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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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David Friedrich Strauß

faltigsten Gestalten annimmt, wie die neue Idee den mancherlei Zeitmeinungen
verähnlicht und mit ihnen vermischt wird, wie sie aber auf den wunderlichsten
Irr- "ut Umwegen nach und nach zu immer reinerer Ausgestaltung, zu immer
wirksamerer Verkörperung gelaugt in zahlreichen Individuen und in großen ge¬
sellschaftlichen Bildungen. Die jüngere Tübinger Schule, deren Haupt Straußens
Lehrer Christian Baur war, verfolgte damals mit solchem historischen Ver¬
ständnis die in den Apostelbriefen und der Apostelgeschichte enthaltnen geschicht¬
lichen Spuren, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen auf die Art und Weise, wie
in der apostolischen und der nachapostolischen Periode aus Zeitideen und Zeit¬
strömungen unter der Nachwirkung der von Jesus ausgegangnen Anregungen
die alte Kirche entstanden sein möge; Strauß wagte es, Jesu Persönlichkeit
selbst zum Gegenstande historischer Untersuchung zu machen: diese Persönlichkeit
selbst, nicht die Evangelien, die Quellen seiner Geschichte, deren literarische
Kritik er der Hauptsache nach andern überließ. In Beziehung auf Jesu Person
uun hat er das erlösende Wort gesprochen. Es soll und kann hier nicht unter¬
sucht werden, ob Wunder heute noch für möglich gehalten werden können. Aus¬
drücklich hebe ich hervor, daß mehrere der Wunder, die von Jesus erzählt werden,
eine symbolische Bedeutung haben, deren reicher Inhalt noch lange nicht voll¬
ständig ausgeschöpft ist; so das Speisungswunder, das in Verbindung mit der
Rede vom Lebensbrote erwogen werden will, als deren Anlaß es im sechsten
Kapitel des vierten Evangeliums erzählt wird. Es soll nur konstatiert werden,
daß in den Evangelien Erzählungen vorkommen, die für wahr zu halten schlechthin
unmöglich ist, z. B. von den Leichnamen, die nach Matthäus 27, 52 nach Jesu
Tode ihre Gräber verlassen haben und vielen erschienen sein sollen. Da ist
denn die von Strauß ausgestellte Mythenhypothese -- heute werden wir sie
kaum noch eine Hypothese nennen dürfen -- der einfachste und würdigste Aus¬
weg. Mythen sind absichtslose Dichtungen, mit denen das Volk die Gestalten
seiner Helden schmückt, sind diese Gestalten selbst, wie sie dem Volke erscheinen.
Damit wird weder der historische Kern der Evangelien vernichtet -- Strauß
hat niemals, gleich manchen neuern, die Existenz Jesu geleugnet --, noch wird
die Person Jesu herabgewürdigt; auch auf die Ehrlichkeit der Berichterstatter,
die Kiuder ihres Volkes Ware" und in dessen Vorstellungen dachten, fällt kein
Schatten; besonders da etwa vierzig Jahre nach Ich, Tode vergangen sind,
ehe die ersten der uns erhaltnen Berichte niedergeschrieben wurden. Anders als
in deren der Auffassungsweise des Volkes angemessener Form, meint Strauß
ganz richtig, hätten die Ideen Jesu gar nicht erhalten bleiben, gar nicht ver¬
breitet und fortgepflanzt werden können.

Aber auch die zweite, echt hegelsche Grundidee des Straußischen Werkes
enthält Wahrheit und bedeutet einen gewaltigen Fortschritt der Erkenntnis.
Grundlehre des Christentums sei die Einheit der göttlichen und der Menschen¬
natur. Diese Einheit könne jedoch nicht in einem einzelnen Individuum, sondern


Grenzboten II 1903 80
David Friedrich Strauß

faltigsten Gestalten annimmt, wie die neue Idee den mancherlei Zeitmeinungen
verähnlicht und mit ihnen vermischt wird, wie sie aber auf den wunderlichsten
Irr- »ut Umwegen nach und nach zu immer reinerer Ausgestaltung, zu immer
wirksamerer Verkörperung gelaugt in zahlreichen Individuen und in großen ge¬
sellschaftlichen Bildungen. Die jüngere Tübinger Schule, deren Haupt Straußens
Lehrer Christian Baur war, verfolgte damals mit solchem historischen Ver¬
ständnis die in den Apostelbriefen und der Apostelgeschichte enthaltnen geschicht¬
lichen Spuren, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen auf die Art und Weise, wie
in der apostolischen und der nachapostolischen Periode aus Zeitideen und Zeit¬
strömungen unter der Nachwirkung der von Jesus ausgegangnen Anregungen
die alte Kirche entstanden sein möge; Strauß wagte es, Jesu Persönlichkeit
selbst zum Gegenstande historischer Untersuchung zu machen: diese Persönlichkeit
selbst, nicht die Evangelien, die Quellen seiner Geschichte, deren literarische
Kritik er der Hauptsache nach andern überließ. In Beziehung auf Jesu Person
uun hat er das erlösende Wort gesprochen. Es soll und kann hier nicht unter¬
sucht werden, ob Wunder heute noch für möglich gehalten werden können. Aus¬
drücklich hebe ich hervor, daß mehrere der Wunder, die von Jesus erzählt werden,
eine symbolische Bedeutung haben, deren reicher Inhalt noch lange nicht voll¬
ständig ausgeschöpft ist; so das Speisungswunder, das in Verbindung mit der
Rede vom Lebensbrote erwogen werden will, als deren Anlaß es im sechsten
Kapitel des vierten Evangeliums erzählt wird. Es soll nur konstatiert werden,
daß in den Evangelien Erzählungen vorkommen, die für wahr zu halten schlechthin
unmöglich ist, z. B. von den Leichnamen, die nach Matthäus 27, 52 nach Jesu
Tode ihre Gräber verlassen haben und vielen erschienen sein sollen. Da ist
denn die von Strauß ausgestellte Mythenhypothese — heute werden wir sie
kaum noch eine Hypothese nennen dürfen — der einfachste und würdigste Aus¬
weg. Mythen sind absichtslose Dichtungen, mit denen das Volk die Gestalten
seiner Helden schmückt, sind diese Gestalten selbst, wie sie dem Volke erscheinen.
Damit wird weder der historische Kern der Evangelien vernichtet — Strauß
hat niemals, gleich manchen neuern, die Existenz Jesu geleugnet —, noch wird
die Person Jesu herabgewürdigt; auch auf die Ehrlichkeit der Berichterstatter,
die Kiuder ihres Volkes Ware» und in dessen Vorstellungen dachten, fällt kein
Schatten; besonders da etwa vierzig Jahre nach Ich, Tode vergangen sind,
ehe die ersten der uns erhaltnen Berichte niedergeschrieben wurden. Anders als
in deren der Auffassungsweise des Volkes angemessener Form, meint Strauß
ganz richtig, hätten die Ideen Jesu gar nicht erhalten bleiben, gar nicht ver¬
breitet und fortgepflanzt werden können.

Aber auch die zweite, echt hegelsche Grundidee des Straußischen Werkes
enthält Wahrheit und bedeutet einen gewaltigen Fortschritt der Erkenntnis.
Grundlehre des Christentums sei die Einheit der göttlichen und der Menschen¬
natur. Diese Einheit könne jedoch nicht in einem einzelnen Individuum, sondern


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[0633] David Friedrich Strauß faltigsten Gestalten annimmt, wie die neue Idee den mancherlei Zeitmeinungen verähnlicht und mit ihnen vermischt wird, wie sie aber auf den wunderlichsten Irr- »ut Umwegen nach und nach zu immer reinerer Ausgestaltung, zu immer wirksamerer Verkörperung gelaugt in zahlreichen Individuen und in großen ge¬ sellschaftlichen Bildungen. Die jüngere Tübinger Schule, deren Haupt Straußens Lehrer Christian Baur war, verfolgte damals mit solchem historischen Ver¬ ständnis die in den Apostelbriefen und der Apostelgeschichte enthaltnen geschicht¬ lichen Spuren, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen auf die Art und Weise, wie in der apostolischen und der nachapostolischen Periode aus Zeitideen und Zeit¬ strömungen unter der Nachwirkung der von Jesus ausgegangnen Anregungen die alte Kirche entstanden sein möge; Strauß wagte es, Jesu Persönlichkeit selbst zum Gegenstande historischer Untersuchung zu machen: diese Persönlichkeit selbst, nicht die Evangelien, die Quellen seiner Geschichte, deren literarische Kritik er der Hauptsache nach andern überließ. In Beziehung auf Jesu Person uun hat er das erlösende Wort gesprochen. Es soll und kann hier nicht unter¬ sucht werden, ob Wunder heute noch für möglich gehalten werden können. Aus¬ drücklich hebe ich hervor, daß mehrere der Wunder, die von Jesus erzählt werden, eine symbolische Bedeutung haben, deren reicher Inhalt noch lange nicht voll¬ ständig ausgeschöpft ist; so das Speisungswunder, das in Verbindung mit der Rede vom Lebensbrote erwogen werden will, als deren Anlaß es im sechsten Kapitel des vierten Evangeliums erzählt wird. Es soll nur konstatiert werden, daß in den Evangelien Erzählungen vorkommen, die für wahr zu halten schlechthin unmöglich ist, z. B. von den Leichnamen, die nach Matthäus 27, 52 nach Jesu Tode ihre Gräber verlassen haben und vielen erschienen sein sollen. Da ist denn die von Strauß ausgestellte Mythenhypothese — heute werden wir sie kaum noch eine Hypothese nennen dürfen — der einfachste und würdigste Aus¬ weg. Mythen sind absichtslose Dichtungen, mit denen das Volk die Gestalten seiner Helden schmückt, sind diese Gestalten selbst, wie sie dem Volke erscheinen. Damit wird weder der historische Kern der Evangelien vernichtet — Strauß hat niemals, gleich manchen neuern, die Existenz Jesu geleugnet —, noch wird die Person Jesu herabgewürdigt; auch auf die Ehrlichkeit der Berichterstatter, die Kiuder ihres Volkes Ware» und in dessen Vorstellungen dachten, fällt kein Schatten; besonders da etwa vierzig Jahre nach Ich, Tode vergangen sind, ehe die ersten der uns erhaltnen Berichte niedergeschrieben wurden. Anders als in deren der Auffassungsweise des Volkes angemessener Form, meint Strauß ganz richtig, hätten die Ideen Jesu gar nicht erhalten bleiben, gar nicht ver¬ breitet und fortgepflanzt werden können. Aber auch die zweite, echt hegelsche Grundidee des Straußischen Werkes enthält Wahrheit und bedeutet einen gewaltigen Fortschritt der Erkenntnis. Grundlehre des Christentums sei die Einheit der göttlichen und der Menschen¬ natur. Diese Einheit könne jedoch nicht in einem einzelnen Individuum, sondern Grenzboten II 1903 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/633>, abgerufen am 21.06.2024.