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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch-slawische Beziehungen

englischer und französischer Unternehmer und Kapitalisten. Rußland ist auch in
Friedenszeiten technisch weder imstande, seinen Armcebedarf selbständig zu decken
noch selbständig ein modernes und brauchbares Kriegsschiff zu bauen.*) Als der
Krieg gegen Japan nusbrach, mußten ausländische Ingenieure in die Staats¬
werkstätten gerufen werden, damit diese in den Stand gesetzt wurden, die Armee
mit Geschossen zu versehn. Es ist darum geradezu unverständlich, woher die
russische Presse den Mut nimmt, Rußland in einen Krieg drängen zu wollen.

Ähnlich liegen die Dinge bei den Südslawen: Bulgaren, Serben, Kroaten,
Dalmatinern. Auch sie sind, wo sie aus der Naturalwirtschaft heraustreten, auf
ausländische Erzeugnisse und ausländisches Kapital angewiesen. Die geographische
Lage der genannten Staaten bringt es mit sich, daß sie vor allen Dingen unter
den Einfluß deutschen Erwerbssinns geraten sind. Alles das bestätigten im
vergangnen Sommer die südslawischen Sendboten zum Slaweukongreß in Prag.

In kultureller Beziehung ist das Kampfgebiet noch eigenartiger.

Die Ostslawen, Moskowiter, sind von 1800 bis 1864 unbedingt voran¬
gekommen, wenngleich die bureaukratisch unterjochte Autokratie jeden Fortschritt
unterband. Der beste Beweis für die Nichtigkeit unsrer Ansicht sind die großen
Reformen der sechziger Jahre, die Aufhebung der Hörigkeit, die Einführung
der Gerichtsreform und der Selbstverwaltung. Solche Umwälzungen können
nicht über Nacht entstehn; sie werden durch die innere Umbildung der Gesell¬
schaft allmählich vorbereitet. Daß sich die Institutionen nicht gesund ent¬
wickelt sondern zur letzten Revolution geführt haben, gibt uns die gegenwärtige
Grenze der russischen Kulturfühigkeit an. Die Moskowiter versteh" wohl eine
Neuheit bei sich einzuführen, wie sie imstande sind, einen Prachtbau aufzurichten,
aber sie vermögen es nicht, den Raum auszufüllen, wohnbar, zweckmäßig
auszugestalten und zu verbessern. Sobald in Nußland etwas Neues dem
Gebrauch überwiesen ist, gilt es nicht mehr; es füllt der Mißachtung anheim,
kann verwittern und verkommen, und der Moskowiter wird sich nicht eher
darum sorgen, als bis es ihm über dem Kopf zusammenbricht. Als Illustration
hierzu diene die Tatsache, daß im Jahre 1905/06 in der russischen Hauptstadt,
also unter den Augen der Zentralgewalt, nicht weniger als drei Brücken ein¬
stürzen konnten! Wie der russische Bauer eine vierzigjährige Birke fällt, um
sich einen Peitschenstock zu schneiden, wie die russische Mutter das von der
Brust abgesetzte Kind leicht seinem Schicksal überläßt, so kümmert sich das
Volk in seiner Gesamtheit nicht um Staatsinstitutionen, für die es vielleicht
Tausende von Menschenleben opferte. Der beste Beweis hierfür ist die Teil¬
nahmlosigkeit der Bevölkerung gegenüber der Reichsduma und deren tatsächliche
Bedeutungslosigkeit für die weiten Kreise, die dafür gekümpft haben. Ein
weiterer Beweis liegt in der Tatsache, daß fünfundvierzig Jahre uach Ein¬
führung des Gerichtsstatuts ebensolche Korruption in der höchsten Beamtenschaft



) Die letzte große Lieferung von Torpedobooten mußte in Trieft bestellt werden.
Deutsch-slawische Beziehungen

englischer und französischer Unternehmer und Kapitalisten. Rußland ist auch in
Friedenszeiten technisch weder imstande, seinen Armcebedarf selbständig zu decken
noch selbständig ein modernes und brauchbares Kriegsschiff zu bauen.*) Als der
Krieg gegen Japan nusbrach, mußten ausländische Ingenieure in die Staats¬
werkstätten gerufen werden, damit diese in den Stand gesetzt wurden, die Armee
mit Geschossen zu versehn. Es ist darum geradezu unverständlich, woher die
russische Presse den Mut nimmt, Rußland in einen Krieg drängen zu wollen.

Ähnlich liegen die Dinge bei den Südslawen: Bulgaren, Serben, Kroaten,
Dalmatinern. Auch sie sind, wo sie aus der Naturalwirtschaft heraustreten, auf
ausländische Erzeugnisse und ausländisches Kapital angewiesen. Die geographische
Lage der genannten Staaten bringt es mit sich, daß sie vor allen Dingen unter
den Einfluß deutschen Erwerbssinns geraten sind. Alles das bestätigten im
vergangnen Sommer die südslawischen Sendboten zum Slaweukongreß in Prag.

In kultureller Beziehung ist das Kampfgebiet noch eigenartiger.

Die Ostslawen, Moskowiter, sind von 1800 bis 1864 unbedingt voran¬
gekommen, wenngleich die bureaukratisch unterjochte Autokratie jeden Fortschritt
unterband. Der beste Beweis für die Nichtigkeit unsrer Ansicht sind die großen
Reformen der sechziger Jahre, die Aufhebung der Hörigkeit, die Einführung
der Gerichtsreform und der Selbstverwaltung. Solche Umwälzungen können
nicht über Nacht entstehn; sie werden durch die innere Umbildung der Gesell¬
schaft allmählich vorbereitet. Daß sich die Institutionen nicht gesund ent¬
wickelt sondern zur letzten Revolution geführt haben, gibt uns die gegenwärtige
Grenze der russischen Kulturfühigkeit an. Die Moskowiter versteh» wohl eine
Neuheit bei sich einzuführen, wie sie imstande sind, einen Prachtbau aufzurichten,
aber sie vermögen es nicht, den Raum auszufüllen, wohnbar, zweckmäßig
auszugestalten und zu verbessern. Sobald in Nußland etwas Neues dem
Gebrauch überwiesen ist, gilt es nicht mehr; es füllt der Mißachtung anheim,
kann verwittern und verkommen, und der Moskowiter wird sich nicht eher
darum sorgen, als bis es ihm über dem Kopf zusammenbricht. Als Illustration
hierzu diene die Tatsache, daß im Jahre 1905/06 in der russischen Hauptstadt,
also unter den Augen der Zentralgewalt, nicht weniger als drei Brücken ein¬
stürzen konnten! Wie der russische Bauer eine vierzigjährige Birke fällt, um
sich einen Peitschenstock zu schneiden, wie die russische Mutter das von der
Brust abgesetzte Kind leicht seinem Schicksal überläßt, so kümmert sich das
Volk in seiner Gesamtheit nicht um Staatsinstitutionen, für die es vielleicht
Tausende von Menschenleben opferte. Der beste Beweis hierfür ist die Teil¬
nahmlosigkeit der Bevölkerung gegenüber der Reichsduma und deren tatsächliche
Bedeutungslosigkeit für die weiten Kreise, die dafür gekümpft haben. Ein
weiterer Beweis liegt in der Tatsache, daß fünfundvierzig Jahre uach Ein¬
führung des Gerichtsstatuts ebensolche Korruption in der höchsten Beamtenschaft



) Die letzte große Lieferung von Torpedobooten mußte in Trieft bestellt werden.
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[0016] Deutsch-slawische Beziehungen englischer und französischer Unternehmer und Kapitalisten. Rußland ist auch in Friedenszeiten technisch weder imstande, seinen Armcebedarf selbständig zu decken noch selbständig ein modernes und brauchbares Kriegsschiff zu bauen.*) Als der Krieg gegen Japan nusbrach, mußten ausländische Ingenieure in die Staats¬ werkstätten gerufen werden, damit diese in den Stand gesetzt wurden, die Armee mit Geschossen zu versehn. Es ist darum geradezu unverständlich, woher die russische Presse den Mut nimmt, Rußland in einen Krieg drängen zu wollen. Ähnlich liegen die Dinge bei den Südslawen: Bulgaren, Serben, Kroaten, Dalmatinern. Auch sie sind, wo sie aus der Naturalwirtschaft heraustreten, auf ausländische Erzeugnisse und ausländisches Kapital angewiesen. Die geographische Lage der genannten Staaten bringt es mit sich, daß sie vor allen Dingen unter den Einfluß deutschen Erwerbssinns geraten sind. Alles das bestätigten im vergangnen Sommer die südslawischen Sendboten zum Slaweukongreß in Prag. In kultureller Beziehung ist das Kampfgebiet noch eigenartiger. Die Ostslawen, Moskowiter, sind von 1800 bis 1864 unbedingt voran¬ gekommen, wenngleich die bureaukratisch unterjochte Autokratie jeden Fortschritt unterband. Der beste Beweis für die Nichtigkeit unsrer Ansicht sind die großen Reformen der sechziger Jahre, die Aufhebung der Hörigkeit, die Einführung der Gerichtsreform und der Selbstverwaltung. Solche Umwälzungen können nicht über Nacht entstehn; sie werden durch die innere Umbildung der Gesell¬ schaft allmählich vorbereitet. Daß sich die Institutionen nicht gesund ent¬ wickelt sondern zur letzten Revolution geführt haben, gibt uns die gegenwärtige Grenze der russischen Kulturfühigkeit an. Die Moskowiter versteh» wohl eine Neuheit bei sich einzuführen, wie sie imstande sind, einen Prachtbau aufzurichten, aber sie vermögen es nicht, den Raum auszufüllen, wohnbar, zweckmäßig auszugestalten und zu verbessern. Sobald in Nußland etwas Neues dem Gebrauch überwiesen ist, gilt es nicht mehr; es füllt der Mißachtung anheim, kann verwittern und verkommen, und der Moskowiter wird sich nicht eher darum sorgen, als bis es ihm über dem Kopf zusammenbricht. Als Illustration hierzu diene die Tatsache, daß im Jahre 1905/06 in der russischen Hauptstadt, also unter den Augen der Zentralgewalt, nicht weniger als drei Brücken ein¬ stürzen konnten! Wie der russische Bauer eine vierzigjährige Birke fällt, um sich einen Peitschenstock zu schneiden, wie die russische Mutter das von der Brust abgesetzte Kind leicht seinem Schicksal überläßt, so kümmert sich das Volk in seiner Gesamtheit nicht um Staatsinstitutionen, für die es vielleicht Tausende von Menschenleben opferte. Der beste Beweis hierfür ist die Teil¬ nahmlosigkeit der Bevölkerung gegenüber der Reichsduma und deren tatsächliche Bedeutungslosigkeit für die weiten Kreise, die dafür gekümpft haben. Ein weiterer Beweis liegt in der Tatsache, daß fünfundvierzig Jahre uach Ein¬ führung des Gerichtsstatuts ebensolche Korruption in der höchsten Beamtenschaft ) Die letzte große Lieferung von Torpedobooten mußte in Trieft bestellt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/16>, abgerufen am 03.07.2024.