Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsch-slawische Beziehungen

bestehn kann wie damals, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach abermals
fünfundvierzig Jahren trotz der Duma ähnliche Dinge täglich vorkommen werden,
wie sie gegenwärtig wieder einmal in Moskau und im Finanzministerium zu
Se. Petersburg aufgedeckt worden sind.

Was haben die Moskowiter der Menschheit gebracht?

Bakunin, den Nihilisten, Leo Tolstoj mit seiner kulturwidrigen, auf einen
verdorbnen Magen hindeutenden Philosophie! Gewiß haben beide ihre Gesell¬
schaft an den Pranger gestellt -- gewiß haben beide an der Beseitigung ver-
schiedner Schäden mitgewirkt -- aber durch welche Mittel?! Weder Bakunin
noch Tolstoj haben aufgebaut, beide haben lediglich morsche Mauern eingerissen.

Ich höre die Hinweise auf verschiedne Dichter, Puschkin, Dostojewski,
Lomonossow, Gogol, Schtschedrin. Die Modernen rufen Gorki, Andrejew -- ja,
wer vermag trotz ihrer Verdienste um die russische Sprache auch nur auf eine
Leistung bei ihnen hinzuweisen,*) deren sich Shakespeare, Rousseau, Mickiewicz,
Schiller und der Fürst aller Dichter und Denker, Goethe, zu rühmen vermögen!
Wo sind wirklich in der gesamten russischen Literatur des neunzehnten Jahr¬
hunderts neue Gedanken, die nicht schon früher ausgesprochen und erschöpfend
begründet worden wären? Genügt es wirklich, die Literatursprache gereinigt
zu haben? Vielleicht in der neuern Philosophie, die unter der Führung des
verstorbnen Ssergej Trubetzkoj an das klassische Altertum anknüpft und nun
auf die Schaffung einer slawischen Religion hinstrebt. Vielleicht, daß aus dem
die russische Staatskirche zerfressenden Sektenwesen ein neues Dogma geboren
wird, das nicht nur das römische Dogma vernichtet, sondern auch die Lehre
Luthers ersetzt. Bisher ist es bei Versuchen geblieben, und die Häretiker aus
dem Volk wandeln fast alle auf den Pfaden, die zu Luther, also zu dem
deutschen Kulturträger führen.

. Auch von den Südslawen ist wenig mehr zu sagen als von den Russen.
Ihre Literatur ist wenig entwickelt, die Wissenschaft vollständig in Abhängig¬
keit von der deutschen.

Glücklicher sind auch die Tschechen nicht gewesen. Auch sie vermochten
trotz Schafarik, des Historikers, keine die Menschheit beglückende Kulturleistung
zu vollbringen. Wo sie aber Anerkennung verdienen, da haben sie unter deutscher
Führung gearbeitet. Hierher gehören vor allen die Forschungen auf dem Gebiete
der Slawistik, wobei wir die Verdienste eines Jagitsch durchaus nicht ver¬
kennen. Der Tschechenführer Dr. Kramarz mußte zur Vervollständigung seiner
Bildung in Berlin studieren.

Unzweifelhaft die größten Fortschritte und Leistungen in Hinsicht auf die
Kultur haben unter den Slawen die Polen zu verzeichnen. Bei ihnen hat



Es sei hierbei daran erinnert, daß die erste systematische Darstellung der russischen
Sprache von einem Manne deutscher Abstammung, Dahl, herrührt. Das gleiche gilt von der
vergleichenden Erforschung der slawischen Sprachen. Der wissenschaftliche Pnnslawismus ist ein
Kind deutschen Fleißes.
Grenz boten I 1909 2
Deutsch-slawische Beziehungen

bestehn kann wie damals, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach abermals
fünfundvierzig Jahren trotz der Duma ähnliche Dinge täglich vorkommen werden,
wie sie gegenwärtig wieder einmal in Moskau und im Finanzministerium zu
Se. Petersburg aufgedeckt worden sind.

Was haben die Moskowiter der Menschheit gebracht?

Bakunin, den Nihilisten, Leo Tolstoj mit seiner kulturwidrigen, auf einen
verdorbnen Magen hindeutenden Philosophie! Gewiß haben beide ihre Gesell¬
schaft an den Pranger gestellt — gewiß haben beide an der Beseitigung ver-
schiedner Schäden mitgewirkt — aber durch welche Mittel?! Weder Bakunin
noch Tolstoj haben aufgebaut, beide haben lediglich morsche Mauern eingerissen.

Ich höre die Hinweise auf verschiedne Dichter, Puschkin, Dostojewski,
Lomonossow, Gogol, Schtschedrin. Die Modernen rufen Gorki, Andrejew — ja,
wer vermag trotz ihrer Verdienste um die russische Sprache auch nur auf eine
Leistung bei ihnen hinzuweisen,*) deren sich Shakespeare, Rousseau, Mickiewicz,
Schiller und der Fürst aller Dichter und Denker, Goethe, zu rühmen vermögen!
Wo sind wirklich in der gesamten russischen Literatur des neunzehnten Jahr¬
hunderts neue Gedanken, die nicht schon früher ausgesprochen und erschöpfend
begründet worden wären? Genügt es wirklich, die Literatursprache gereinigt
zu haben? Vielleicht in der neuern Philosophie, die unter der Führung des
verstorbnen Ssergej Trubetzkoj an das klassische Altertum anknüpft und nun
auf die Schaffung einer slawischen Religion hinstrebt. Vielleicht, daß aus dem
die russische Staatskirche zerfressenden Sektenwesen ein neues Dogma geboren
wird, das nicht nur das römische Dogma vernichtet, sondern auch die Lehre
Luthers ersetzt. Bisher ist es bei Versuchen geblieben, und die Häretiker aus
dem Volk wandeln fast alle auf den Pfaden, die zu Luther, also zu dem
deutschen Kulturträger führen.

. Auch von den Südslawen ist wenig mehr zu sagen als von den Russen.
Ihre Literatur ist wenig entwickelt, die Wissenschaft vollständig in Abhängig¬
keit von der deutschen.

Glücklicher sind auch die Tschechen nicht gewesen. Auch sie vermochten
trotz Schafarik, des Historikers, keine die Menschheit beglückende Kulturleistung
zu vollbringen. Wo sie aber Anerkennung verdienen, da haben sie unter deutscher
Führung gearbeitet. Hierher gehören vor allen die Forschungen auf dem Gebiete
der Slawistik, wobei wir die Verdienste eines Jagitsch durchaus nicht ver¬
kennen. Der Tschechenführer Dr. Kramarz mußte zur Vervollständigung seiner
Bildung in Berlin studieren.

Unzweifelhaft die größten Fortschritte und Leistungen in Hinsicht auf die
Kultur haben unter den Slawen die Polen zu verzeichnen. Bei ihnen hat



Es sei hierbei daran erinnert, daß die erste systematische Darstellung der russischen
Sprache von einem Manne deutscher Abstammung, Dahl, herrührt. Das gleiche gilt von der
vergleichenden Erforschung der slawischen Sprachen. Der wissenschaftliche Pnnslawismus ist ein
Kind deutschen Fleißes.
Grenz boten I 1909 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312368"/>
            <fw type="header" place="top"> Deutsch-slawische Beziehungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_35" prev="#ID_34"> bestehn kann wie damals, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach abermals<lb/>
fünfundvierzig Jahren trotz der Duma ähnliche Dinge täglich vorkommen werden,<lb/>
wie sie gegenwärtig wieder einmal in Moskau und im Finanzministerium zu<lb/>
Se. Petersburg aufgedeckt worden sind.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_36"> Was haben die Moskowiter der Menschheit gebracht?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_37"> Bakunin, den Nihilisten, Leo Tolstoj mit seiner kulturwidrigen, auf einen<lb/>
verdorbnen Magen hindeutenden Philosophie! Gewiß haben beide ihre Gesell¬<lb/>
schaft an den Pranger gestellt &#x2014; gewiß haben beide an der Beseitigung ver-<lb/>
schiedner Schäden mitgewirkt &#x2014; aber durch welche Mittel?! Weder Bakunin<lb/>
noch Tolstoj haben aufgebaut, beide haben lediglich morsche Mauern eingerissen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_38"> Ich höre die Hinweise auf verschiedne Dichter, Puschkin, Dostojewski,<lb/>
Lomonossow, Gogol, Schtschedrin. Die Modernen rufen Gorki, Andrejew &#x2014; ja,<lb/>
wer vermag trotz ihrer Verdienste um die russische Sprache auch nur auf eine<lb/>
Leistung bei ihnen hinzuweisen,*) deren sich Shakespeare, Rousseau, Mickiewicz,<lb/>
Schiller und der Fürst aller Dichter und Denker, Goethe, zu rühmen vermögen!<lb/>
Wo sind wirklich in der gesamten russischen Literatur des neunzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts neue Gedanken, die nicht schon früher ausgesprochen und erschöpfend<lb/>
begründet worden wären? Genügt es wirklich, die Literatursprache gereinigt<lb/>
zu haben? Vielleicht in der neuern Philosophie, die unter der Führung des<lb/>
verstorbnen Ssergej Trubetzkoj an das klassische Altertum anknüpft und nun<lb/>
auf die Schaffung einer slawischen Religion hinstrebt. Vielleicht, daß aus dem<lb/>
die russische Staatskirche zerfressenden Sektenwesen ein neues Dogma geboren<lb/>
wird, das nicht nur das römische Dogma vernichtet, sondern auch die Lehre<lb/>
Luthers ersetzt. Bisher ist es bei Versuchen geblieben, und die Häretiker aus<lb/>
dem Volk wandeln fast alle auf den Pfaden, die zu Luther, also zu dem<lb/>
deutschen Kulturträger führen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_39"> . Auch von den Südslawen ist wenig mehr zu sagen als von den Russen.<lb/>
Ihre Literatur ist wenig entwickelt, die Wissenschaft vollständig in Abhängig¬<lb/>
keit von der deutschen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_40"> Glücklicher sind auch die Tschechen nicht gewesen. Auch sie vermochten<lb/>
trotz Schafarik, des Historikers, keine die Menschheit beglückende Kulturleistung<lb/>
zu vollbringen. Wo sie aber Anerkennung verdienen, da haben sie unter deutscher<lb/>
Führung gearbeitet. Hierher gehören vor allen die Forschungen auf dem Gebiete<lb/>
der Slawistik, wobei wir die Verdienste eines Jagitsch durchaus nicht ver¬<lb/>
kennen. Der Tschechenführer Dr. Kramarz mußte zur Vervollständigung seiner<lb/>
Bildung in Berlin studieren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Unzweifelhaft die größten Fortschritte und Leistungen in Hinsicht auf die<lb/>
Kultur haben unter den Slawen die Polen zu verzeichnen.  Bei ihnen hat</p><lb/>
            <note xml:id="FID_4" place="foot"> Es sei hierbei daran erinnert, daß die erste systematische Darstellung der russischen<lb/>
Sprache von einem Manne deutscher Abstammung, Dahl, herrührt. Das gleiche gilt von der<lb/>
vergleichenden Erforschung der slawischen Sprachen. Der wissenschaftliche Pnnslawismus ist ein<lb/>
Kind deutschen Fleißes.</note><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenz boten I 1909 2</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0017] Deutsch-slawische Beziehungen bestehn kann wie damals, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach abermals fünfundvierzig Jahren trotz der Duma ähnliche Dinge täglich vorkommen werden, wie sie gegenwärtig wieder einmal in Moskau und im Finanzministerium zu Se. Petersburg aufgedeckt worden sind. Was haben die Moskowiter der Menschheit gebracht? Bakunin, den Nihilisten, Leo Tolstoj mit seiner kulturwidrigen, auf einen verdorbnen Magen hindeutenden Philosophie! Gewiß haben beide ihre Gesell¬ schaft an den Pranger gestellt — gewiß haben beide an der Beseitigung ver- schiedner Schäden mitgewirkt — aber durch welche Mittel?! Weder Bakunin noch Tolstoj haben aufgebaut, beide haben lediglich morsche Mauern eingerissen. Ich höre die Hinweise auf verschiedne Dichter, Puschkin, Dostojewski, Lomonossow, Gogol, Schtschedrin. Die Modernen rufen Gorki, Andrejew — ja, wer vermag trotz ihrer Verdienste um die russische Sprache auch nur auf eine Leistung bei ihnen hinzuweisen,*) deren sich Shakespeare, Rousseau, Mickiewicz, Schiller und der Fürst aller Dichter und Denker, Goethe, zu rühmen vermögen! Wo sind wirklich in der gesamten russischen Literatur des neunzehnten Jahr¬ hunderts neue Gedanken, die nicht schon früher ausgesprochen und erschöpfend begründet worden wären? Genügt es wirklich, die Literatursprache gereinigt zu haben? Vielleicht in der neuern Philosophie, die unter der Führung des verstorbnen Ssergej Trubetzkoj an das klassische Altertum anknüpft und nun auf die Schaffung einer slawischen Religion hinstrebt. Vielleicht, daß aus dem die russische Staatskirche zerfressenden Sektenwesen ein neues Dogma geboren wird, das nicht nur das römische Dogma vernichtet, sondern auch die Lehre Luthers ersetzt. Bisher ist es bei Versuchen geblieben, und die Häretiker aus dem Volk wandeln fast alle auf den Pfaden, die zu Luther, also zu dem deutschen Kulturträger führen. . Auch von den Südslawen ist wenig mehr zu sagen als von den Russen. Ihre Literatur ist wenig entwickelt, die Wissenschaft vollständig in Abhängig¬ keit von der deutschen. Glücklicher sind auch die Tschechen nicht gewesen. Auch sie vermochten trotz Schafarik, des Historikers, keine die Menschheit beglückende Kulturleistung zu vollbringen. Wo sie aber Anerkennung verdienen, da haben sie unter deutscher Führung gearbeitet. Hierher gehören vor allen die Forschungen auf dem Gebiete der Slawistik, wobei wir die Verdienste eines Jagitsch durchaus nicht ver¬ kennen. Der Tschechenführer Dr. Kramarz mußte zur Vervollständigung seiner Bildung in Berlin studieren. Unzweifelhaft die größten Fortschritte und Leistungen in Hinsicht auf die Kultur haben unter den Slawen die Polen zu verzeichnen. Bei ihnen hat Es sei hierbei daran erinnert, daß die erste systematische Darstellung der russischen Sprache von einem Manne deutscher Abstammung, Dahl, herrührt. Das gleiche gilt von der vergleichenden Erforschung der slawischen Sprachen. Der wissenschaftliche Pnnslawismus ist ein Kind deutschen Fleißes. Grenz boten I 1909 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/17
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/17>, abgerufen am 23.07.2024.