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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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David Friedrich Strauß

bittern". Nachdem Strauß noch einige Monate in Maulbronn als Repetent
zugebracht und sich durch die Promotion den Doktortitel erworben hatte, ging
er im Herbst 1831 nach Berlin, um seinen großen Meister zu hören. Hegel
nahm den jungen Landsmann freundlich auf, starb aber nach wenigen Tagen
an der Cholera. Strauß blieb trotzdem ein halbes Jahr, lebhaft angeregt von
Schleiermachers Predigten und intimen Verkehr mit dem Hegelianer Vatke,
einem Bibelkritiker seiner Richtung, der ihm stundenlang Bach, Mozart und
Beethoven vorspielen mußte. Im Mai 1832 wurde er als Repetent ins
Tübinger Stift berufen.

Hier nun schrieb er von 1833 bis 1835 sein Leben Jesu. Der erste Band
von 732 Seiten erschien Anfang Juni, der zweite, 752 Seiten starke Ende 1835.
"Nicht bloß dem Umfange nach war die Leistung groß; noch viel staunens¬
werter war die Gelehrsamkeit des siebenundzwauzigjährigeu Mannes. Denn das
ist der erste Eindruck: es ist das Werk eines wissenschaftlich vollkommen auf
der Höhe stehenden, durch und durch gelehrten Theologen, der mit dem da¬
maligen Stande der neutestamentlichen Forschung bis ins einzelnste vertraut
und auch im Alten Testament wohlbewandert ist." Und das Buch "liest sich
gut; das Interesse wächst; die Spannung nimmt beständig zu". Ich habe das
Werk uicht gelesen. Nach all den Unmassen, die seitdem über den Gegenstand
geschrieben worden sind, darf man die darin enthaltnen Einzelforschungen wohl
für überholt ansehen, die Grundgedanken aber, die Epoche gemacht haben, lernt
man zur Genüge aus Analysen kennen; natürlich gibt auch Ziegler eine solche.
Diesem stimme ich darin bei, daß Strauß in der Tat der Theologie einen un¬
schätzbaren Dienst erwiesen hat. Von den beiden Standpunkten der Exegese,
die Strauß vorfand, war keiner haltbar. Daß ein moderner Mensch nicht
sämtliche Erzählungen der Evangelien für buchstäblich wahr im geschichtlichen
Sinne zu halten vermag, wie die Orthodoxen fordern, darüber ist heute kein
Wort weiter zu verlieren. Aber auch die rationalistische Wegdeutung des
Wunderbaren erscheint schon ihrer unwürdigen Abgeschmacktheit wegen un¬
annehmbar. Das heiligste der Bücher wird dem Spott preisgegeben und ins
Triviale herabgezogen, wenn so ein Exeget uns glauben machen will, Christus
habe nach Schluß seiner Predigt in der Graswüste ein Picknick veranstaltet, da
ja doch die meisten einen Eßkober auf den Ausflug mitgenommen haben würden,
und dieses Picknick Hütten die Wundersüchtigen in eine wunderbare Speisung
umgestaltet. Gegenüber dem Rationalismus hatte sich damals der historische
Sinn Bahn gebrochen; man wußte, wie sich große historische Veränderungen
vollziehen, und Hegel hatte dem Verständnis des historischen Prozesses ein
philosophisches Schema dargeboten. Man verstand nun, wie sich eine zeitgemäße
Idee in einer großen Persönlichkeit verkörpern kann, wie diese Idee von den
Jüngern ihres Verkündigers verschiedentlich verstanden und mißverstanden wird,
wie die Person des Verkündigers in den Phantasien der Gläubigen die mannig-


David Friedrich Strauß

bittern". Nachdem Strauß noch einige Monate in Maulbronn als Repetent
zugebracht und sich durch die Promotion den Doktortitel erworben hatte, ging
er im Herbst 1831 nach Berlin, um seinen großen Meister zu hören. Hegel
nahm den jungen Landsmann freundlich auf, starb aber nach wenigen Tagen
an der Cholera. Strauß blieb trotzdem ein halbes Jahr, lebhaft angeregt von
Schleiermachers Predigten und intimen Verkehr mit dem Hegelianer Vatke,
einem Bibelkritiker seiner Richtung, der ihm stundenlang Bach, Mozart und
Beethoven vorspielen mußte. Im Mai 1832 wurde er als Repetent ins
Tübinger Stift berufen.

Hier nun schrieb er von 1833 bis 1835 sein Leben Jesu. Der erste Band
von 732 Seiten erschien Anfang Juni, der zweite, 752 Seiten starke Ende 1835.
„Nicht bloß dem Umfange nach war die Leistung groß; noch viel staunens¬
werter war die Gelehrsamkeit des siebenundzwauzigjährigeu Mannes. Denn das
ist der erste Eindruck: es ist das Werk eines wissenschaftlich vollkommen auf
der Höhe stehenden, durch und durch gelehrten Theologen, der mit dem da¬
maligen Stande der neutestamentlichen Forschung bis ins einzelnste vertraut
und auch im Alten Testament wohlbewandert ist." Und das Buch „liest sich
gut; das Interesse wächst; die Spannung nimmt beständig zu". Ich habe das
Werk uicht gelesen. Nach all den Unmassen, die seitdem über den Gegenstand
geschrieben worden sind, darf man die darin enthaltnen Einzelforschungen wohl
für überholt ansehen, die Grundgedanken aber, die Epoche gemacht haben, lernt
man zur Genüge aus Analysen kennen; natürlich gibt auch Ziegler eine solche.
Diesem stimme ich darin bei, daß Strauß in der Tat der Theologie einen un¬
schätzbaren Dienst erwiesen hat. Von den beiden Standpunkten der Exegese,
die Strauß vorfand, war keiner haltbar. Daß ein moderner Mensch nicht
sämtliche Erzählungen der Evangelien für buchstäblich wahr im geschichtlichen
Sinne zu halten vermag, wie die Orthodoxen fordern, darüber ist heute kein
Wort weiter zu verlieren. Aber auch die rationalistische Wegdeutung des
Wunderbaren erscheint schon ihrer unwürdigen Abgeschmacktheit wegen un¬
annehmbar. Das heiligste der Bücher wird dem Spott preisgegeben und ins
Triviale herabgezogen, wenn so ein Exeget uns glauben machen will, Christus
habe nach Schluß seiner Predigt in der Graswüste ein Picknick veranstaltet, da
ja doch die meisten einen Eßkober auf den Ausflug mitgenommen haben würden,
und dieses Picknick Hütten die Wundersüchtigen in eine wunderbare Speisung
umgestaltet. Gegenüber dem Rationalismus hatte sich damals der historische
Sinn Bahn gebrochen; man wußte, wie sich große historische Veränderungen
vollziehen, und Hegel hatte dem Verständnis des historischen Prozesses ein
philosophisches Schema dargeboten. Man verstand nun, wie sich eine zeitgemäße
Idee in einer großen Persönlichkeit verkörpern kann, wie diese Idee von den
Jüngern ihres Verkündigers verschiedentlich verstanden und mißverstanden wird,
wie die Person des Verkündigers in den Phantasien der Gläubigen die mannig-


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[0632] David Friedrich Strauß bittern". Nachdem Strauß noch einige Monate in Maulbronn als Repetent zugebracht und sich durch die Promotion den Doktortitel erworben hatte, ging er im Herbst 1831 nach Berlin, um seinen großen Meister zu hören. Hegel nahm den jungen Landsmann freundlich auf, starb aber nach wenigen Tagen an der Cholera. Strauß blieb trotzdem ein halbes Jahr, lebhaft angeregt von Schleiermachers Predigten und intimen Verkehr mit dem Hegelianer Vatke, einem Bibelkritiker seiner Richtung, der ihm stundenlang Bach, Mozart und Beethoven vorspielen mußte. Im Mai 1832 wurde er als Repetent ins Tübinger Stift berufen. Hier nun schrieb er von 1833 bis 1835 sein Leben Jesu. Der erste Band von 732 Seiten erschien Anfang Juni, der zweite, 752 Seiten starke Ende 1835. „Nicht bloß dem Umfange nach war die Leistung groß; noch viel staunens¬ werter war die Gelehrsamkeit des siebenundzwauzigjährigeu Mannes. Denn das ist der erste Eindruck: es ist das Werk eines wissenschaftlich vollkommen auf der Höhe stehenden, durch und durch gelehrten Theologen, der mit dem da¬ maligen Stande der neutestamentlichen Forschung bis ins einzelnste vertraut und auch im Alten Testament wohlbewandert ist." Und das Buch „liest sich gut; das Interesse wächst; die Spannung nimmt beständig zu". Ich habe das Werk uicht gelesen. Nach all den Unmassen, die seitdem über den Gegenstand geschrieben worden sind, darf man die darin enthaltnen Einzelforschungen wohl für überholt ansehen, die Grundgedanken aber, die Epoche gemacht haben, lernt man zur Genüge aus Analysen kennen; natürlich gibt auch Ziegler eine solche. Diesem stimme ich darin bei, daß Strauß in der Tat der Theologie einen un¬ schätzbaren Dienst erwiesen hat. Von den beiden Standpunkten der Exegese, die Strauß vorfand, war keiner haltbar. Daß ein moderner Mensch nicht sämtliche Erzählungen der Evangelien für buchstäblich wahr im geschichtlichen Sinne zu halten vermag, wie die Orthodoxen fordern, darüber ist heute kein Wort weiter zu verlieren. Aber auch die rationalistische Wegdeutung des Wunderbaren erscheint schon ihrer unwürdigen Abgeschmacktheit wegen un¬ annehmbar. Das heiligste der Bücher wird dem Spott preisgegeben und ins Triviale herabgezogen, wenn so ein Exeget uns glauben machen will, Christus habe nach Schluß seiner Predigt in der Graswüste ein Picknick veranstaltet, da ja doch die meisten einen Eßkober auf den Ausflug mitgenommen haben würden, und dieses Picknick Hütten die Wundersüchtigen in eine wunderbare Speisung umgestaltet. Gegenüber dem Rationalismus hatte sich damals der historische Sinn Bahn gebrochen; man wußte, wie sich große historische Veränderungen vollziehen, und Hegel hatte dem Verständnis des historischen Prozesses ein philosophisches Schema dargeboten. Man verstand nun, wie sich eine zeitgemäße Idee in einer großen Persönlichkeit verkörpern kann, wie diese Idee von den Jüngern ihres Verkündigers verschiedentlich verstanden und mißverstanden wird, wie die Person des Verkündigers in den Phantasien der Gläubigen die mannig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/632>, abgerufen am 21.06.2024.