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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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David Friedrich Strauß

der Erkenntniskritik die Einsicht erklärt, daß die logischen Operationen nicht
Funktionen des Ich, sondern des "überichlichen" unbewußten Geistes seien.
Einem Philosophieprofessor, dessen Leben in logischen Operationen verläuft, mag
die Empfindung seiner eignen lebendigen und selbständigen Existenz abhanden
kommen können; der Kranke oder Gefolterte, der entsetzliche leibliche Qualen
erleidet, der Liebende, der ein Weib begehrt oder genießt, der Mann, der sich
mit Überwindung harter Widerstände durchs Leben hindurchkümpfen muß, der
Künstler, der den Marmor, der Staatsmann, der die Gesellschaft gestaltet, diese
alle empfinden ihr eignes seelisches Dasein auf das lebhafteste; sie sind sich be¬
wußt, Wesenheiten, Substanzen zu sein, und es erscheint ihnen ungereimt, daß
dieses ihr substantielles Sein beim Zerfall der irdischen Hülle ins Nichts ver¬
duften sollte. Und wie sie sich selbst als Substanzen empfinden, so erscheint
es ihnen auch selbstverständlich, daß es ein substantielles, fühlendes, wollendes,
also seiner selbst bewußtes Wesen, das allerwirklichste Wesen, nicht ein un¬
bewußter Schatten sein müsse, aus dem die Fülle geschöpflicher Wirklichkeiten
hervorgegangen ist. Sollte es nicht das Grauen vor der Schattenhaftigkeit des
hegelschen Universums gewesen sein, was Strauß zuletzt bestimmt hat, sich von
dieser Art Idealismus ab- und dem Materialismus zuzuwenden, da er zum
Platonismus und zum Christentum nicht mehr zurückzufinden vermochte? Sein
Liebesleben, seine Kämpfe, sein lebhaftes Interesse für die Künste verraten einen
starken Wirklichkeitssinn. Was Ziegler darüber denkt, werden wir ja aus dem
zweiten Bande erfahren.

Wie Strauß einige Jahre ganz verlassen und vereinsamt den Ansturm der
Feinde von rechts und links allein ausgehalten und abgewehrt hat, liest man
in diesem ersten Bande mit Teilnahme an dem Schicksale des Helden. Die
Züricher Episode ist nach Ziegler bisher falsch dargestellt worden. Der wirk¬
liche Verlauf sei folgender gewesen. Die liberale Regierung Zürichs hatte sich
durch eine Reform des jämmerlich bestellten Schulwesens drei einflußreiche
Stände zu Feinden gemacht: die abgesetzten unfähigen Schullehrer, die Fabri¬
kanten, die Schulkinder ausnützten, und die Kleinbauern, die ihre Kinder lieber
Geld verdienen als etwas lernen lassen wollten. Das neue Gesetz verfügte,
daß Kinder erst vom zwölften Jahre an und nicht bei Nacht beschäftigt werden
dürften; die Fabrikanten hatten Kinder bis zu neun Jahren hinunter eingestellt
und auch im Nachtbetrieb verwandt. Diese "konservativen" Elemente beschlossen,
die verhaßte liberale Negierung zu stürzen, und die Berufung Strcmßens gab
ihnen den willkommnen Vorwand, die Geistlichkeit und die Frommen gegen die
gottlose Regierung mobil zu machen. Die falsche Darstellung rühre von dem
mit Bunsen befreundeten Heinrich Gelzer her. Im Kreise dieser Männer habe
das Dogma gegolten, daß alle Revolution Sünde und Auflehnung gegen
Gottes Ordnung sei. "Nun hatten in Zürich die Konservativen und die
Frommen aus sehr irdischen Beweggründen Revolution gemacht. Das mußte
erklärt, gerechtfertigt und -- verschleiert werden; und das war nur so möglich,


David Friedrich Strauß

der Erkenntniskritik die Einsicht erklärt, daß die logischen Operationen nicht
Funktionen des Ich, sondern des „überichlichen" unbewußten Geistes seien.
Einem Philosophieprofessor, dessen Leben in logischen Operationen verläuft, mag
die Empfindung seiner eignen lebendigen und selbständigen Existenz abhanden
kommen können; der Kranke oder Gefolterte, der entsetzliche leibliche Qualen
erleidet, der Liebende, der ein Weib begehrt oder genießt, der Mann, der sich
mit Überwindung harter Widerstände durchs Leben hindurchkümpfen muß, der
Künstler, der den Marmor, der Staatsmann, der die Gesellschaft gestaltet, diese
alle empfinden ihr eignes seelisches Dasein auf das lebhafteste; sie sind sich be¬
wußt, Wesenheiten, Substanzen zu sein, und es erscheint ihnen ungereimt, daß
dieses ihr substantielles Sein beim Zerfall der irdischen Hülle ins Nichts ver¬
duften sollte. Und wie sie sich selbst als Substanzen empfinden, so erscheint
es ihnen auch selbstverständlich, daß es ein substantielles, fühlendes, wollendes,
also seiner selbst bewußtes Wesen, das allerwirklichste Wesen, nicht ein un¬
bewußter Schatten sein müsse, aus dem die Fülle geschöpflicher Wirklichkeiten
hervorgegangen ist. Sollte es nicht das Grauen vor der Schattenhaftigkeit des
hegelschen Universums gewesen sein, was Strauß zuletzt bestimmt hat, sich von
dieser Art Idealismus ab- und dem Materialismus zuzuwenden, da er zum
Platonismus und zum Christentum nicht mehr zurückzufinden vermochte? Sein
Liebesleben, seine Kämpfe, sein lebhaftes Interesse für die Künste verraten einen
starken Wirklichkeitssinn. Was Ziegler darüber denkt, werden wir ja aus dem
zweiten Bande erfahren.

Wie Strauß einige Jahre ganz verlassen und vereinsamt den Ansturm der
Feinde von rechts und links allein ausgehalten und abgewehrt hat, liest man
in diesem ersten Bande mit Teilnahme an dem Schicksale des Helden. Die
Züricher Episode ist nach Ziegler bisher falsch dargestellt worden. Der wirk¬
liche Verlauf sei folgender gewesen. Die liberale Regierung Zürichs hatte sich
durch eine Reform des jämmerlich bestellten Schulwesens drei einflußreiche
Stände zu Feinden gemacht: die abgesetzten unfähigen Schullehrer, die Fabri¬
kanten, die Schulkinder ausnützten, und die Kleinbauern, die ihre Kinder lieber
Geld verdienen als etwas lernen lassen wollten. Das neue Gesetz verfügte,
daß Kinder erst vom zwölften Jahre an und nicht bei Nacht beschäftigt werden
dürften; die Fabrikanten hatten Kinder bis zu neun Jahren hinunter eingestellt
und auch im Nachtbetrieb verwandt. Diese „konservativen" Elemente beschlossen,
die verhaßte liberale Negierung zu stürzen, und die Berufung Strcmßens gab
ihnen den willkommnen Vorwand, die Geistlichkeit und die Frommen gegen die
gottlose Regierung mobil zu machen. Die falsche Darstellung rühre von dem
mit Bunsen befreundeten Heinrich Gelzer her. Im Kreise dieser Männer habe
das Dogma gegolten, daß alle Revolution Sünde und Auflehnung gegen
Gottes Ordnung sei. „Nun hatten in Zürich die Konservativen und die
Frommen aus sehr irdischen Beweggründen Revolution gemacht. Das mußte
erklärt, gerechtfertigt und — verschleiert werden; und das war nur so möglich,


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[0635] David Friedrich Strauß der Erkenntniskritik die Einsicht erklärt, daß die logischen Operationen nicht Funktionen des Ich, sondern des „überichlichen" unbewußten Geistes seien. Einem Philosophieprofessor, dessen Leben in logischen Operationen verläuft, mag die Empfindung seiner eignen lebendigen und selbständigen Existenz abhanden kommen können; der Kranke oder Gefolterte, der entsetzliche leibliche Qualen erleidet, der Liebende, der ein Weib begehrt oder genießt, der Mann, der sich mit Überwindung harter Widerstände durchs Leben hindurchkümpfen muß, der Künstler, der den Marmor, der Staatsmann, der die Gesellschaft gestaltet, diese alle empfinden ihr eignes seelisches Dasein auf das lebhafteste; sie sind sich be¬ wußt, Wesenheiten, Substanzen zu sein, und es erscheint ihnen ungereimt, daß dieses ihr substantielles Sein beim Zerfall der irdischen Hülle ins Nichts ver¬ duften sollte. Und wie sie sich selbst als Substanzen empfinden, so erscheint es ihnen auch selbstverständlich, daß es ein substantielles, fühlendes, wollendes, also seiner selbst bewußtes Wesen, das allerwirklichste Wesen, nicht ein un¬ bewußter Schatten sein müsse, aus dem die Fülle geschöpflicher Wirklichkeiten hervorgegangen ist. Sollte es nicht das Grauen vor der Schattenhaftigkeit des hegelschen Universums gewesen sein, was Strauß zuletzt bestimmt hat, sich von dieser Art Idealismus ab- und dem Materialismus zuzuwenden, da er zum Platonismus und zum Christentum nicht mehr zurückzufinden vermochte? Sein Liebesleben, seine Kämpfe, sein lebhaftes Interesse für die Künste verraten einen starken Wirklichkeitssinn. Was Ziegler darüber denkt, werden wir ja aus dem zweiten Bande erfahren. Wie Strauß einige Jahre ganz verlassen und vereinsamt den Ansturm der Feinde von rechts und links allein ausgehalten und abgewehrt hat, liest man in diesem ersten Bande mit Teilnahme an dem Schicksale des Helden. Die Züricher Episode ist nach Ziegler bisher falsch dargestellt worden. Der wirk¬ liche Verlauf sei folgender gewesen. Die liberale Regierung Zürichs hatte sich durch eine Reform des jämmerlich bestellten Schulwesens drei einflußreiche Stände zu Feinden gemacht: die abgesetzten unfähigen Schullehrer, die Fabri¬ kanten, die Schulkinder ausnützten, und die Kleinbauern, die ihre Kinder lieber Geld verdienen als etwas lernen lassen wollten. Das neue Gesetz verfügte, daß Kinder erst vom zwölften Jahre an und nicht bei Nacht beschäftigt werden dürften; die Fabrikanten hatten Kinder bis zu neun Jahren hinunter eingestellt und auch im Nachtbetrieb verwandt. Diese „konservativen" Elemente beschlossen, die verhaßte liberale Negierung zu stürzen, und die Berufung Strcmßens gab ihnen den willkommnen Vorwand, die Geistlichkeit und die Frommen gegen die gottlose Regierung mobil zu machen. Die falsche Darstellung rühre von dem mit Bunsen befreundeten Heinrich Gelzer her. Im Kreise dieser Männer habe das Dogma gegolten, daß alle Revolution Sünde und Auflehnung gegen Gottes Ordnung sei. „Nun hatten in Zürich die Konservativen und die Frommen aus sehr irdischen Beweggründen Revolution gemacht. Das mußte erklärt, gerechtfertigt und — verschleiert werden; und das war nur so möglich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/635>, abgerufen am 21.06.2024.