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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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David Friedrich Strauß

gesiebt, ehe sie in die Schule Aufnahme fand, und Straußens Jahrgang, zu
dem auch Bischer gehörte, war sogar als "Geniepromotion" berühmt.

Über die wissenschaftlichen Zustände in Blaubeuren und in dem für das
schwäbische Geistesleben so wichtigen Tübinger Stift empfangen wir in dem
Buche dankenswerte Aufschlüsse. Strauß geriet als Stiftler zunächst in den
Bannkreis der Romantik und Mystik. Mit gleichgestimmten Freunden pilgerte
er fleißig nach Weinsberg, in Kerners Hause den Orakelsprüchen der Seherin von
Prevorst zu lauschen. Eine Zeit lang huldigte er dem gröbsten Wunderglauben.
Als er kritischer zu werden anfing, erklärte er zunächst die Geistererscheinungen
aus der Einbildung, ließ aber die Kraftäußerungen noch als tatsächliche Er¬
fahrungen gelten. Manche dieser Kraftäußerungen, z. B. nächtliches Zusammen¬
schlagen der Kirchenglocken, hatte Kerners loses Söhnlein Theobald zum Ur¬
heber, wie dieser unserm Theobald Ziegler erzählt hat. Aus der Mystik und auch
aus Schleiermachers Gefühlsreligion führte ihn Hegel heraus, dessen Phänomeno-
logie er vier Semester hindurch mit vier Kameraden (Binder. Mürklin, Ganß
und Seeger) gemeinsam studierte; auf Binders Stube kamen sie zu diesem Zweck
jede Woche zweimal zusammen. Dabei schwand denn -- ihnen selbst fast un¬
bemerkt -- der orthodoxe Glaube allmählich. Strauß wurde es gelegentlich
einer Preisaufgabe gewahr. Er löste zwei solche Aufgaben: eine homiletische
der evangelischen theologischen Fakultät und eine über die Auferstehung der
Toten, die von der katholischen gestellt worden war. Zwei Arbeiten über die
zweite wurden des Preises würdig befunden; um diesen hatten die Verfasser
zu losen, und Strauß zog die Niete. Wichtiger als dieses Mißgeschick ist sein
späteres Bekenntnis, daß, als er die Arbeit vollendet hatte, ihr Inhalt seiner
damaligen Überzeugung nicht mehr entsprochen habe. Die Hegelsche Philosophie
leistete ihm den Dienst, ihn nicht allein aus der Orthodoxie heraufzuführen,
sondern dies auch zu tuu, ohne daß er es merkte, und ihm dann, als er es
merkte, über die daraus entspringende Pflichtenkollision hinwegzuhelfen. Von,
Hegelschen Standpunkt aus hat er als Vikar in dem Dorfe Klein-Jngersheim
die Gewissensbedenken seines Freundes Märklin zu beschwichtigen versucht. Der
Kern seiner Argumentation besteht in der Ansicht: Der philosophisch Gebildete
denkt in Begriffen, die Masse vermag nur in Vorstellungen zu denken. Wir
Philosophen meinen im Grunde genommen dasselbe wie das glaubende Kind
und das fromme Volk, nur unsre Auffassung ist eine andre. Wir müssen das
Volk zum begrifflichen Denken zu erheben suchen, dürfen darin aber nichts
übereilen. Wir müssen in der Predigt die Sprache des Volkes reden, jedoch
durch die Vorstellungen und Bilder, durch die historischen oder für historisch
gehaltnen Erzählungen die Idee durchscheinen lassen. Kommt einer aus der
Gemeinde mit Zweifeln zu uns, so müssen wir uns den Mann ansehen und
ihn je nach der Stufe seiner Erkenntnis behandeln. Übrigens, meint Strauß,
kämen solche Fälle nicht leicht vor, "wir plagen uns da nur mit Schatten-


David Friedrich Strauß

gesiebt, ehe sie in die Schule Aufnahme fand, und Straußens Jahrgang, zu
dem auch Bischer gehörte, war sogar als „Geniepromotion" berühmt.

Über die wissenschaftlichen Zustände in Blaubeuren und in dem für das
schwäbische Geistesleben so wichtigen Tübinger Stift empfangen wir in dem
Buche dankenswerte Aufschlüsse. Strauß geriet als Stiftler zunächst in den
Bannkreis der Romantik und Mystik. Mit gleichgestimmten Freunden pilgerte
er fleißig nach Weinsberg, in Kerners Hause den Orakelsprüchen der Seherin von
Prevorst zu lauschen. Eine Zeit lang huldigte er dem gröbsten Wunderglauben.
Als er kritischer zu werden anfing, erklärte er zunächst die Geistererscheinungen
aus der Einbildung, ließ aber die Kraftäußerungen noch als tatsächliche Er¬
fahrungen gelten. Manche dieser Kraftäußerungen, z. B. nächtliches Zusammen¬
schlagen der Kirchenglocken, hatte Kerners loses Söhnlein Theobald zum Ur¬
heber, wie dieser unserm Theobald Ziegler erzählt hat. Aus der Mystik und auch
aus Schleiermachers Gefühlsreligion führte ihn Hegel heraus, dessen Phänomeno-
logie er vier Semester hindurch mit vier Kameraden (Binder. Mürklin, Ganß
und Seeger) gemeinsam studierte; auf Binders Stube kamen sie zu diesem Zweck
jede Woche zweimal zusammen. Dabei schwand denn — ihnen selbst fast un¬
bemerkt — der orthodoxe Glaube allmählich. Strauß wurde es gelegentlich
einer Preisaufgabe gewahr. Er löste zwei solche Aufgaben: eine homiletische
der evangelischen theologischen Fakultät und eine über die Auferstehung der
Toten, die von der katholischen gestellt worden war. Zwei Arbeiten über die
zweite wurden des Preises würdig befunden; um diesen hatten die Verfasser
zu losen, und Strauß zog die Niete. Wichtiger als dieses Mißgeschick ist sein
späteres Bekenntnis, daß, als er die Arbeit vollendet hatte, ihr Inhalt seiner
damaligen Überzeugung nicht mehr entsprochen habe. Die Hegelsche Philosophie
leistete ihm den Dienst, ihn nicht allein aus der Orthodoxie heraufzuführen,
sondern dies auch zu tuu, ohne daß er es merkte, und ihm dann, als er es
merkte, über die daraus entspringende Pflichtenkollision hinwegzuhelfen. Von,
Hegelschen Standpunkt aus hat er als Vikar in dem Dorfe Klein-Jngersheim
die Gewissensbedenken seines Freundes Märklin zu beschwichtigen versucht. Der
Kern seiner Argumentation besteht in der Ansicht: Der philosophisch Gebildete
denkt in Begriffen, die Masse vermag nur in Vorstellungen zu denken. Wir
Philosophen meinen im Grunde genommen dasselbe wie das glaubende Kind
und das fromme Volk, nur unsre Auffassung ist eine andre. Wir müssen das
Volk zum begrifflichen Denken zu erheben suchen, dürfen darin aber nichts
übereilen. Wir müssen in der Predigt die Sprache des Volkes reden, jedoch
durch die Vorstellungen und Bilder, durch die historischen oder für historisch
gehaltnen Erzählungen die Idee durchscheinen lassen. Kommt einer aus der
Gemeinde mit Zweifeln zu uns, so müssen wir uns den Mann ansehen und
ihn je nach der Stufe seiner Erkenntnis behandeln. Übrigens, meint Strauß,
kämen solche Fälle nicht leicht vor, „wir plagen uns da nur mit Schatten-


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[0631] David Friedrich Strauß gesiebt, ehe sie in die Schule Aufnahme fand, und Straußens Jahrgang, zu dem auch Bischer gehörte, war sogar als „Geniepromotion" berühmt. Über die wissenschaftlichen Zustände in Blaubeuren und in dem für das schwäbische Geistesleben so wichtigen Tübinger Stift empfangen wir in dem Buche dankenswerte Aufschlüsse. Strauß geriet als Stiftler zunächst in den Bannkreis der Romantik und Mystik. Mit gleichgestimmten Freunden pilgerte er fleißig nach Weinsberg, in Kerners Hause den Orakelsprüchen der Seherin von Prevorst zu lauschen. Eine Zeit lang huldigte er dem gröbsten Wunderglauben. Als er kritischer zu werden anfing, erklärte er zunächst die Geistererscheinungen aus der Einbildung, ließ aber die Kraftäußerungen noch als tatsächliche Er¬ fahrungen gelten. Manche dieser Kraftäußerungen, z. B. nächtliches Zusammen¬ schlagen der Kirchenglocken, hatte Kerners loses Söhnlein Theobald zum Ur¬ heber, wie dieser unserm Theobald Ziegler erzählt hat. Aus der Mystik und auch aus Schleiermachers Gefühlsreligion führte ihn Hegel heraus, dessen Phänomeno- logie er vier Semester hindurch mit vier Kameraden (Binder. Mürklin, Ganß und Seeger) gemeinsam studierte; auf Binders Stube kamen sie zu diesem Zweck jede Woche zweimal zusammen. Dabei schwand denn — ihnen selbst fast un¬ bemerkt — der orthodoxe Glaube allmählich. Strauß wurde es gelegentlich einer Preisaufgabe gewahr. Er löste zwei solche Aufgaben: eine homiletische der evangelischen theologischen Fakultät und eine über die Auferstehung der Toten, die von der katholischen gestellt worden war. Zwei Arbeiten über die zweite wurden des Preises würdig befunden; um diesen hatten die Verfasser zu losen, und Strauß zog die Niete. Wichtiger als dieses Mißgeschick ist sein späteres Bekenntnis, daß, als er die Arbeit vollendet hatte, ihr Inhalt seiner damaligen Überzeugung nicht mehr entsprochen habe. Die Hegelsche Philosophie leistete ihm den Dienst, ihn nicht allein aus der Orthodoxie heraufzuführen, sondern dies auch zu tuu, ohne daß er es merkte, und ihm dann, als er es merkte, über die daraus entspringende Pflichtenkollision hinwegzuhelfen. Von, Hegelschen Standpunkt aus hat er als Vikar in dem Dorfe Klein-Jngersheim die Gewissensbedenken seines Freundes Märklin zu beschwichtigen versucht. Der Kern seiner Argumentation besteht in der Ansicht: Der philosophisch Gebildete denkt in Begriffen, die Masse vermag nur in Vorstellungen zu denken. Wir Philosophen meinen im Grunde genommen dasselbe wie das glaubende Kind und das fromme Volk, nur unsre Auffassung ist eine andre. Wir müssen das Volk zum begrifflichen Denken zu erheben suchen, dürfen darin aber nichts übereilen. Wir müssen in der Predigt die Sprache des Volkes reden, jedoch durch die Vorstellungen und Bilder, durch die historischen oder für historisch gehaltnen Erzählungen die Idee durchscheinen lassen. Kommt einer aus der Gemeinde mit Zweifeln zu uns, so müssen wir uns den Mann ansehen und ihn je nach der Stufe seiner Erkenntnis behandeln. Übrigens, meint Strauß, kämen solche Fälle nicht leicht vor, „wir plagen uns da nur mit Schatten-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/631>, abgerufen am 24.07.2024.