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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die Tätigkeit der ungarischen Koalition

infolge des Wahlkampfs allerdings noch in zwei für den Augenblick sehr er¬
bitterten Lagern. Ein solcher Zustand bedürfte der Abklärung, denn an eine
Übernahme der Regierung durch die Führer der siegreichen Koalition auf
Grund ihres Wahlprogramms war nicht zu denken. Darum hatten die zahl¬
reichen Konferenzen der ungarischen Koalitionsführer in der Wiener Hofburg
kein Ergebnis, der Kaiser beharrte in den Heeresfragen auf seinem Stand¬
punkte. Erst am 19. Mai berief er zur Führung der Geschäfte das "außer¬
parlamentarische" Ministerium Fejervary, worüber in der Presse hüben wie
drüben nicht geringer Lärm gemacht wurde. Das Abgeordnetenhaus protestierte,
die meisten Komitate und Städte verweigerten die Steuern und die Rekruten,
aber die Bevölkerung blieb ruhig. Im Verlauf des Sommers machte nun
der Minister des Innern mehrfach Andeutungen, daß man mit der Einführung
des allgemeinen Wahlrechts vorgehn werde. Damit wäre freilich die Herr¬
schaft der ungarischen Clique -- einerlei, ob sie jetzt zur Minorität oder
Majorität gehörte --, die bisher die politische Gewalt in Händen gehabt
hätte, beseitigt worden; doch verlautete klugerweise in der Öffentlichkeit darüber
kein Wort. Obgleich sich Fejervary selbst noch nicht für das allgemeine
Wahlrecht ausgesprochen hatte, schien es für die herrschende Clique doch die
höchste Zeit, das gefährliche Ministerium loszuwerden, und die Führer der
Koalition wurden von der ungarischen Aristokratie im stillen bestürmt, in der
Armeefrage nachzugeben. Nachdem die Geneigtheit dazu der Wiener Hofburg
bekannt gegeben worden war, trat nach der parlamentarischen Schablone das
Ministerium zurück, und die Führer der Koalition wurden zu Verhandlungen
nach Wien berufen. Da sie aber glaubten, nach der Beseitigung Fejervarys
sei nun für sie das Feld ohne weiteres frei, ließen sie sich am 21. September
vom Ausschuß der Koalition überreden, ihre alten Forderungen militärischen
Inhalts wieder aufzunehmen.

Darauf folgte am 23. September der berühmte Empfang in der Hofburg
zu Wien, bei dem der Monarch die Herren kurz abfertigte und sie mit einem
schriftlichen Ultimatum entließ, in dem alle weitern militärischen Zugeständnisse
wiederholt abgelehnt wurden. Die Presse, die von den geheimen Vorver¬
handlungen nichts wußte und bisher schon immer die Sachlage zugunsten der
ungarischen parlamentarischen Machtcrweiterungsgelüste ausgelegt hatte, verlor
dieser Tatsache gegenüber alles Urteil und alle Objektivität und konnte oder
wollte sie sich nur durch eine plötzliche Sinnesänderung des Monarchen er¬
klären, während die Schwenkung ganz auf der andern Seite lag. Am
18. Oktober wurde das Ministerium Fejervary förmlich wieder eingesetzt, es
kam im Lande wohl zu einigen leichten Unruhen, da aber die sozialdemo¬
kratischen Massen wegen des allgemeinen Stimmrechts für das Ministerium
Partei nahmen, waren größere politische Demonstrationen nicht ins Werk zu
setzen. Die gesamte innere politische Tätigkeit geriet nun allerdings ins
Stocken, und da durch duldendes Zuwarten die Koalition nicht zum Einlenken
gebracht worden war, begann Baron Fejervary mit dem Jahre 1906, die


Die Tätigkeit der ungarischen Koalition

infolge des Wahlkampfs allerdings noch in zwei für den Augenblick sehr er¬
bitterten Lagern. Ein solcher Zustand bedürfte der Abklärung, denn an eine
Übernahme der Regierung durch die Führer der siegreichen Koalition auf
Grund ihres Wahlprogramms war nicht zu denken. Darum hatten die zahl¬
reichen Konferenzen der ungarischen Koalitionsführer in der Wiener Hofburg
kein Ergebnis, der Kaiser beharrte in den Heeresfragen auf seinem Stand¬
punkte. Erst am 19. Mai berief er zur Führung der Geschäfte das „außer¬
parlamentarische" Ministerium Fejervary, worüber in der Presse hüben wie
drüben nicht geringer Lärm gemacht wurde. Das Abgeordnetenhaus protestierte,
die meisten Komitate und Städte verweigerten die Steuern und die Rekruten,
aber die Bevölkerung blieb ruhig. Im Verlauf des Sommers machte nun
der Minister des Innern mehrfach Andeutungen, daß man mit der Einführung
des allgemeinen Wahlrechts vorgehn werde. Damit wäre freilich die Herr¬
schaft der ungarischen Clique — einerlei, ob sie jetzt zur Minorität oder
Majorität gehörte —, die bisher die politische Gewalt in Händen gehabt
hätte, beseitigt worden; doch verlautete klugerweise in der Öffentlichkeit darüber
kein Wort. Obgleich sich Fejervary selbst noch nicht für das allgemeine
Wahlrecht ausgesprochen hatte, schien es für die herrschende Clique doch die
höchste Zeit, das gefährliche Ministerium loszuwerden, und die Führer der
Koalition wurden von der ungarischen Aristokratie im stillen bestürmt, in der
Armeefrage nachzugeben. Nachdem die Geneigtheit dazu der Wiener Hofburg
bekannt gegeben worden war, trat nach der parlamentarischen Schablone das
Ministerium zurück, und die Führer der Koalition wurden zu Verhandlungen
nach Wien berufen. Da sie aber glaubten, nach der Beseitigung Fejervarys
sei nun für sie das Feld ohne weiteres frei, ließen sie sich am 21. September
vom Ausschuß der Koalition überreden, ihre alten Forderungen militärischen
Inhalts wieder aufzunehmen.

Darauf folgte am 23. September der berühmte Empfang in der Hofburg
zu Wien, bei dem der Monarch die Herren kurz abfertigte und sie mit einem
schriftlichen Ultimatum entließ, in dem alle weitern militärischen Zugeständnisse
wiederholt abgelehnt wurden. Die Presse, die von den geheimen Vorver¬
handlungen nichts wußte und bisher schon immer die Sachlage zugunsten der
ungarischen parlamentarischen Machtcrweiterungsgelüste ausgelegt hatte, verlor
dieser Tatsache gegenüber alles Urteil und alle Objektivität und konnte oder
wollte sie sich nur durch eine plötzliche Sinnesänderung des Monarchen er¬
klären, während die Schwenkung ganz auf der andern Seite lag. Am
18. Oktober wurde das Ministerium Fejervary förmlich wieder eingesetzt, es
kam im Lande wohl zu einigen leichten Unruhen, da aber die sozialdemo¬
kratischen Massen wegen des allgemeinen Stimmrechts für das Ministerium
Partei nahmen, waren größere politische Demonstrationen nicht ins Werk zu
setzen. Die gesamte innere politische Tätigkeit geriet nun allerdings ins
Stocken, und da durch duldendes Zuwarten die Koalition nicht zum Einlenken
gebracht worden war, begann Baron Fejervary mit dem Jahre 1906, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/68>, abgerufen am 24.07.2024.