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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Volk hat diesem parlamentarischen Streite ziemlich gleichgiltig gegenüberge¬
standen. Am wenigsten begriff es, warum es sich nach den offenkundiger
Taten der Regierung und namentlich Bismarcks für parlamentarische Herr¬
schaftsgelüste begeistern sollte. Aber durch eine skrupellose Agitation unaus¬
gesetzt an seinen materiellen Interessen angefaßt und hin und her gezerrt,
hatte es Mühe, die Höhe des vaterländischen Standpunkts, auf den es die
Gründung des Reichs emporgehoben hatte, den verwirrenden Parteikämpfen
gegenüber zu behaupten. Dabei ging die Teilnahme an diesen und für ihren
Schauplatz, den Reichstag, immer mehr zurück bis zur vollständigen Gleich-
giltigkeit. Die lebende Generation hat nicht mehr recht die Erinnerung von
den schweren Kämpfen Bismarcks, ein Jahrzehnt hindurch bis zum Jahre 1887,
mit den von den Vorkämpfern des parlamentarischen Systems geführten Reichs¬
tagsmehrheiten, die alles bestritten, was von der Regierung kam, und denen
er mit der größten Anstrengung nach und nach und nur stückweise die Zoll-
und Steuerreform sowie die ersten grundlegenden sozialreformatorischen Gesetze
abringen konnte. Die dabei interessierte Presse ist seitdem beflissen gewesen,
diese Tatsachen zu verwischen und selbst in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber
die namentlich zur Blütezeit der nachmaligen Bismarcklegende vielfach aufge¬
stellte Behauptung, zu Bismarcks Zeiten sei immer alles glatt abgegangen,
ist einfach nicht wahr.

Der Kern der deutscheu Bevölkerung hielt an Vismarck fest, und wenn
er rief, wenn er selbst die Wahlparole gab, erklärte sich die Volksstimmung
entschieden für ihn und gegen die Neichstagsmehrheit. Die Wahlen von 1887
endeten sogar mit einer geradezu vernichtenden Niederlage der Mehrheit
Richter-Windthorst-Grillenberger, und es wurde damals mit Recht behauptet,
der neue Reichstag sei auf den Namen Bismarcks gewählt. Jedenfalls hatte
er von da an bis zum Ausscheiden aus dem Amte parlamentarische Ruhe.
Danach war freilich, wie Herr Naumann richtig erkennt, kein politisch er-
zognes Volk vorhanden, worunter er wohl nicht versteht ein für die Parla¬
mentsherrschaft erzognes Volk. Er wird als guter Kenner unsers Volks
genau wissen, daß es damit noch gute Wege hat, dazu müßte sich der Reichs¬
tag erst durch eine lange Reihe volkstümlicher Leistungen den Respekt wieder
erwerben, den er seit drei Jahrzehnten eingebüßt hat. Was aber seit damals
an politischem Sinn im Volke lebt, führt auf Bismarck zurück, alles übrige
war durch die langdauernde, in der Wahl der Mittel rücksichtslose Agitation
gegen ihn und seine Politik verwüstet und zertrümmert worden. Das Trümmer¬
feld jedoch, das hinterblieb, und auf dem nur noch die Sozialdemokratie
wuchern konnte, war nicht sein Werk, er hat es nur nicht verhindern können.
Aber im Kampfe um die Parlamentsherrschaft hatte er so vollkommen gesiegt,
daß zwanzig Jahre vergingen, bevor wieder der Versuch gemacht wurde, ihn
neu aufzunehmen. Nur die Mehrzahl der liberalen Blätter, darunter nicht
wenige als nationalliberal bezeichnete, haben die damaligen aus dem Aus-


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Volk hat diesem parlamentarischen Streite ziemlich gleichgiltig gegenüberge¬
standen. Am wenigsten begriff es, warum es sich nach den offenkundiger
Taten der Regierung und namentlich Bismarcks für parlamentarische Herr¬
schaftsgelüste begeistern sollte. Aber durch eine skrupellose Agitation unaus¬
gesetzt an seinen materiellen Interessen angefaßt und hin und her gezerrt,
hatte es Mühe, die Höhe des vaterländischen Standpunkts, auf den es die
Gründung des Reichs emporgehoben hatte, den verwirrenden Parteikämpfen
gegenüber zu behaupten. Dabei ging die Teilnahme an diesen und für ihren
Schauplatz, den Reichstag, immer mehr zurück bis zur vollständigen Gleich-
giltigkeit. Die lebende Generation hat nicht mehr recht die Erinnerung von
den schweren Kämpfen Bismarcks, ein Jahrzehnt hindurch bis zum Jahre 1887,
mit den von den Vorkämpfern des parlamentarischen Systems geführten Reichs¬
tagsmehrheiten, die alles bestritten, was von der Regierung kam, und denen
er mit der größten Anstrengung nach und nach und nur stückweise die Zoll-
und Steuerreform sowie die ersten grundlegenden sozialreformatorischen Gesetze
abringen konnte. Die dabei interessierte Presse ist seitdem beflissen gewesen,
diese Tatsachen zu verwischen und selbst in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber
die namentlich zur Blütezeit der nachmaligen Bismarcklegende vielfach aufge¬
stellte Behauptung, zu Bismarcks Zeiten sei immer alles glatt abgegangen,
ist einfach nicht wahr.

Der Kern der deutscheu Bevölkerung hielt an Vismarck fest, und wenn
er rief, wenn er selbst die Wahlparole gab, erklärte sich die Volksstimmung
entschieden für ihn und gegen die Neichstagsmehrheit. Die Wahlen von 1887
endeten sogar mit einer geradezu vernichtenden Niederlage der Mehrheit
Richter-Windthorst-Grillenberger, und es wurde damals mit Recht behauptet,
der neue Reichstag sei auf den Namen Bismarcks gewählt. Jedenfalls hatte
er von da an bis zum Ausscheiden aus dem Amte parlamentarische Ruhe.
Danach war freilich, wie Herr Naumann richtig erkennt, kein politisch er-
zognes Volk vorhanden, worunter er wohl nicht versteht ein für die Parla¬
mentsherrschaft erzognes Volk. Er wird als guter Kenner unsers Volks
genau wissen, daß es damit noch gute Wege hat, dazu müßte sich der Reichs¬
tag erst durch eine lange Reihe volkstümlicher Leistungen den Respekt wieder
erwerben, den er seit drei Jahrzehnten eingebüßt hat. Was aber seit damals
an politischem Sinn im Volke lebt, führt auf Bismarck zurück, alles übrige
war durch die langdauernde, in der Wahl der Mittel rücksichtslose Agitation
gegen ihn und seine Politik verwüstet und zertrümmert worden. Das Trümmer¬
feld jedoch, das hinterblieb, und auf dem nur noch die Sozialdemokratie
wuchern konnte, war nicht sein Werk, er hat es nur nicht verhindern können.
Aber im Kampfe um die Parlamentsherrschaft hatte er so vollkommen gesiegt,
daß zwanzig Jahre vergingen, bevor wieder der Versuch gemacht wurde, ihn
neu aufzunehmen. Nur die Mehrzahl der liberalen Blätter, darunter nicht
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[0176] volksstimmmig Volk hat diesem parlamentarischen Streite ziemlich gleichgiltig gegenüberge¬ standen. Am wenigsten begriff es, warum es sich nach den offenkundiger Taten der Regierung und namentlich Bismarcks für parlamentarische Herr¬ schaftsgelüste begeistern sollte. Aber durch eine skrupellose Agitation unaus¬ gesetzt an seinen materiellen Interessen angefaßt und hin und her gezerrt, hatte es Mühe, die Höhe des vaterländischen Standpunkts, auf den es die Gründung des Reichs emporgehoben hatte, den verwirrenden Parteikämpfen gegenüber zu behaupten. Dabei ging die Teilnahme an diesen und für ihren Schauplatz, den Reichstag, immer mehr zurück bis zur vollständigen Gleich- giltigkeit. Die lebende Generation hat nicht mehr recht die Erinnerung von den schweren Kämpfen Bismarcks, ein Jahrzehnt hindurch bis zum Jahre 1887, mit den von den Vorkämpfern des parlamentarischen Systems geführten Reichs¬ tagsmehrheiten, die alles bestritten, was von der Regierung kam, und denen er mit der größten Anstrengung nach und nach und nur stückweise die Zoll- und Steuerreform sowie die ersten grundlegenden sozialreformatorischen Gesetze abringen konnte. Die dabei interessierte Presse ist seitdem beflissen gewesen, diese Tatsachen zu verwischen und selbst in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber die namentlich zur Blütezeit der nachmaligen Bismarcklegende vielfach aufge¬ stellte Behauptung, zu Bismarcks Zeiten sei immer alles glatt abgegangen, ist einfach nicht wahr. Der Kern der deutscheu Bevölkerung hielt an Vismarck fest, und wenn er rief, wenn er selbst die Wahlparole gab, erklärte sich die Volksstimmung entschieden für ihn und gegen die Neichstagsmehrheit. Die Wahlen von 1887 endeten sogar mit einer geradezu vernichtenden Niederlage der Mehrheit Richter-Windthorst-Grillenberger, und es wurde damals mit Recht behauptet, der neue Reichstag sei auf den Namen Bismarcks gewählt. Jedenfalls hatte er von da an bis zum Ausscheiden aus dem Amte parlamentarische Ruhe. Danach war freilich, wie Herr Naumann richtig erkennt, kein politisch er- zognes Volk vorhanden, worunter er wohl nicht versteht ein für die Parla¬ mentsherrschaft erzognes Volk. Er wird als guter Kenner unsers Volks genau wissen, daß es damit noch gute Wege hat, dazu müßte sich der Reichs¬ tag erst durch eine lange Reihe volkstümlicher Leistungen den Respekt wieder erwerben, den er seit drei Jahrzehnten eingebüßt hat. Was aber seit damals an politischem Sinn im Volke lebt, führt auf Bismarck zurück, alles übrige war durch die langdauernde, in der Wahl der Mittel rücksichtslose Agitation gegen ihn und seine Politik verwüstet und zertrümmert worden. Das Trümmer¬ feld jedoch, das hinterblieb, und auf dem nur noch die Sozialdemokratie wuchern konnte, war nicht sein Werk, er hat es nur nicht verhindern können. Aber im Kampfe um die Parlamentsherrschaft hatte er so vollkommen gesiegt, daß zwanzig Jahre vergingen, bevor wieder der Versuch gemacht wurde, ihn neu aufzunehmen. Nur die Mehrzahl der liberalen Blätter, darunter nicht wenige als nationalliberal bezeichnete, haben die damaligen aus dem Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/176>, abgerufen am 12.12.2024.