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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

er dies nicht kann, "so müssen sie umgesetzt werden, auf anderm Wege ihre
Befriedigung finden; das Endziel aber bleibt dasselbe: diesem Weibe alle die
Qualen zu verursachen, gegen die ihre erhabnen Eigenschaften sie schützen
müßten; diese Eigenschaften zu durchbrechen, sie selbst niedergebrochen, geistig
zugrunde gerichtet und körperlich mißhandelt zu sehen, alles im denkbar
höchsten Grade; selbst alle diese Leiden zu verursachen und verursacht zu
haben -- das ist Jagos Lust und Begierde", Was das Verbrechen betrifft,
das der Bösewicht an Othello begeht, so besteht es in dem ärgsten Vertrauens¬
bruch, den man sich denken kaun. "Man setze an Othellos Stelle die Menschheit,
und Jago ist der größte Verbrecher der Welt", denn die Menschheit kann
nicht leben ohne Vertrauen. Wie ein solcher Teufel entsteht, das ist nicht
leicht zu erklären, denn Jago ist leiblich und geistig gut begabt, hat sich Liebe
und Achtung erworben. In solchen Fällen muß eine ererbte krankhafte Dis¬
position, angeborne moral mög-nit^ angenommen werden.

Gotts Analysen sind sehr fein durchgeführt. Aber da Brutus, Cassius,
Macbeth und Richard leicht zu verstehn sind, so bleiben nur Lady Macbeth
und Jago übrig als Persönlichkeiten, über die manches Neue gesagt wird, das
nicht jedermann leicht selbst finden könnte. Darum sind nur deren Seelen¬
gemälde, als Neuschöpfungen, neben das von Falstaff zu stellen, das August
Müller im 7. und 8. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten entworfen hat.
Der scharfsinnige Psycholog zeigt dort, daß der Fettwanst keineswegs, wie
gewöhnlich angenommen wird, als komische Figur gedacht ist (feinern Seelen
ist seine Komik wohl schon immer verdächtig vorgekommen), sondern eine sehr
ernste Funktion zu erfüllen hat. Er wie Prinz Heinz sind Alkoholiker. Aber
der charakterschwache Ritter unterliegt dem Alkohol und sinkt zum Verbrecher,
zum Lumpen hinab, Heinrich dagegen überwindet vom gesunden Kern seiner
Seele aus den Leichtsinn, die Trägheit und Genußsucht seiner Jugendjahre
und arbeitet sich unter dem Eindruck, den ernste Ereignisse auf ihn machen,
zur ernstesten Auffassung und großartigsten Erfüllung seiner Regentenpflichten
empor. Der dicke Ritter dient also dem Helden der drei Dramen als Folie.
Zudem hat (nach Müller) Shakespeare in dem Zustande des Säufers das
klinische Bild eines solchen mit dem elenden Ausgang im Delirium tremens so
meisterhaft gezeichnet, wie es kein moderner Arzt besser könnte. Bedenkt man
nun, daß die heutigen Ärzte und besonders die Psychiater die meisten Ver¬
brechen auf den Alkohol zurückführen, so muß man sich eigentlich wundern,
daß Gott den Falstaff nicht wenigstens kurz erwähnt hat. denn seine Absicht
ist, den Kriminalpsychologen zu dienen. Professor von Liszt dankt im Namen
dieser Forscher dem Dänen und Kohler (dessen Buch "Verbrechertypen in
Shakespeares Dramen" ich nicht kenne) für die Hilfe, die sie jenen leisten.
Und Gott selbst führt in seiner Einleitung aus: da die neuere Kriminalistik
nicht mehr die Tat sondern die Person des Verbrechers zum Hauptgegenstande
der Betrachtung und Untersuchung mache, das Hauptgewicht auf die Frage lege,


Verbrecher bei Shakespeare

er dies nicht kann, „so müssen sie umgesetzt werden, auf anderm Wege ihre
Befriedigung finden; das Endziel aber bleibt dasselbe: diesem Weibe alle die
Qualen zu verursachen, gegen die ihre erhabnen Eigenschaften sie schützen
müßten; diese Eigenschaften zu durchbrechen, sie selbst niedergebrochen, geistig
zugrunde gerichtet und körperlich mißhandelt zu sehen, alles im denkbar
höchsten Grade; selbst alle diese Leiden zu verursachen und verursacht zu
haben — das ist Jagos Lust und Begierde", Was das Verbrechen betrifft,
das der Bösewicht an Othello begeht, so besteht es in dem ärgsten Vertrauens¬
bruch, den man sich denken kaun. „Man setze an Othellos Stelle die Menschheit,
und Jago ist der größte Verbrecher der Welt", denn die Menschheit kann
nicht leben ohne Vertrauen. Wie ein solcher Teufel entsteht, das ist nicht
leicht zu erklären, denn Jago ist leiblich und geistig gut begabt, hat sich Liebe
und Achtung erworben. In solchen Fällen muß eine ererbte krankhafte Dis¬
position, angeborne moral mög-nit^ angenommen werden.

Gotts Analysen sind sehr fein durchgeführt. Aber da Brutus, Cassius,
Macbeth und Richard leicht zu verstehn sind, so bleiben nur Lady Macbeth
und Jago übrig als Persönlichkeiten, über die manches Neue gesagt wird, das
nicht jedermann leicht selbst finden könnte. Darum sind nur deren Seelen¬
gemälde, als Neuschöpfungen, neben das von Falstaff zu stellen, das August
Müller im 7. und 8. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten entworfen hat.
Der scharfsinnige Psycholog zeigt dort, daß der Fettwanst keineswegs, wie
gewöhnlich angenommen wird, als komische Figur gedacht ist (feinern Seelen
ist seine Komik wohl schon immer verdächtig vorgekommen), sondern eine sehr
ernste Funktion zu erfüllen hat. Er wie Prinz Heinz sind Alkoholiker. Aber
der charakterschwache Ritter unterliegt dem Alkohol und sinkt zum Verbrecher,
zum Lumpen hinab, Heinrich dagegen überwindet vom gesunden Kern seiner
Seele aus den Leichtsinn, die Trägheit und Genußsucht seiner Jugendjahre
und arbeitet sich unter dem Eindruck, den ernste Ereignisse auf ihn machen,
zur ernstesten Auffassung und großartigsten Erfüllung seiner Regentenpflichten
empor. Der dicke Ritter dient also dem Helden der drei Dramen als Folie.
Zudem hat (nach Müller) Shakespeare in dem Zustande des Säufers das
klinische Bild eines solchen mit dem elenden Ausgang im Delirium tremens so
meisterhaft gezeichnet, wie es kein moderner Arzt besser könnte. Bedenkt man
nun, daß die heutigen Ärzte und besonders die Psychiater die meisten Ver¬
brechen auf den Alkohol zurückführen, so muß man sich eigentlich wundern,
daß Gott den Falstaff nicht wenigstens kurz erwähnt hat. denn seine Absicht
ist, den Kriminalpsychologen zu dienen. Professor von Liszt dankt im Namen
dieser Forscher dem Dänen und Kohler (dessen Buch „Verbrechertypen in
Shakespeares Dramen" ich nicht kenne) für die Hilfe, die sie jenen leisten.
Und Gott selbst führt in seiner Einleitung aus: da die neuere Kriminalistik
nicht mehr die Tat sondern die Person des Verbrechers zum Hauptgegenstande
der Betrachtung und Untersuchung mache, das Hauptgewicht auf die Frage lege,


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[0255] Verbrecher bei Shakespeare er dies nicht kann, „so müssen sie umgesetzt werden, auf anderm Wege ihre Befriedigung finden; das Endziel aber bleibt dasselbe: diesem Weibe alle die Qualen zu verursachen, gegen die ihre erhabnen Eigenschaften sie schützen müßten; diese Eigenschaften zu durchbrechen, sie selbst niedergebrochen, geistig zugrunde gerichtet und körperlich mißhandelt zu sehen, alles im denkbar höchsten Grade; selbst alle diese Leiden zu verursachen und verursacht zu haben — das ist Jagos Lust und Begierde", Was das Verbrechen betrifft, das der Bösewicht an Othello begeht, so besteht es in dem ärgsten Vertrauens¬ bruch, den man sich denken kaun. „Man setze an Othellos Stelle die Menschheit, und Jago ist der größte Verbrecher der Welt", denn die Menschheit kann nicht leben ohne Vertrauen. Wie ein solcher Teufel entsteht, das ist nicht leicht zu erklären, denn Jago ist leiblich und geistig gut begabt, hat sich Liebe und Achtung erworben. In solchen Fällen muß eine ererbte krankhafte Dis¬ position, angeborne moral mög-nit^ angenommen werden. Gotts Analysen sind sehr fein durchgeführt. Aber da Brutus, Cassius, Macbeth und Richard leicht zu verstehn sind, so bleiben nur Lady Macbeth und Jago übrig als Persönlichkeiten, über die manches Neue gesagt wird, das nicht jedermann leicht selbst finden könnte. Darum sind nur deren Seelen¬ gemälde, als Neuschöpfungen, neben das von Falstaff zu stellen, das August Müller im 7. und 8. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten entworfen hat. Der scharfsinnige Psycholog zeigt dort, daß der Fettwanst keineswegs, wie gewöhnlich angenommen wird, als komische Figur gedacht ist (feinern Seelen ist seine Komik wohl schon immer verdächtig vorgekommen), sondern eine sehr ernste Funktion zu erfüllen hat. Er wie Prinz Heinz sind Alkoholiker. Aber der charakterschwache Ritter unterliegt dem Alkohol und sinkt zum Verbrecher, zum Lumpen hinab, Heinrich dagegen überwindet vom gesunden Kern seiner Seele aus den Leichtsinn, die Trägheit und Genußsucht seiner Jugendjahre und arbeitet sich unter dem Eindruck, den ernste Ereignisse auf ihn machen, zur ernstesten Auffassung und großartigsten Erfüllung seiner Regentenpflichten empor. Der dicke Ritter dient also dem Helden der drei Dramen als Folie. Zudem hat (nach Müller) Shakespeare in dem Zustande des Säufers das klinische Bild eines solchen mit dem elenden Ausgang im Delirium tremens so meisterhaft gezeichnet, wie es kein moderner Arzt besser könnte. Bedenkt man nun, daß die heutigen Ärzte und besonders die Psychiater die meisten Ver¬ brechen auf den Alkohol zurückführen, so muß man sich eigentlich wundern, daß Gott den Falstaff nicht wenigstens kurz erwähnt hat. denn seine Absicht ist, den Kriminalpsychologen zu dienen. Professor von Liszt dankt im Namen dieser Forscher dem Dänen und Kohler (dessen Buch „Verbrechertypen in Shakespeares Dramen" ich nicht kenne) für die Hilfe, die sie jenen leisten. Und Gott selbst führt in seiner Einleitung aus: da die neuere Kriminalistik nicht mehr die Tat sondern die Person des Verbrechers zum Hauptgegenstande der Betrachtung und Untersuchung mache, das Hauptgewicht auf die Frage lege,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/255>, abgerufen am 23.07.2024.