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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Reifezeit

Hand in Hand mit dem Partikularismus geht der Klerikalismus. Ist
auch München als Gemeinde ganz in liberalen Händen -- das Wort ohne
den Übeln Beigeschmack, den es im Norden hat --, so merkt man doch bald,
daß man in einer katholischen Stadt ist. Mit der tyrannischen Macht der
Kirche im öffentlichen Leben ist es freilich für immer vorbei, und nur mit
Erstaunen vernimmt man, daß sich noch bis vor etwas mehr als hundert
Jahren kein Protestant in München niederlassen durfte, eine Folge des Zwanges,
den im achtzehnten Jahrhundert die Jesuiten ausübten. Leider hat aber noch
jetzt in einem so hoch entwickelten Schulwesen wie dem Münchner der Klerus
den ganzen Religionsunterricht in Händen; sowohl in den Volksschulen wie
in den Gymnasien wird er nur von Priestern erteilt. Dieses Privileg hat
man der Kirche bisher noch nicht entreißen können, ebensowenig wie es ge¬
lungen ist, die Einführung der Feuerbestattung durchzusetzen, obwohl der
Münchner Feuerbestattungsverein relativ der größte in Deutschland ist (3000 Mit¬
glieder). Hierin zieht Bayern mit dem sonst so verhaßten Preußen an einem
Strange.




Reifezeit
Lharlotte Niese Roman von

ente habe ich alles wieder gesehen, alles, wonach ich mich lange
sehnte, und von dem ich träumte.

Die kleine Stadt, in der ich meine ersten Kinderjahre verbrachte,
!den schiefen Kirchturm, von dem die Glocken so besonders klingen,
und den kleinen Friedhof, auf dem die Menschen Platz finden, die
> sich nicht zur römisch-katholischen Kirche halten.

Harald hat sich sehr gewundert. Er hat die Ranken von den Grabsteinen
weggeschnitten und dann die Namen gelesen.

Annaluise Pankow, geborne von Falkenberg, und Harald Pankow.

Mutterlieb, das sind ja unsre Namen, rief er. Du heißest Annaluise, und ich
Harald, und du bist eine geborne Pankow.

Es sind meine Eltern, die hier ihre Ruhestätte haben, belehrte ich ihn. Sie
finde beide jung gestorben.

Meine Stimme klingt ruhig. Als ob das, was ich hier sage, mich nichts an¬
ginge. Und dennoch habe ich oft mein Herzblut verweint nach dem sanften, milden
Vater, der hier unter Ranken und Dornen schläft.

Die Amseln singen kurz und süß, von der Stadt her läuten die Glocken.

Mein Junge kletterte auf die Mauer, die den großen katholischen Kirchhof
von diesem armen Eckchen trennt. Er blickte auf den großen Cruciferus, der seine
Arme weit über die Welt streckt, auch zu uns her; er betrachtete die kleinen
Täubchen, die auf den Kindergräbern aus der Erde wuchsen, die häßlichen Perl¬
kränze, die der Wind leise hin und her bewegte; dann horchte er wieder auf den


Reifezeit

Hand in Hand mit dem Partikularismus geht der Klerikalismus. Ist
auch München als Gemeinde ganz in liberalen Händen — das Wort ohne
den Übeln Beigeschmack, den es im Norden hat —, so merkt man doch bald,
daß man in einer katholischen Stadt ist. Mit der tyrannischen Macht der
Kirche im öffentlichen Leben ist es freilich für immer vorbei, und nur mit
Erstaunen vernimmt man, daß sich noch bis vor etwas mehr als hundert
Jahren kein Protestant in München niederlassen durfte, eine Folge des Zwanges,
den im achtzehnten Jahrhundert die Jesuiten ausübten. Leider hat aber noch
jetzt in einem so hoch entwickelten Schulwesen wie dem Münchner der Klerus
den ganzen Religionsunterricht in Händen; sowohl in den Volksschulen wie
in den Gymnasien wird er nur von Priestern erteilt. Dieses Privileg hat
man der Kirche bisher noch nicht entreißen können, ebensowenig wie es ge¬
lungen ist, die Einführung der Feuerbestattung durchzusetzen, obwohl der
Münchner Feuerbestattungsverein relativ der größte in Deutschland ist (3000 Mit¬
glieder). Hierin zieht Bayern mit dem sonst so verhaßten Preußen an einem
Strange.




Reifezeit
Lharlotte Niese Roman von

ente habe ich alles wieder gesehen, alles, wonach ich mich lange
sehnte, und von dem ich träumte.

Die kleine Stadt, in der ich meine ersten Kinderjahre verbrachte,
!den schiefen Kirchturm, von dem die Glocken so besonders klingen,
und den kleinen Friedhof, auf dem die Menschen Platz finden, die
> sich nicht zur römisch-katholischen Kirche halten.

Harald hat sich sehr gewundert. Er hat die Ranken von den Grabsteinen
weggeschnitten und dann die Namen gelesen.

Annaluise Pankow, geborne von Falkenberg, und Harald Pankow.

Mutterlieb, das sind ja unsre Namen, rief er. Du heißest Annaluise, und ich
Harald, und du bist eine geborne Pankow.

Es sind meine Eltern, die hier ihre Ruhestätte haben, belehrte ich ihn. Sie
finde beide jung gestorben.

Meine Stimme klingt ruhig. Als ob das, was ich hier sage, mich nichts an¬
ginge. Und dennoch habe ich oft mein Herzblut verweint nach dem sanften, milden
Vater, der hier unter Ranken und Dornen schläft.

Die Amseln singen kurz und süß, von der Stadt her läuten die Glocken.

Mein Junge kletterte auf die Mauer, die den großen katholischen Kirchhof
von diesem armen Eckchen trennt. Er blickte auf den großen Cruciferus, der seine
Arme weit über die Welt streckt, auch zu uns her; er betrachtete die kleinen
Täubchen, die auf den Kindergräbern aus der Erde wuchsen, die häßlichen Perl¬
kränze, die der Wind leise hin und her bewegte; dann horchte er wieder auf den


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[0584] Reifezeit Hand in Hand mit dem Partikularismus geht der Klerikalismus. Ist auch München als Gemeinde ganz in liberalen Händen — das Wort ohne den Übeln Beigeschmack, den es im Norden hat —, so merkt man doch bald, daß man in einer katholischen Stadt ist. Mit der tyrannischen Macht der Kirche im öffentlichen Leben ist es freilich für immer vorbei, und nur mit Erstaunen vernimmt man, daß sich noch bis vor etwas mehr als hundert Jahren kein Protestant in München niederlassen durfte, eine Folge des Zwanges, den im achtzehnten Jahrhundert die Jesuiten ausübten. Leider hat aber noch jetzt in einem so hoch entwickelten Schulwesen wie dem Münchner der Klerus den ganzen Religionsunterricht in Händen; sowohl in den Volksschulen wie in den Gymnasien wird er nur von Priestern erteilt. Dieses Privileg hat man der Kirche bisher noch nicht entreißen können, ebensowenig wie es ge¬ lungen ist, die Einführung der Feuerbestattung durchzusetzen, obwohl der Münchner Feuerbestattungsverein relativ der größte in Deutschland ist (3000 Mit¬ glieder). Hierin zieht Bayern mit dem sonst so verhaßten Preußen an einem Strange. Reifezeit Lharlotte Niese Roman von ente habe ich alles wieder gesehen, alles, wonach ich mich lange sehnte, und von dem ich träumte. Die kleine Stadt, in der ich meine ersten Kinderjahre verbrachte, !den schiefen Kirchturm, von dem die Glocken so besonders klingen, und den kleinen Friedhof, auf dem die Menschen Platz finden, die > sich nicht zur römisch-katholischen Kirche halten. Harald hat sich sehr gewundert. Er hat die Ranken von den Grabsteinen weggeschnitten und dann die Namen gelesen. Annaluise Pankow, geborne von Falkenberg, und Harald Pankow. Mutterlieb, das sind ja unsre Namen, rief er. Du heißest Annaluise, und ich Harald, und du bist eine geborne Pankow. Es sind meine Eltern, die hier ihre Ruhestätte haben, belehrte ich ihn. Sie finde beide jung gestorben. Meine Stimme klingt ruhig. Als ob das, was ich hier sage, mich nichts an¬ ginge. Und dennoch habe ich oft mein Herzblut verweint nach dem sanften, milden Vater, der hier unter Ranken und Dornen schläft. Die Amseln singen kurz und süß, von der Stadt her läuten die Glocken. Mein Junge kletterte auf die Mauer, die den großen katholischen Kirchhof von diesem armen Eckchen trennt. Er blickte auf den großen Cruciferus, der seine Arme weit über die Welt streckt, auch zu uns her; er betrachtete die kleinen Täubchen, die auf den Kindergräbern aus der Erde wuchsen, die häßlichen Perl¬ kränze, die der Wind leise hin und her bewegte; dann horchte er wieder auf den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/584>, abgerufen am 22.06.2024.