sich durch Tapferkeit
im Kriege wie durch Weisheit im Rat auszeichnete. Es hat ihm alles nichts
genutzt: jedermanns Hand war wider ihn, so ist er wider jedermann. Und
bei seinem Streben nach der Krone kommt ihm seine unwiderstehliche Dialektik
zu Hilfe, deren Siege ihn, zusammen mit den leichten Erfolgen seiner Heuchelei,
die ihm verhaßten Mitmenschen auch noch als Dummköpfe verachten lehrten.
Nachdem er den Thron durch eine Reihe von Verbrechen erkämpft hat, wendet
sich seine Dialektik gegen ihn: der Feind der Menschheit kann nicht ihr Be¬
herrscher sein; wer sie haßt, nicht, wie die Königswürde fordert, für ihr Wohl
sorgen, wer alles Vertrauen selbst verloren und in seiner Umgebung vernichtet
hat, nicht das Vertrauen finden, ohne das kein Vorgesetzter seine Untergebnen
zu leiten imstande ist. Damit ist sein Untergang unvermeidlich geworden.
Richards Verbrechen gehen aus Begehrlichkeit, Jagos Arkaden aus reiner Bosheit
hervor. Dieser hat zwar auch Gelüste, aber die Haupttriebfedern seines Handelns
sind die Wut über das Glück, die Güte, die Größe andrer und der Wunsch,
all dieses Schöne zu zerstören. Die Gemeinheit seiner Gesinnung äußert sich
als Zynismus, aber weil er seinen Zynismen die Farbe der ungeschminkten
Wahrheit zu geben versteht und damit große Klugheit, durchdringenden Scharf¬
sinn verbindet, so wird er von seiner ganzen Umgebung, besonders von
Othello, als der ein wenig ungeschlachte aber grundehrliche Freund und nütz¬
liche Ratgeber geschätzt. Im Zynismus, führt Gott aus, liegen Recht und
Unrecht beieinander. Es ist wahr: unsre ganze Kultur baut sich auf dem
Grunde animalischer, durch menschliche Überlegung noch verstärkter Triebe auf.
Daß sie auch noch hinter den höchsten Kulturerscheinungen stecken, ist richtig,
und der bösartige Zyniker findet nun seine Befriedigung darin, bei jeder Ge¬
legenheit auf dieses dahintersteckende hinzuweisen; die Feinheiten der Kultur,
die den Naturtrieb veredeln, betrachtet er als Masken, die den Trägern abgerissen
werden müssen. Der edle Mensch sieht in diesen Feinheiten, in den edeln Gefühlen,
Verhältnissen und Erzeugnissen, die aus dem Naturboden hervorgehn, gerade den
Zweck des menschlichen Daseins. Er will die Durchschnittsmenschen, die dem
Naturboden noch zu nahe stehn, auf sein Niveau emporheben, der Zyniker will die
Ausnahmemenschen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen herabziehn und
möchte die ganze Kultur zur Natur, womit er die Tierheit meint, zurück¬
schrauben. Freilich, fährt Gott fort, gibt es auch sympathische Zyniker.
Gleich dem bösartigen, haßt auch der edle Zyniker "die entlehnten Federn",
und er zieht sie aus, aber nicht ohne Sorge. Er liebt das Gute, nur durch die
Enttäuschungen, die er erlitten hat, ist er Zyniker geworden; er sieht sich durch
seine Erfahrungen gezwungen, die Menschen für schlechter zu halten, als sie
sich geben, aber um alles in der Welt möchte er keinen Menschen schlechter
machen; findet er wider Erwarten Gutes in einem, so freut er sich dessen.
Jagos grausame Zerstörungslust ist nun noch erotisch gefärbt. Am liebsten
würde er Desdemona selbst besitzen und seine Lüste an ihr befriedigen. Da


Verbrecher bei Shakespeare

und seinen Geist mit großer Energie ausbildete und sich durch Tapferkeit
im Kriege wie durch Weisheit im Rat auszeichnete. Es hat ihm alles nichts
genutzt: jedermanns Hand war wider ihn, so ist er wider jedermann. Und
bei seinem Streben nach der Krone kommt ihm seine unwiderstehliche Dialektik
zu Hilfe, deren Siege ihn, zusammen mit den leichten Erfolgen seiner Heuchelei,
die ihm verhaßten Mitmenschen auch noch als Dummköpfe verachten lehrten.
Nachdem er den Thron durch eine Reihe von Verbrechen erkämpft hat, wendet
sich seine Dialektik gegen ihn: der Feind der Menschheit kann nicht ihr Be¬
herrscher sein; wer sie haßt, nicht, wie die Königswürde fordert, für ihr Wohl
sorgen, wer alles Vertrauen selbst verloren und in seiner Umgebung vernichtet
hat, nicht das Vertrauen finden, ohne das kein Vorgesetzter seine Untergebnen
zu leiten imstande ist. Damit ist sein Untergang unvermeidlich geworden.
Richards Verbrechen gehen aus Begehrlichkeit, Jagos Arkaden aus reiner Bosheit
hervor. Dieser hat zwar auch Gelüste, aber die Haupttriebfedern seines Handelns
sind die Wut über das Glück, die Güte, die Größe andrer und der Wunsch,
all dieses Schöne zu zerstören. Die Gemeinheit seiner Gesinnung äußert sich
als Zynismus, aber weil er seinen Zynismen die Farbe der ungeschminkten
Wahrheit zu geben versteht und damit große Klugheit, durchdringenden Scharf¬
sinn verbindet, so wird er von seiner ganzen Umgebung, besonders von
Othello, als der ein wenig ungeschlachte aber grundehrliche Freund und nütz¬
liche Ratgeber geschätzt. Im Zynismus, führt Gott aus, liegen Recht und
Unrecht beieinander. Es ist wahr: unsre ganze Kultur baut sich auf dem
Grunde animalischer, durch menschliche Überlegung noch verstärkter Triebe auf.
Daß sie auch noch hinter den höchsten Kulturerscheinungen stecken, ist richtig,
und der bösartige Zyniker findet nun seine Befriedigung darin, bei jeder Ge¬
legenheit auf dieses dahintersteckende hinzuweisen; die Feinheiten der Kultur,
die den Naturtrieb veredeln, betrachtet er als Masken, die den Trägern abgerissen
werden müssen. Der edle Mensch sieht in diesen Feinheiten, in den edeln Gefühlen,
Verhältnissen und Erzeugnissen, die aus dem Naturboden hervorgehn, gerade den
Zweck des menschlichen Daseins. Er will die Durchschnittsmenschen, die dem
Naturboden noch zu nahe stehn, auf sein Niveau emporheben, der Zyniker will die
Ausnahmemenschen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen herabziehn und
möchte die ganze Kultur zur Natur, womit er die Tierheit meint, zurück¬
schrauben. Freilich, fährt Gott fort, gibt es auch sympathische Zyniker.
Gleich dem bösartigen, haßt auch der edle Zyniker „die entlehnten Federn",
und er zieht sie aus, aber nicht ohne Sorge. Er liebt das Gute, nur durch die
Enttäuschungen, die er erlitten hat, ist er Zyniker geworden; er sieht sich durch
seine Erfahrungen gezwungen, die Menschen für schlechter zu halten, als sie
sich geben, aber um alles in der Welt möchte er keinen Menschen schlechter
machen; findet er wider Erwarten Gutes in einem, so freut er sich dessen.
Jagos grausame Zerstörungslust ist nun noch erotisch gefärbt. Am liebsten
würde er Desdemona selbst besitzen und seine Lüste an ihr befriedigen. Da


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[0254] Verbrecher bei Shakespeare und seinen Geist mit großer Energie ausbildete und sich durch Tapferkeit im Kriege wie durch Weisheit im Rat auszeichnete. Es hat ihm alles nichts genutzt: jedermanns Hand war wider ihn, so ist er wider jedermann. Und bei seinem Streben nach der Krone kommt ihm seine unwiderstehliche Dialektik zu Hilfe, deren Siege ihn, zusammen mit den leichten Erfolgen seiner Heuchelei, die ihm verhaßten Mitmenschen auch noch als Dummköpfe verachten lehrten. Nachdem er den Thron durch eine Reihe von Verbrechen erkämpft hat, wendet sich seine Dialektik gegen ihn: der Feind der Menschheit kann nicht ihr Be¬ herrscher sein; wer sie haßt, nicht, wie die Königswürde fordert, für ihr Wohl sorgen, wer alles Vertrauen selbst verloren und in seiner Umgebung vernichtet hat, nicht das Vertrauen finden, ohne das kein Vorgesetzter seine Untergebnen zu leiten imstande ist. Damit ist sein Untergang unvermeidlich geworden. Richards Verbrechen gehen aus Begehrlichkeit, Jagos Arkaden aus reiner Bosheit hervor. Dieser hat zwar auch Gelüste, aber die Haupttriebfedern seines Handelns sind die Wut über das Glück, die Güte, die Größe andrer und der Wunsch, all dieses Schöne zu zerstören. Die Gemeinheit seiner Gesinnung äußert sich als Zynismus, aber weil er seinen Zynismen die Farbe der ungeschminkten Wahrheit zu geben versteht und damit große Klugheit, durchdringenden Scharf¬ sinn verbindet, so wird er von seiner ganzen Umgebung, besonders von Othello, als der ein wenig ungeschlachte aber grundehrliche Freund und nütz¬ liche Ratgeber geschätzt. Im Zynismus, führt Gott aus, liegen Recht und Unrecht beieinander. Es ist wahr: unsre ganze Kultur baut sich auf dem Grunde animalischer, durch menschliche Überlegung noch verstärkter Triebe auf. Daß sie auch noch hinter den höchsten Kulturerscheinungen stecken, ist richtig, und der bösartige Zyniker findet nun seine Befriedigung darin, bei jeder Ge¬ legenheit auf dieses dahintersteckende hinzuweisen; die Feinheiten der Kultur, die den Naturtrieb veredeln, betrachtet er als Masken, die den Trägern abgerissen werden müssen. Der edle Mensch sieht in diesen Feinheiten, in den edeln Gefühlen, Verhältnissen und Erzeugnissen, die aus dem Naturboden hervorgehn, gerade den Zweck des menschlichen Daseins. Er will die Durchschnittsmenschen, die dem Naturboden noch zu nahe stehn, auf sein Niveau emporheben, der Zyniker will die Ausnahmemenschen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen herabziehn und möchte die ganze Kultur zur Natur, womit er die Tierheit meint, zurück¬ schrauben. Freilich, fährt Gott fort, gibt es auch sympathische Zyniker. Gleich dem bösartigen, haßt auch der edle Zyniker „die entlehnten Federn", und er zieht sie aus, aber nicht ohne Sorge. Er liebt das Gute, nur durch die Enttäuschungen, die er erlitten hat, ist er Zyniker geworden; er sieht sich durch seine Erfahrungen gezwungen, die Menschen für schlechter zu halten, als sie sich geben, aber um alles in der Welt möchte er keinen Menschen schlechter machen; findet er wider Erwarten Gutes in einem, so freut er sich dessen. Jagos grausame Zerstörungslust ist nun noch erotisch gefärbt. Am liebsten würde er Desdemona selbst besitzen und seine Lüste an ihr befriedigen. Da

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/254>, abgerufen am 12.12.2024.