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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

Familie und Tradition gebunden ist und vor herrschenden Meinungen mehr
Respekt hat als der Mann, Auch ist sie, wenn sie nach Frauenart lebt (was
heute allerdings allmählich aufzuhören scheint), weniger häufig äußern Ein¬
wirkungen, namentlich denen einer schlechten Gesellschaft ausgesetzt. Aber
gerade aus ihrem starken Familiensinn und aus ihrem Altruismus ersteht der
Frau die Versuchung, Weil sie nichts Höheres kennt als das Glück des Ge¬
liebten, des Gatten, der Kinder, hält sie alles, was der Förderung dieses
höchsten Zieles zu dienen scheint, für erlaubt, wird sie aus Liebe Verbrecherin --
mit vollkommen gutem Gewissen, indem sie nur ihre Pflicht zu tun glaubt.
Gott sieht darin eine Art Atavismus. Das Pflichtmäßige, Moralische ist das
vom Wohle der Gesamtheit geforderte. Heute ist der Staat die Gesamtheit,
ursprünglich war es die Familie, höchstens die zum Stamm erweiterte Familie.
Was ihren Nutzen förderte, das war das moralisch Gute. In diesem "mikro¬
sozialen Familienrecht" sei die Frau befangen geblieben, meint Gott, und wenn
wir hinzufügen: sollte sie auch immer befangen bleiben, so wird er nichts da¬
gegen haben, denn er erinnert daran, daß wo, wie in Rußland, die Weiber
anfangen, männliche Interessen zu haben, sich an der Politik zu beteiligen,
auch ihre Kriminalität steigt. (Der zurzeit in England tobende Stimmrecht-
lerinnenunfug ist wohl mehr eine Modenarrheit als blutiger und gefährlicher
Ernst.) Die Frau also empfindet die Schranken, die der Staat ihrer Fürsorge
für das Wohl der Ihrigen zieht, als zu Unrecht bestehend und sieht kein
Unrecht darin, diese Schranken zu überspringen; sie ist also dem Staate
gegenüber Anarchistin; glücklicherweise kommt sie nur selten in die Lage, ihre
anarchische Gesinnung zu betätigen. Daß die meisten weiblichen Vergehungen
nicht dieser im Grunde genommen edeln Quelle entspringen, sondern der Not,
der Schwäche und gemeinen Gelüsten, wird Gott natürlich nicht in Abrede
stellen wollen.

Zwei Jnstinktverbrecher zeichnet er in Richard dem Dritten und Jago.
Er fragt, wie ein solches Ungeheuer entstehen könne, und antwortet, daß bei
Richard die Entstehungsweise klar zutage liege. Die Wurzel des Übels besteht
in seiner körperlichen Mißgestalt. '(Es handelt sich natürlich nicht um den
historischen, sondern um den Shakespearischen Richard.) Merkwürdig, daß Gott
aus dem entscheidenden Monolog (Heinrich der Sechste, dritter Teil, fünfter
Aufzug, sechste Szene) nur einzelne Verse zitiert, anstatt wenigstens seinen
wichtigsten Teil im Zusammenhange wiederzugeben. Er lautet:


Weil denn der Himmel meinen Leib so formte,
Verkehre demgemäß den Geist die Hölle.
Ich habe keinen Bruder, gleiche keinem,
Und Liebe, die Graubärte göttlich nennen,
Sie wohn' in Menschen, die einander gleichen,
Und nicht in mir: ich bin ich selbst allein.

Er hat bei keinem Menschen Liebe gefunden, auch bei der eignen Mutter nicht;
er hat sich wenigstens Achtung zu erobern gestrebt, indem er seinen Körper


Grenzboten 1 1909 82
Verbrecher bei Shakespeare

Familie und Tradition gebunden ist und vor herrschenden Meinungen mehr
Respekt hat als der Mann, Auch ist sie, wenn sie nach Frauenart lebt (was
heute allerdings allmählich aufzuhören scheint), weniger häufig äußern Ein¬
wirkungen, namentlich denen einer schlechten Gesellschaft ausgesetzt. Aber
gerade aus ihrem starken Familiensinn und aus ihrem Altruismus ersteht der
Frau die Versuchung, Weil sie nichts Höheres kennt als das Glück des Ge¬
liebten, des Gatten, der Kinder, hält sie alles, was der Förderung dieses
höchsten Zieles zu dienen scheint, für erlaubt, wird sie aus Liebe Verbrecherin —
mit vollkommen gutem Gewissen, indem sie nur ihre Pflicht zu tun glaubt.
Gott sieht darin eine Art Atavismus. Das Pflichtmäßige, Moralische ist das
vom Wohle der Gesamtheit geforderte. Heute ist der Staat die Gesamtheit,
ursprünglich war es die Familie, höchstens die zum Stamm erweiterte Familie.
Was ihren Nutzen förderte, das war das moralisch Gute. In diesem „mikro¬
sozialen Familienrecht" sei die Frau befangen geblieben, meint Gott, und wenn
wir hinzufügen: sollte sie auch immer befangen bleiben, so wird er nichts da¬
gegen haben, denn er erinnert daran, daß wo, wie in Rußland, die Weiber
anfangen, männliche Interessen zu haben, sich an der Politik zu beteiligen,
auch ihre Kriminalität steigt. (Der zurzeit in England tobende Stimmrecht-
lerinnenunfug ist wohl mehr eine Modenarrheit als blutiger und gefährlicher
Ernst.) Die Frau also empfindet die Schranken, die der Staat ihrer Fürsorge
für das Wohl der Ihrigen zieht, als zu Unrecht bestehend und sieht kein
Unrecht darin, diese Schranken zu überspringen; sie ist also dem Staate
gegenüber Anarchistin; glücklicherweise kommt sie nur selten in die Lage, ihre
anarchische Gesinnung zu betätigen. Daß die meisten weiblichen Vergehungen
nicht dieser im Grunde genommen edeln Quelle entspringen, sondern der Not,
der Schwäche und gemeinen Gelüsten, wird Gott natürlich nicht in Abrede
stellen wollen.

Zwei Jnstinktverbrecher zeichnet er in Richard dem Dritten und Jago.
Er fragt, wie ein solches Ungeheuer entstehen könne, und antwortet, daß bei
Richard die Entstehungsweise klar zutage liege. Die Wurzel des Übels besteht
in seiner körperlichen Mißgestalt. '(Es handelt sich natürlich nicht um den
historischen, sondern um den Shakespearischen Richard.) Merkwürdig, daß Gott
aus dem entscheidenden Monolog (Heinrich der Sechste, dritter Teil, fünfter
Aufzug, sechste Szene) nur einzelne Verse zitiert, anstatt wenigstens seinen
wichtigsten Teil im Zusammenhange wiederzugeben. Er lautet:


Weil denn der Himmel meinen Leib so formte,
Verkehre demgemäß den Geist die Hölle.
Ich habe keinen Bruder, gleiche keinem,
Und Liebe, die Graubärte göttlich nennen,
Sie wohn' in Menschen, die einander gleichen,
Und nicht in mir: ich bin ich selbst allein.

Er hat bei keinem Menschen Liebe gefunden, auch bei der eignen Mutter nicht;
er hat sich wenigstens Achtung zu erobern gestrebt, indem er seinen Körper


Grenzboten 1 1909 82
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[0253] Verbrecher bei Shakespeare Familie und Tradition gebunden ist und vor herrschenden Meinungen mehr Respekt hat als der Mann, Auch ist sie, wenn sie nach Frauenart lebt (was heute allerdings allmählich aufzuhören scheint), weniger häufig äußern Ein¬ wirkungen, namentlich denen einer schlechten Gesellschaft ausgesetzt. Aber gerade aus ihrem starken Familiensinn und aus ihrem Altruismus ersteht der Frau die Versuchung, Weil sie nichts Höheres kennt als das Glück des Ge¬ liebten, des Gatten, der Kinder, hält sie alles, was der Förderung dieses höchsten Zieles zu dienen scheint, für erlaubt, wird sie aus Liebe Verbrecherin — mit vollkommen gutem Gewissen, indem sie nur ihre Pflicht zu tun glaubt. Gott sieht darin eine Art Atavismus. Das Pflichtmäßige, Moralische ist das vom Wohle der Gesamtheit geforderte. Heute ist der Staat die Gesamtheit, ursprünglich war es die Familie, höchstens die zum Stamm erweiterte Familie. Was ihren Nutzen förderte, das war das moralisch Gute. In diesem „mikro¬ sozialen Familienrecht" sei die Frau befangen geblieben, meint Gott, und wenn wir hinzufügen: sollte sie auch immer befangen bleiben, so wird er nichts da¬ gegen haben, denn er erinnert daran, daß wo, wie in Rußland, die Weiber anfangen, männliche Interessen zu haben, sich an der Politik zu beteiligen, auch ihre Kriminalität steigt. (Der zurzeit in England tobende Stimmrecht- lerinnenunfug ist wohl mehr eine Modenarrheit als blutiger und gefährlicher Ernst.) Die Frau also empfindet die Schranken, die der Staat ihrer Fürsorge für das Wohl der Ihrigen zieht, als zu Unrecht bestehend und sieht kein Unrecht darin, diese Schranken zu überspringen; sie ist also dem Staate gegenüber Anarchistin; glücklicherweise kommt sie nur selten in die Lage, ihre anarchische Gesinnung zu betätigen. Daß die meisten weiblichen Vergehungen nicht dieser im Grunde genommen edeln Quelle entspringen, sondern der Not, der Schwäche und gemeinen Gelüsten, wird Gott natürlich nicht in Abrede stellen wollen. Zwei Jnstinktverbrecher zeichnet er in Richard dem Dritten und Jago. Er fragt, wie ein solches Ungeheuer entstehen könne, und antwortet, daß bei Richard die Entstehungsweise klar zutage liege. Die Wurzel des Übels besteht in seiner körperlichen Mißgestalt. '(Es handelt sich natürlich nicht um den historischen, sondern um den Shakespearischen Richard.) Merkwürdig, daß Gott aus dem entscheidenden Monolog (Heinrich der Sechste, dritter Teil, fünfter Aufzug, sechste Szene) nur einzelne Verse zitiert, anstatt wenigstens seinen wichtigsten Teil im Zusammenhange wiederzugeben. Er lautet: Weil denn der Himmel meinen Leib so formte, Verkehre demgemäß den Geist die Hölle. Ich habe keinen Bruder, gleiche keinem, Und Liebe, die Graubärte göttlich nennen, Sie wohn' in Menschen, die einander gleichen, Und nicht in mir: ich bin ich selbst allein. Er hat bei keinem Menschen Liebe gefunden, auch bei der eignen Mutter nicht; er hat sich wenigstens Achtung zu erobern gestrebt, indem er seinen Körper Grenzboten 1 1909 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/253>, abgerufen am 12.12.2024.