Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Verbrecher bei Shakespeare

das Volk, gegen das Gemeinwohl ist im Grunde genommen das tiefe Gefühl
"seiner eignen hervorragenden Bedeutung und seiner ganz besondern Stellung
als Abkömmling des Volksbefreiers Brutus". Und als Doktrinär verdirbt
er die Sache, für die er handelt und kämpft, im ersten wie im letzten Stadium.
Cassius rät jedesmal das richtige. "Denn der Haß sieht scharf und benutzt
alle Mittel, die Idee sieht nur sich selbst und kaun nur ihre eignen Mittel
brauchen." An Macbeth demonstriert Gott den Gelegenheitsverbrecher. Ein
ehrlicher und tüchtiger Mann, der sich aber seines Wertes bewußt ist und
die diesem Wert entsprechende Stellung erstrebt. Dabei nicht fest genug, der
Versuchung zu widerstehn, wenn das Ziel seines Strebens nur durch ein Un¬
recht erreicht werden kann., "Was sehr du willst, das willst du fromm," sagt
ihm die Gattin; "du liebst nicht falsches Spiel, und doch Gewinn mit Unrecht."
Also ein Durchschnittscharakter: ist nur der Gewinn, der winkt, hoch genug,
so wird er auch falsch spielen. Meist ist Verführung notwendig, einen
solchen soweit zu bringen, aber er läßt sich gern verführen, will verführt sein.
Zum Verführer gehört nicht etwa geistige Überlegenheit, sondern nur eine ge¬
wisse psychologische Technik, "die, wo sie vorhanden, sehr oft gerade dem im
übrigen Unterlegnen eine vollständige Gewalt über den Überlegnen geben kann,
während umgekehrt der überlegenste Geist ohne diese Technik sich für voll¬
kommen bankrott erklären muß, wenn er sich als Anstifter, Überreder oder
-- gegenüber einem größern Kreise -- als Agitator versucht". Ganz unzu¬
gänglich für Anstiftung sind nur die stumpfsinnigen; alle andern sind
empfänglich dafür, je reichern Geistes, desto empfänglicher. Der Mensch ohne
Kombinationsgabe "läßt den zugeführten Stoff unbeachtet und unverdaut
passieren, die reiche Kombinationsgabe erfaßt den Stoff, verbindet ihn mit dem
schon vorhandnen geistigen Inhalt und bringt durch die neu zugeführten
Elementen je nach Umstünden etwas Neues und Überraschendes hervor".

Mittelmäßige Geister, meint der Verfasser, seien überhaupt schwerer zu über¬
zeugen als reiche und bewegliche, die besonders dann leicht gewonnen werden
können, wenn der Überredende geschickt solchen Stoff auszuwählen versteht,
der dem Empfindungs- und Verstandesleben des zu Überredenden gut angepaßt
ist. Weder im Verbrechen noch in der ihm folgenden Gewissensangst und
Geistesverwirrung hat sich die Persönlichkeit Macbeths geändert; was sich
ändert, das sind die Umstände; auf sie reagiert der Verbrecher jedesmal durchaus
seinem Charakter gemäß. Lady Macbeth kennt keine Neue; nicht die begangne
Untat, nur der Zustand ihres Gatten, und was daraus entstehen kann, beun¬
ruhigt sie. In ihr sieht Gott den Typus des verbrecherischen Weibes. Bei der
impulsiver Natur des Weibes, bei seinem stärker" Affekt und der Unstetigkeit
des sich sprungweise äußernden Willens sollte man meinen, es müßte häufiger
Verbrechen begehen als der Mann; in Wirklichkeit ist die weibliche Kriminalität
vier- bis siebenmal geringer als die männliche. Die scheinbare Anomalie er¬
klärt sich daraus, daß die Frau weniger egoistisch ist, mehr unmittelbare Güte,
aufopfernde Liebe hat als der Mann, daß sie religiöser, als Mutter mehr an


Verbrecher bei Shakespeare

das Volk, gegen das Gemeinwohl ist im Grunde genommen das tiefe Gefühl
„seiner eignen hervorragenden Bedeutung und seiner ganz besondern Stellung
als Abkömmling des Volksbefreiers Brutus". Und als Doktrinär verdirbt
er die Sache, für die er handelt und kämpft, im ersten wie im letzten Stadium.
Cassius rät jedesmal das richtige. „Denn der Haß sieht scharf und benutzt
alle Mittel, die Idee sieht nur sich selbst und kaun nur ihre eignen Mittel
brauchen." An Macbeth demonstriert Gott den Gelegenheitsverbrecher. Ein
ehrlicher und tüchtiger Mann, der sich aber seines Wertes bewußt ist und
die diesem Wert entsprechende Stellung erstrebt. Dabei nicht fest genug, der
Versuchung zu widerstehn, wenn das Ziel seines Strebens nur durch ein Un¬
recht erreicht werden kann., „Was sehr du willst, das willst du fromm," sagt
ihm die Gattin; „du liebst nicht falsches Spiel, und doch Gewinn mit Unrecht."
Also ein Durchschnittscharakter: ist nur der Gewinn, der winkt, hoch genug,
so wird er auch falsch spielen. Meist ist Verführung notwendig, einen
solchen soweit zu bringen, aber er läßt sich gern verführen, will verführt sein.
Zum Verführer gehört nicht etwa geistige Überlegenheit, sondern nur eine ge¬
wisse psychologische Technik, „die, wo sie vorhanden, sehr oft gerade dem im
übrigen Unterlegnen eine vollständige Gewalt über den Überlegnen geben kann,
während umgekehrt der überlegenste Geist ohne diese Technik sich für voll¬
kommen bankrott erklären muß, wenn er sich als Anstifter, Überreder oder
— gegenüber einem größern Kreise — als Agitator versucht". Ganz unzu¬
gänglich für Anstiftung sind nur die stumpfsinnigen; alle andern sind
empfänglich dafür, je reichern Geistes, desto empfänglicher. Der Mensch ohne
Kombinationsgabe „läßt den zugeführten Stoff unbeachtet und unverdaut
passieren, die reiche Kombinationsgabe erfaßt den Stoff, verbindet ihn mit dem
schon vorhandnen geistigen Inhalt und bringt durch die neu zugeführten
Elementen je nach Umstünden etwas Neues und Überraschendes hervor".

Mittelmäßige Geister, meint der Verfasser, seien überhaupt schwerer zu über¬
zeugen als reiche und bewegliche, die besonders dann leicht gewonnen werden
können, wenn der Überredende geschickt solchen Stoff auszuwählen versteht,
der dem Empfindungs- und Verstandesleben des zu Überredenden gut angepaßt
ist. Weder im Verbrechen noch in der ihm folgenden Gewissensangst und
Geistesverwirrung hat sich die Persönlichkeit Macbeths geändert; was sich
ändert, das sind die Umstände; auf sie reagiert der Verbrecher jedesmal durchaus
seinem Charakter gemäß. Lady Macbeth kennt keine Neue; nicht die begangne
Untat, nur der Zustand ihres Gatten, und was daraus entstehen kann, beun¬
ruhigt sie. In ihr sieht Gott den Typus des verbrecherischen Weibes. Bei der
impulsiver Natur des Weibes, bei seinem stärker» Affekt und der Unstetigkeit
des sich sprungweise äußernden Willens sollte man meinen, es müßte häufiger
Verbrechen begehen als der Mann; in Wirklichkeit ist die weibliche Kriminalität
vier- bis siebenmal geringer als die männliche. Die scheinbare Anomalie er¬
klärt sich daraus, daß die Frau weniger egoistisch ist, mehr unmittelbare Güte,
aufopfernde Liebe hat als der Mann, daß sie religiöser, als Mutter mehr an


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0252" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312603"/>
          <fw type="header" place="top"> Verbrecher bei Shakespeare</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_940" prev="#ID_939"> das Volk, gegen das Gemeinwohl ist im Grunde genommen das tiefe Gefühl<lb/>
&#x201E;seiner eignen hervorragenden Bedeutung und seiner ganz besondern Stellung<lb/>
als Abkömmling des Volksbefreiers Brutus". Und als Doktrinär verdirbt<lb/>
er die Sache, für die er handelt und kämpft, im ersten wie im letzten Stadium.<lb/>
Cassius rät jedesmal das richtige. &#x201E;Denn der Haß sieht scharf und benutzt<lb/>
alle Mittel, die Idee sieht nur sich selbst und kaun nur ihre eignen Mittel<lb/>
brauchen." An Macbeth demonstriert Gott den Gelegenheitsverbrecher. Ein<lb/>
ehrlicher und tüchtiger Mann, der sich aber seines Wertes bewußt ist und<lb/>
die diesem Wert entsprechende Stellung erstrebt. Dabei nicht fest genug, der<lb/>
Versuchung zu widerstehn, wenn das Ziel seines Strebens nur durch ein Un¬<lb/>
recht erreicht werden kann., &#x201E;Was sehr du willst, das willst du fromm," sagt<lb/>
ihm die Gattin; &#x201E;du liebst nicht falsches Spiel, und doch Gewinn mit Unrecht."<lb/>
Also ein Durchschnittscharakter: ist nur der Gewinn, der winkt, hoch genug,<lb/>
so wird er auch falsch spielen. Meist ist Verführung notwendig, einen<lb/>
solchen soweit zu bringen, aber er läßt sich gern verführen, will verführt sein.<lb/>
Zum Verführer gehört nicht etwa geistige Überlegenheit, sondern nur eine ge¬<lb/>
wisse psychologische Technik, &#x201E;die, wo sie vorhanden, sehr oft gerade dem im<lb/>
übrigen Unterlegnen eine vollständige Gewalt über den Überlegnen geben kann,<lb/>
während umgekehrt der überlegenste Geist ohne diese Technik sich für voll¬<lb/>
kommen bankrott erklären muß, wenn er sich als Anstifter, Überreder oder<lb/>
&#x2014; gegenüber einem größern Kreise &#x2014; als Agitator versucht". Ganz unzu¬<lb/>
gänglich für Anstiftung sind nur die stumpfsinnigen; alle andern sind<lb/>
empfänglich dafür, je reichern Geistes, desto empfänglicher. Der Mensch ohne<lb/>
Kombinationsgabe &#x201E;läßt den zugeführten Stoff unbeachtet und unverdaut<lb/>
passieren, die reiche Kombinationsgabe erfaßt den Stoff, verbindet ihn mit dem<lb/>
schon vorhandnen geistigen Inhalt und bringt durch die neu zugeführten<lb/>
Elementen je nach Umstünden etwas Neues und Überraschendes hervor".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_941" next="#ID_942"> Mittelmäßige Geister, meint der Verfasser, seien überhaupt schwerer zu über¬<lb/>
zeugen als reiche und bewegliche, die besonders dann leicht gewonnen werden<lb/>
können, wenn der Überredende geschickt solchen Stoff auszuwählen versteht,<lb/>
der dem Empfindungs- und Verstandesleben des zu Überredenden gut angepaßt<lb/>
ist. Weder im Verbrechen noch in der ihm folgenden Gewissensangst und<lb/>
Geistesverwirrung hat sich die Persönlichkeit Macbeths geändert; was sich<lb/>
ändert, das sind die Umstände; auf sie reagiert der Verbrecher jedesmal durchaus<lb/>
seinem Charakter gemäß. Lady Macbeth kennt keine Neue; nicht die begangne<lb/>
Untat, nur der Zustand ihres Gatten, und was daraus entstehen kann, beun¬<lb/>
ruhigt sie. In ihr sieht Gott den Typus des verbrecherischen Weibes. Bei der<lb/>
impulsiver Natur des Weibes, bei seinem stärker» Affekt und der Unstetigkeit<lb/>
des sich sprungweise äußernden Willens sollte man meinen, es müßte häufiger<lb/>
Verbrechen begehen als der Mann; in Wirklichkeit ist die weibliche Kriminalität<lb/>
vier- bis siebenmal geringer als die männliche. Die scheinbare Anomalie er¬<lb/>
klärt sich daraus, daß die Frau weniger egoistisch ist, mehr unmittelbare Güte,<lb/>
aufopfernde Liebe hat als der Mann, daß sie religiöser, als Mutter mehr an</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0252] Verbrecher bei Shakespeare das Volk, gegen das Gemeinwohl ist im Grunde genommen das tiefe Gefühl „seiner eignen hervorragenden Bedeutung und seiner ganz besondern Stellung als Abkömmling des Volksbefreiers Brutus". Und als Doktrinär verdirbt er die Sache, für die er handelt und kämpft, im ersten wie im letzten Stadium. Cassius rät jedesmal das richtige. „Denn der Haß sieht scharf und benutzt alle Mittel, die Idee sieht nur sich selbst und kaun nur ihre eignen Mittel brauchen." An Macbeth demonstriert Gott den Gelegenheitsverbrecher. Ein ehrlicher und tüchtiger Mann, der sich aber seines Wertes bewußt ist und die diesem Wert entsprechende Stellung erstrebt. Dabei nicht fest genug, der Versuchung zu widerstehn, wenn das Ziel seines Strebens nur durch ein Un¬ recht erreicht werden kann., „Was sehr du willst, das willst du fromm," sagt ihm die Gattin; „du liebst nicht falsches Spiel, und doch Gewinn mit Unrecht." Also ein Durchschnittscharakter: ist nur der Gewinn, der winkt, hoch genug, so wird er auch falsch spielen. Meist ist Verführung notwendig, einen solchen soweit zu bringen, aber er läßt sich gern verführen, will verführt sein. Zum Verführer gehört nicht etwa geistige Überlegenheit, sondern nur eine ge¬ wisse psychologische Technik, „die, wo sie vorhanden, sehr oft gerade dem im übrigen Unterlegnen eine vollständige Gewalt über den Überlegnen geben kann, während umgekehrt der überlegenste Geist ohne diese Technik sich für voll¬ kommen bankrott erklären muß, wenn er sich als Anstifter, Überreder oder — gegenüber einem größern Kreise — als Agitator versucht". Ganz unzu¬ gänglich für Anstiftung sind nur die stumpfsinnigen; alle andern sind empfänglich dafür, je reichern Geistes, desto empfänglicher. Der Mensch ohne Kombinationsgabe „läßt den zugeführten Stoff unbeachtet und unverdaut passieren, die reiche Kombinationsgabe erfaßt den Stoff, verbindet ihn mit dem schon vorhandnen geistigen Inhalt und bringt durch die neu zugeführten Elementen je nach Umstünden etwas Neues und Überraschendes hervor". Mittelmäßige Geister, meint der Verfasser, seien überhaupt schwerer zu über¬ zeugen als reiche und bewegliche, die besonders dann leicht gewonnen werden können, wenn der Überredende geschickt solchen Stoff auszuwählen versteht, der dem Empfindungs- und Verstandesleben des zu Überredenden gut angepaßt ist. Weder im Verbrechen noch in der ihm folgenden Gewissensangst und Geistesverwirrung hat sich die Persönlichkeit Macbeths geändert; was sich ändert, das sind die Umstände; auf sie reagiert der Verbrecher jedesmal durchaus seinem Charakter gemäß. Lady Macbeth kennt keine Neue; nicht die begangne Untat, nur der Zustand ihres Gatten, und was daraus entstehen kann, beun¬ ruhigt sie. In ihr sieht Gott den Typus des verbrecherischen Weibes. Bei der impulsiver Natur des Weibes, bei seinem stärker» Affekt und der Unstetigkeit des sich sprungweise äußernden Willens sollte man meinen, es müßte häufiger Verbrechen begehen als der Mann; in Wirklichkeit ist die weibliche Kriminalität vier- bis siebenmal geringer als die männliche. Die scheinbare Anomalie er¬ klärt sich daraus, daß die Frau weniger egoistisch ist, mehr unmittelbare Güte, aufopfernde Liebe hat als der Mann, daß sie religiöser, als Mutter mehr an

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/252
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/252>, abgerufen am 12.12.2024.