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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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die Bravorufer geschickt verteilt sind, und der Uärteibyzantinismus noch in
ganz andrer Weise in Szene gesetzt wird als der sogenannte Hurrapatrio¬
tismus bei Kaiserreisen -- da wickelt sich freilich die Rede unter dem üblichen
Beifall ab, und die längst vorbereitete Resolution wird glatt und ohne
Widerspruch angenommen. Sie vermögen sich damit in dem Glauben zu er¬
halten, daß sie die wahren Vertreter des Volks wären. Bei den Wahlen
kommt es aber manchmal anders. Die Volksstimmung ist nur selten in
solchen künstlich vorbereiteten und meist auch bloß von den engern Partei¬
interessenten besuchten Versammlungen zu Hause, sie wohnt ganz wo anders,
sie geht nicht in solche Versammlungen, sondern will aufgesucht werden.
Bismarck kannte sie und wußte, wo sie wohnte. Er war darum auch ein
wirklicher Vertreter des deutschen Volks, obgleich er nicht vom Volke gewählt
worden war.

Von Friedrich Naumann stammt der bemerkenswerte Ausspruch: "Bis¬
marck wurde der politische Meister des deutschen Denkens, aber nicht der Er¬
zieher zur politischen Einzeltätigkeit. Infolgedessen liegt direkt hinter der
Schicht vom Jahre 1848 im geistigen Leben der deutschen Nation eine Schicht
von völlig andrer Konstruktion. Ihre nächsten Nachfolger aber verzichteten
auf eignes Wollen und Denken unter dem übermächtigen Eindruck, daß eine
Art von Genius beides für sie besorge. Und als dann Bismarck aus dem
politischen Leben ausschied, da hinterließ er eine Art Trümmerfeld: es bestand
keine politisch tätige Aristokratie, es bestand keine politisch erzogne Berufs¬
bildung. Es war kein Volk vorhanden, in dem politische Überlieferung, außer
beim Zentrum und bei der Sozialdemokratie, im Entstehn begriffen war."
Eine sehr scharfsichtige Beobachtung, wie sie einem so begabten und für sein
Volk warmherzigen Politiker ziemt, aber die Einkleidung fordert doch zu
einigen Betrachtungen auf, bloß damit verbreitete Irrtümer nicht weiter Raum
gewinnen mögen. Gewiß hat Bismarck das deutsche Denken gemeistert, indem
er es von der achtundvierziger Anschauung befreite, nach der das Deutsche
Reich durch Parlamentsbeschlüsse begründet werden könnte. So billig war es
nicht zu haben. Aber er hat, kurz nachdem er sich beim Bundestage über
die damalige Machtlosigkeit Österreichs und des Deutschen Bundes unterrichtet
und der Prinzregent die Heeresreorganisation durchgeführt hatte, die wieder
gegen das Parlament durchgesetzt werden mußte, auch den praktischen Teil
der Beschlüsse des Frankfurter Parlaments durchgeführt. Er hat demnach den
angeblichen Bruch zwischen 1848 und der spätern Zeit nicht verschuldet, und
er hatte auch immer die Volksstimmung auf seiner Seite. Die Schuld liegt
ganz bei denen, die nicht eingesehn hatten, daß der Weg, der seinerzeit in
Frankfurt in bester Absicht eingeschlagen worden war, gar nicht zum Ziele
führen konnte, die aber trotzdem an der parlamentarischen Methode festhielten.
In dem ganzen Zeitraum von 1848 bis 1866 wog der Kampf um die Macht
des Parlaments vor, der wesentlich in Preußen geführt wurde, da dort allein


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die Bravorufer geschickt verteilt sind, und der Uärteibyzantinismus noch in
ganz andrer Weise in Szene gesetzt wird als der sogenannte Hurrapatrio¬
tismus bei Kaiserreisen — da wickelt sich freilich die Rede unter dem üblichen
Beifall ab, und die längst vorbereitete Resolution wird glatt und ohne
Widerspruch angenommen. Sie vermögen sich damit in dem Glauben zu er¬
halten, daß sie die wahren Vertreter des Volks wären. Bei den Wahlen
kommt es aber manchmal anders. Die Volksstimmung ist nur selten in
solchen künstlich vorbereiteten und meist auch bloß von den engern Partei¬
interessenten besuchten Versammlungen zu Hause, sie wohnt ganz wo anders,
sie geht nicht in solche Versammlungen, sondern will aufgesucht werden.
Bismarck kannte sie und wußte, wo sie wohnte. Er war darum auch ein
wirklicher Vertreter des deutschen Volks, obgleich er nicht vom Volke gewählt
worden war.

Von Friedrich Naumann stammt der bemerkenswerte Ausspruch: „Bis¬
marck wurde der politische Meister des deutschen Denkens, aber nicht der Er¬
zieher zur politischen Einzeltätigkeit. Infolgedessen liegt direkt hinter der
Schicht vom Jahre 1848 im geistigen Leben der deutschen Nation eine Schicht
von völlig andrer Konstruktion. Ihre nächsten Nachfolger aber verzichteten
auf eignes Wollen und Denken unter dem übermächtigen Eindruck, daß eine
Art von Genius beides für sie besorge. Und als dann Bismarck aus dem
politischen Leben ausschied, da hinterließ er eine Art Trümmerfeld: es bestand
keine politisch tätige Aristokratie, es bestand keine politisch erzogne Berufs¬
bildung. Es war kein Volk vorhanden, in dem politische Überlieferung, außer
beim Zentrum und bei der Sozialdemokratie, im Entstehn begriffen war."
Eine sehr scharfsichtige Beobachtung, wie sie einem so begabten und für sein
Volk warmherzigen Politiker ziemt, aber die Einkleidung fordert doch zu
einigen Betrachtungen auf, bloß damit verbreitete Irrtümer nicht weiter Raum
gewinnen mögen. Gewiß hat Bismarck das deutsche Denken gemeistert, indem
er es von der achtundvierziger Anschauung befreite, nach der das Deutsche
Reich durch Parlamentsbeschlüsse begründet werden könnte. So billig war es
nicht zu haben. Aber er hat, kurz nachdem er sich beim Bundestage über
die damalige Machtlosigkeit Österreichs und des Deutschen Bundes unterrichtet
und der Prinzregent die Heeresreorganisation durchgeführt hatte, die wieder
gegen das Parlament durchgesetzt werden mußte, auch den praktischen Teil
der Beschlüsse des Frankfurter Parlaments durchgeführt. Er hat demnach den
angeblichen Bruch zwischen 1848 und der spätern Zeit nicht verschuldet, und
er hatte auch immer die Volksstimmung auf seiner Seite. Die Schuld liegt
ganz bei denen, die nicht eingesehn hatten, daß der Weg, der seinerzeit in
Frankfurt in bester Absicht eingeschlagen worden war, gar nicht zum Ziele
führen konnte, die aber trotzdem an der parlamentarischen Methode festhielten.
In dem ganzen Zeitraum von 1848 bis 1866 wog der Kampf um die Macht
des Parlaments vor, der wesentlich in Preußen geführt wurde, da dort allein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/174>, abgerufen am 23.07.2024.