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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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David Friedrich Strauß

nur in der gesamten Menschheit verwirklicht werden. Der Christus der Kirchen¬
lehre sei unmöglich, weil er widersprechende Eigenschaften und Funktionen um¬
fasse. Der Widerspruch schwinde, wenn man einsieht, daß der Gottmensch die
Menschheit ist. "Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der
menschgewordne Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner
Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren
Mutter und des unsichtbaren Vaters, des Geistes und der Natur; sie ist der
Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer
vollständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material
seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang
ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum
klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der
Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation
ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer
Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltlichen Geistes ihre Einheit mit
dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht." Die Vergottung des
Menschen haben Paulus, Johannes und manche liturgische Gebete der alten
Kirche als die Frucht der Erlösung gepriesen, und alle Mystiker haben sie er¬
strebt. Auch wird von allen frommen Betrachtern das Leben und Leiden und
die Verherrlichung Christi als das Vorbild der Geschichte der Menschheit, das
Drama des Evangeliums als die Konzentration des Dramas der Weltgeschichte
angesehen. Trotzdem läßt sich die Straußische Auffassung nicht ohne weiteres
mit der kirchlichen identifizieren. Soll sie sich mit dieser, sie erweiternd und
aufhellend, vertragen, so bedarf sie zweier Ergänzungen. Zu der einen hat sich
Strauß selbst in einem seiner besten Augenblicke verstanden. In seinen Ver¬
teidigungsschriften gibt er einmal zu, es sei ein Individuum denkbar, das die
Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen in seinem Selbstbewußtsein voll¬
zogen habe. Mit diesem Zugeständnis ist das Wesentliche des christologischen
Dogmas und der Offenbarungscharakter des Christentums gerettet. Die andre
Ergänzung besteht in der Ablehnung des Hegelschen reinen Intellektualismus,
der allen echten Hegelianern, auch Strauß, den Glauben an einen persönlichen
Gott und an die Fortdauer der Menschenseele nach dem Tode unmöglich ge¬
macht hat. Hegel definiert das Absolute als die Idee, und diese Idee als ein
sich durch Gegensätze hindurch bewegendes und entfaltendes System von Be¬
griffen. In den menschlichen Individuen soll diese Idee ihrer selbst bewußt
werden. Ein Begriff ist aber keine Wesenheit, keine Substanz, sondern nur
eine Spiegelung von Dingen. Zur Substantialitüt, zur wirklichen Existenz ge¬
hört, daß das Existierende fühle und wolle. So verflüchtigt sich im hegelschen
System Gott zu einem bloßen Schatten -- Schatten von was? -- und die
Menschenseele zum Schatten dieses Schattens, zu einem vergänglichen Bewußt¬
seinsakte des schattenhaften Absoluten. Ziegler hat in einem andern Buche
(Jahrgang 1907 der Grenzboten, 2. Band S. 535) für das wichtigste Ergebnis


David Friedrich Strauß

nur in der gesamten Menschheit verwirklicht werden. Der Christus der Kirchen¬
lehre sei unmöglich, weil er widersprechende Eigenschaften und Funktionen um¬
fasse. Der Widerspruch schwinde, wenn man einsieht, daß der Gottmensch die
Menschheit ist. „Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der
menschgewordne Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner
Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren
Mutter und des unsichtbaren Vaters, des Geistes und der Natur; sie ist der
Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer
vollständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material
seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang
ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum
klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der
Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation
ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer
Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltlichen Geistes ihre Einheit mit
dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht." Die Vergottung des
Menschen haben Paulus, Johannes und manche liturgische Gebete der alten
Kirche als die Frucht der Erlösung gepriesen, und alle Mystiker haben sie er¬
strebt. Auch wird von allen frommen Betrachtern das Leben und Leiden und
die Verherrlichung Christi als das Vorbild der Geschichte der Menschheit, das
Drama des Evangeliums als die Konzentration des Dramas der Weltgeschichte
angesehen. Trotzdem läßt sich die Straußische Auffassung nicht ohne weiteres
mit der kirchlichen identifizieren. Soll sie sich mit dieser, sie erweiternd und
aufhellend, vertragen, so bedarf sie zweier Ergänzungen. Zu der einen hat sich
Strauß selbst in einem seiner besten Augenblicke verstanden. In seinen Ver¬
teidigungsschriften gibt er einmal zu, es sei ein Individuum denkbar, das die
Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen in seinem Selbstbewußtsein voll¬
zogen habe. Mit diesem Zugeständnis ist das Wesentliche des christologischen
Dogmas und der Offenbarungscharakter des Christentums gerettet. Die andre
Ergänzung besteht in der Ablehnung des Hegelschen reinen Intellektualismus,
der allen echten Hegelianern, auch Strauß, den Glauben an einen persönlichen
Gott und an die Fortdauer der Menschenseele nach dem Tode unmöglich ge¬
macht hat. Hegel definiert das Absolute als die Idee, und diese Idee als ein
sich durch Gegensätze hindurch bewegendes und entfaltendes System von Be¬
griffen. In den menschlichen Individuen soll diese Idee ihrer selbst bewußt
werden. Ein Begriff ist aber keine Wesenheit, keine Substanz, sondern nur
eine Spiegelung von Dingen. Zur Substantialitüt, zur wirklichen Existenz ge¬
hört, daß das Existierende fühle und wolle. So verflüchtigt sich im hegelschen
System Gott zu einem bloßen Schatten — Schatten von was? — und die
Menschenseele zum Schatten dieses Schattens, zu einem vergänglichen Bewußt¬
seinsakte des schattenhaften Absoluten. Ziegler hat in einem andern Buche
(Jahrgang 1907 der Grenzboten, 2. Band S. 535) für das wichtigste Ergebnis


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[0634] David Friedrich Strauß nur in der gesamten Menschheit verwirklicht werden. Der Christus der Kirchen¬ lehre sei unmöglich, weil er widersprechende Eigenschaften und Funktionen um¬ fasse. Der Widerspruch schwinde, wenn man einsieht, daß der Gottmensch die Menschheit ist. „Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordne Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters, des Geistes und der Natur; sie ist der Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltlichen Geistes ihre Einheit mit dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht." Die Vergottung des Menschen haben Paulus, Johannes und manche liturgische Gebete der alten Kirche als die Frucht der Erlösung gepriesen, und alle Mystiker haben sie er¬ strebt. Auch wird von allen frommen Betrachtern das Leben und Leiden und die Verherrlichung Christi als das Vorbild der Geschichte der Menschheit, das Drama des Evangeliums als die Konzentration des Dramas der Weltgeschichte angesehen. Trotzdem läßt sich die Straußische Auffassung nicht ohne weiteres mit der kirchlichen identifizieren. Soll sie sich mit dieser, sie erweiternd und aufhellend, vertragen, so bedarf sie zweier Ergänzungen. Zu der einen hat sich Strauß selbst in einem seiner besten Augenblicke verstanden. In seinen Ver¬ teidigungsschriften gibt er einmal zu, es sei ein Individuum denkbar, das die Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen in seinem Selbstbewußtsein voll¬ zogen habe. Mit diesem Zugeständnis ist das Wesentliche des christologischen Dogmas und der Offenbarungscharakter des Christentums gerettet. Die andre Ergänzung besteht in der Ablehnung des Hegelschen reinen Intellektualismus, der allen echten Hegelianern, auch Strauß, den Glauben an einen persönlichen Gott und an die Fortdauer der Menschenseele nach dem Tode unmöglich ge¬ macht hat. Hegel definiert das Absolute als die Idee, und diese Idee als ein sich durch Gegensätze hindurch bewegendes und entfaltendes System von Be¬ griffen. In den menschlichen Individuen soll diese Idee ihrer selbst bewußt werden. Ein Begriff ist aber keine Wesenheit, keine Substanz, sondern nur eine Spiegelung von Dingen. Zur Substantialitüt, zur wirklichen Existenz ge¬ hört, daß das Existierende fühle und wolle. So verflüchtigt sich im hegelschen System Gott zu einem bloßen Schatten — Schatten von was? — und die Menschenseele zum Schatten dieses Schattens, zu einem vergänglichen Bewußt¬ seinsakte des schattenhaften Absoluten. Ziegler hat in einem andern Buche (Jahrgang 1907 der Grenzboten, 2. Band S. 535) für das wichtigste Ergebnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/634>, abgerufen am 21.06.2024.