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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Volksstimmung

die Entscheidung lag. Der Partikularismus, der mit sicherm Instinkt erkannte,
daß dabei eine Demütigung Preußens herauskommen konnte, sprang mit Eifer
der preußischen Opposition bei. Dadurch wurde das Streitobjekt verschoben
und auch der Schein erweckt, als handle es sich um die deutsche Einheit.
Darum handelte es sich freilich, aber in ganz umgekehrtem Sinne, als die ge¬
machte öffentliche Meinung es auffaßte und darstellte.

Die großen Ereignisse von 1866 und 1870 riefen in der VolksstiMmUng,
die sich damals zu sehr den Zeitungsmeinungen hingegeben hatte, eine voll¬
ständige Umwandlung und eine Zersetzung der Parteien hervor. Die Ver¬
fassung brachte nun nicht die vom Liberalismus gewollte alleinige Vorherr¬
schaft des Parlaments mit unbedingter Gewalt über die Minister, sondern
hielt sich an die in den deutschen Staaten hergebrachte Form des Konstitutio-
-nalismus. Solange aber die Ereignisse von 1866 und 1870 direkt nach¬
wirkten, und das deutsche Volk eine größere Anzahl von politischen Kapazi¬
täten in den Reichstag sandte, blieb dieser auf seiner Höhe und vereinigte sich
mit dem Altreichskanzler zu politisch nützlicher Arbeit. Damals stand auch
sein Ansetzn in der Volksmeinung sehr hoch. In den siebziger Jahren wurde
dann die politische Erschlaffung, wie sie bei allen Völkern nach Perioden
größerer nationaler Anspannung einzutreten pflegt, von dem wieder zu Kräften
gekommenen Liberalismus geschickt benutzt, um den 1866 in Preußen nieder-
geworfnen Kampf um die Parlamentsherrschaft im Reiche aufzunehmen. Es
handelte sich dabei, wie Eugen Richter ausdrücklich aussprach, darum, "dem
Kanzler den Willen zu brechen". Er fand dabei die verständnisvolle Unter¬
stützung des Zentrums und der weitverbreiteten Presse des freihändlerischen
Kapitalismus, der sich in allen Ländern durch Mangel an Verständnis für
nationale und Machtfragen auszeichnet. Das Zentrum festigte sich immer
mehr dabei, aber die liberale Fortschrittspartei hatte keinen Vorteil davon,
denn was sich im deutschen Volke durch die verwirrende Agitation von seinem
bisherigen Standpunkte abbringen ließ, ging zur Sozialdemokratie über, die
mächtig anschwoll, indem ihr ein fortschrittlicher Wahlkreis nach dem andern
zufiel, wie Bismarck mehrfach warnend vorausgesagt hatte. Auch die national¬
liberale Partei litt schwer darunter, da sie wiederholt ernstlich Gefahr lief,
sich vom Linken umgarnen zu lassen.

Das parlamentarische Leben wurde dabei vollständig verwüstet und ist es
zum großen Teil heute noch. Seit jenen unseligen Zeiten ist es Mode ge¬
worden, daß bei parlamentarischen Entscheidungen nicht mehr das Wohl des
Reichs, sondern der Vorteil der Partei den Ausschlag gibt. Ein freisinniger
Abgeordneter schrieb erst kürzlich bei Besprechung der kommenden Finanz¬
reform: "Aber die Partei will doch auch leben." Auch noch nach den letzten
Reichstagswahlen wird alles vom Parteiinteresse, von der Parteidoktrin, vom
Parteizwang beherrscht, das Vaterland ist so ziemlich Nebensache dabei ge¬
worden, und alle Parteien haben mehr oder weniger schuld daran. Das


Volksstimmung

die Entscheidung lag. Der Partikularismus, der mit sicherm Instinkt erkannte,
daß dabei eine Demütigung Preußens herauskommen konnte, sprang mit Eifer
der preußischen Opposition bei. Dadurch wurde das Streitobjekt verschoben
und auch der Schein erweckt, als handle es sich um die deutsche Einheit.
Darum handelte es sich freilich, aber in ganz umgekehrtem Sinne, als die ge¬
machte öffentliche Meinung es auffaßte und darstellte.

Die großen Ereignisse von 1866 und 1870 riefen in der VolksstiMmUng,
die sich damals zu sehr den Zeitungsmeinungen hingegeben hatte, eine voll¬
ständige Umwandlung und eine Zersetzung der Parteien hervor. Die Ver¬
fassung brachte nun nicht die vom Liberalismus gewollte alleinige Vorherr¬
schaft des Parlaments mit unbedingter Gewalt über die Minister, sondern
hielt sich an die in den deutschen Staaten hergebrachte Form des Konstitutio-
-nalismus. Solange aber die Ereignisse von 1866 und 1870 direkt nach¬
wirkten, und das deutsche Volk eine größere Anzahl von politischen Kapazi¬
täten in den Reichstag sandte, blieb dieser auf seiner Höhe und vereinigte sich
mit dem Altreichskanzler zu politisch nützlicher Arbeit. Damals stand auch
sein Ansetzn in der Volksmeinung sehr hoch. In den siebziger Jahren wurde
dann die politische Erschlaffung, wie sie bei allen Völkern nach Perioden
größerer nationaler Anspannung einzutreten pflegt, von dem wieder zu Kräften
gekommenen Liberalismus geschickt benutzt, um den 1866 in Preußen nieder-
geworfnen Kampf um die Parlamentsherrschaft im Reiche aufzunehmen. Es
handelte sich dabei, wie Eugen Richter ausdrücklich aussprach, darum, „dem
Kanzler den Willen zu brechen". Er fand dabei die verständnisvolle Unter¬
stützung des Zentrums und der weitverbreiteten Presse des freihändlerischen
Kapitalismus, der sich in allen Ländern durch Mangel an Verständnis für
nationale und Machtfragen auszeichnet. Das Zentrum festigte sich immer
mehr dabei, aber die liberale Fortschrittspartei hatte keinen Vorteil davon,
denn was sich im deutschen Volke durch die verwirrende Agitation von seinem
bisherigen Standpunkte abbringen ließ, ging zur Sozialdemokratie über, die
mächtig anschwoll, indem ihr ein fortschrittlicher Wahlkreis nach dem andern
zufiel, wie Bismarck mehrfach warnend vorausgesagt hatte. Auch die national¬
liberale Partei litt schwer darunter, da sie wiederholt ernstlich Gefahr lief,
sich vom Linken umgarnen zu lassen.

Das parlamentarische Leben wurde dabei vollständig verwüstet und ist es
zum großen Teil heute noch. Seit jenen unseligen Zeiten ist es Mode ge¬
worden, daß bei parlamentarischen Entscheidungen nicht mehr das Wohl des
Reichs, sondern der Vorteil der Partei den Ausschlag gibt. Ein freisinniger
Abgeordneter schrieb erst kürzlich bei Besprechung der kommenden Finanz¬
reform: „Aber die Partei will doch auch leben." Auch noch nach den letzten
Reichstagswahlen wird alles vom Parteiinteresse, von der Parteidoktrin, vom
Parteizwang beherrscht, das Vaterland ist so ziemlich Nebensache dabei ge¬
worden, und alle Parteien haben mehr oder weniger schuld daran. Das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/175>, abgerufen am 23.07.2024.