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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

und sich den Anschein gab, als sei er über die Stimmung in den Kreisen der
österreichischen Diplomatie unterrichtet, führte diese Ideen näher aus. Diesem Vorgehn
sekundierte das Organ des Zentrums in unsrer Reichshauptstadt, die Germania, indem
sie die unwahren Behauptungen über die deutsche Politik wiederholte und unterstrich.
Es ist natürlich schwer festzustellen, aus welchen Zentrumskreisen diese Verdächtigungen,
die nicht nur von amtlicher Seite in Berlin und Wien gebührend zurückgewiesen,
sondern auch von der österreichisch-ungarischen Botschaft in Berlin als böswillige
Erfindung gekennzeichnet wurden, eigentlich stammten. Man glaubte anfangs, die
Feder des Abgeordneten Erzberger zu erkennen; nachdem dieser es bestimmt ab¬
geleugnet hat, kann man natürlich an dieser Annahme nicht festhalten, ohne in der
Lage zu sein, einen in solchem Falle unmöglichen Gegenbeweis zu führen. Übrigens
war man von Anfang an trotz der vermuteten Versasserschaft des Herrn Erzberger
der Meinung, daß andre Kreise die treibenden Elemente seien. Verschiedne Anzeichen
deuten darauf hin, daß hinter diesen Versuchen, in Wien Mißtrauen gegen die Berliner
Politik zu säen und vereinzelten Trägern einer Oppositionsstimmung gegen die Drei¬
bundpolitik in Wien ein ihnen nicht gebührendes Relief zu geben, einzelne katholische
Aristokraten stehn, die mit dem polnischen Adel beider Länder Fühlung habe", und
deren Einfluß Fürst Bülow im Wege ist. Für die parlamentarische Vertretung
und die politische Führung der Zentrumspartei haben diese Treibereien nur Ver¬
legenheiten geschaffen. Denn dort sieht man es zwar nicht ungern, wenn die
demagogisch geschulte Preßmeute der Partei kräftig gegen den Fürsten Bülow hetzt,
jede Gelegenheit benutzt, um möglichst einen Keil zwischen Kaiser und Kanzler zu
treiben, und durch dies alles in den Parteimassen eine Stimmung schafft, die sie
in schlechten Zeiten bei der Fahne hält und die Wiedererlangung der Macht vor¬
bereitet, aber man empfindet es sehr unbequem, wenn die Leute, die der Partei
für eine erfolgreiche politische Taktik verantwortlich sind, unnötig behindert, in
einer falschen Richtung festgelegt oder durch unberufne Einflüsse geradezu kom¬
promittiert und in eine politische Sackgasse gedrängt werden. Aus diesem Grunde
hat die Kölnische Volkszeitung die erwähnten Verdächtigungen der deutschen Politik
sehr entschieden verurteilt und in den Tagen, als Herr Erzberger allgemein als
Verfasser oder Inspirator der Artikel galt, die Stellung dieses Herrn in der Partei
und seine schriftstellerische Tätigkeit mit recht wenig freundlichen Worten bedacht,
aus denen ein unbefangner Leser sogar so etwas wie Geringschätzung heraushören
konnte. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die besser unterrichteten und
der Führung näher sitzenden Organe der Zentrumspresse einer besonnener" Richtung
wieder mehr Geltung verschaffen wollen. Das Demagogentum allein tut es nicht
mehr, auch nicht in der Opposition, und man scheint zu fühlen, daß es bei der
gegenwärtigen Konstellation in der Reichspolitik für das Zentrum nicht ratsam ist,
sich alle positiven Möglichkeiten zu verbauen. Man darf diese kleinen Symptome
keinesfalls übersehen.

In der Weltlage hat sich nicht viel verändert. Die Orientfrage rückt noch
immer nicht recht vom Fleck. Eine gewisse Spannung zwischen Petersburg und
Wien ist noch nicht beseitigt, und im Orient spielt die englische Politik nach wie
Vor eine Rolle, die nicht geeignet ist, die friedliche Lösung der Schwierigkeiten zu
fördern. Die jungtürkische Politik glaubt sich durch England in ihren Ansprüchen
moralisch gestützt; der Boykott österreichisch-ungarischer Waren im Orient wird
mit ungeschwächtem Eifer aufrechterhalten. Die slawischen Balkanstaaten unter¬
halten die kriegerische Stimmung, und der serbische Ministerpräsident Milowanowitsch
scheute in einer Rede in der Skupschtschina nicht vor einer Beleidigung Österreich-
Ungarns zurück -- mit einer Redewendung, die er freilich nachher auf ein Miß-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

und sich den Anschein gab, als sei er über die Stimmung in den Kreisen der
österreichischen Diplomatie unterrichtet, führte diese Ideen näher aus. Diesem Vorgehn
sekundierte das Organ des Zentrums in unsrer Reichshauptstadt, die Germania, indem
sie die unwahren Behauptungen über die deutsche Politik wiederholte und unterstrich.
Es ist natürlich schwer festzustellen, aus welchen Zentrumskreisen diese Verdächtigungen,
die nicht nur von amtlicher Seite in Berlin und Wien gebührend zurückgewiesen,
sondern auch von der österreichisch-ungarischen Botschaft in Berlin als böswillige
Erfindung gekennzeichnet wurden, eigentlich stammten. Man glaubte anfangs, die
Feder des Abgeordneten Erzberger zu erkennen; nachdem dieser es bestimmt ab¬
geleugnet hat, kann man natürlich an dieser Annahme nicht festhalten, ohne in der
Lage zu sein, einen in solchem Falle unmöglichen Gegenbeweis zu führen. Übrigens
war man von Anfang an trotz der vermuteten Versasserschaft des Herrn Erzberger
der Meinung, daß andre Kreise die treibenden Elemente seien. Verschiedne Anzeichen
deuten darauf hin, daß hinter diesen Versuchen, in Wien Mißtrauen gegen die Berliner
Politik zu säen und vereinzelten Trägern einer Oppositionsstimmung gegen die Drei¬
bundpolitik in Wien ein ihnen nicht gebührendes Relief zu geben, einzelne katholische
Aristokraten stehn, die mit dem polnischen Adel beider Länder Fühlung habe», und
deren Einfluß Fürst Bülow im Wege ist. Für die parlamentarische Vertretung
und die politische Führung der Zentrumspartei haben diese Treibereien nur Ver¬
legenheiten geschaffen. Denn dort sieht man es zwar nicht ungern, wenn die
demagogisch geschulte Preßmeute der Partei kräftig gegen den Fürsten Bülow hetzt,
jede Gelegenheit benutzt, um möglichst einen Keil zwischen Kaiser und Kanzler zu
treiben, und durch dies alles in den Parteimassen eine Stimmung schafft, die sie
in schlechten Zeiten bei der Fahne hält und die Wiedererlangung der Macht vor¬
bereitet, aber man empfindet es sehr unbequem, wenn die Leute, die der Partei
für eine erfolgreiche politische Taktik verantwortlich sind, unnötig behindert, in
einer falschen Richtung festgelegt oder durch unberufne Einflüsse geradezu kom¬
promittiert und in eine politische Sackgasse gedrängt werden. Aus diesem Grunde
hat die Kölnische Volkszeitung die erwähnten Verdächtigungen der deutschen Politik
sehr entschieden verurteilt und in den Tagen, als Herr Erzberger allgemein als
Verfasser oder Inspirator der Artikel galt, die Stellung dieses Herrn in der Partei
und seine schriftstellerische Tätigkeit mit recht wenig freundlichen Worten bedacht,
aus denen ein unbefangner Leser sogar so etwas wie Geringschätzung heraushören
konnte. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die besser unterrichteten und
der Führung näher sitzenden Organe der Zentrumspresse einer besonnener» Richtung
wieder mehr Geltung verschaffen wollen. Das Demagogentum allein tut es nicht
mehr, auch nicht in der Opposition, und man scheint zu fühlen, daß es bei der
gegenwärtigen Konstellation in der Reichspolitik für das Zentrum nicht ratsam ist,
sich alle positiven Möglichkeiten zu verbauen. Man darf diese kleinen Symptome
keinesfalls übersehen.

In der Weltlage hat sich nicht viel verändert. Die Orientfrage rückt noch
immer nicht recht vom Fleck. Eine gewisse Spannung zwischen Petersburg und
Wien ist noch nicht beseitigt, und im Orient spielt die englische Politik nach wie
Vor eine Rolle, die nicht geeignet ist, die friedliche Lösung der Schwierigkeiten zu
fördern. Die jungtürkische Politik glaubt sich durch England in ihren Ansprüchen
moralisch gestützt; der Boykott österreichisch-ungarischer Waren im Orient wird
mit ungeschwächtem Eifer aufrechterhalten. Die slawischen Balkanstaaten unter¬
halten die kriegerische Stimmung, und der serbische Ministerpräsident Milowanowitsch
scheute in einer Rede in der Skupschtschina nicht vor einer Beleidigung Österreich-
Ungarns zurück — mit einer Redewendung, die er freilich nachher auf ein Miß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/168>, abgerufen am 12.12.2024.