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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

entsprechenden Volksbibliotheken und Lesehallen.*) Der Drang nach Wißbegierde
und geistigem Fortschritt ist eben noch nicht so groß in den Massen. Das
literarische Interesse geht bei diesen nicht weit hinaus über die Fliegenden
Blätter und das Bayrische Vaterland: lachen und kannegießern bilden ihre
Lieblingsbeschäftigung. Darum ist es bezeichnend, daß in München bis vor
kurzem keine ernste literarische Zeitschrift erschien, wenn man von der literarischen
Beilage der leider nun auch dahingegangnen Allgemeinen Zeitung absieht.
Erst in den letzten Jahren ist das besser geworden, wie die kurz hintereinander
entstandnen Süddeutschen Monatshefte, Das Hochland und Der März be¬
weisen. Für den Mittelstand sind auch diese nicht berechnet, und so fehlt es
für diesen auch jetzt noch an einem guten literarischen Familienorgan.**)

Aber selbst wenn er wollte, wann sollte der gute Münchner auch lesen?
Im Sommer füllt es ihm nicht ein; dazu ist er ein viel zu großer Naturfreund,
und den Liebeswerbungen der in der Ferne winkenden Gebirgssee kann er nicht
widerstehn. Der Herbst und Winter aber ist für ihn ein förmliches Karussell von
Lustbarkeiten. Mit dem Oktoberfeste beginnt es, erst langsam, dann von Weih¬
nachten an mit rasender Schnelle: erst die wilden Bacchanalien des Karnevals,
dann die Katerstimmung der Bockbierzeit, hierauf die Frühlingsfeier auf Münchens
heiligem Berge -- dem wahrhaftigen monile Lalvatioll --, dem Nokherberg,
weiter im Mai die sogenannte Auer Dult (ein Trödelmarkt in der Vorstadt An),
bis das Oktoberfest die holde Kette schließt, eine Kette bunt durcheinander
wirbelnden Wechselspiels weltlicher und kirchlicher Feste, wie es ja im Wesen
der katholischen Bauernreligion liegt, beides unbefangen zu vereinigen.

Diese unerschöpfliche Genußfreudigkeit des Münchners ist es also, die auch
auf seine geistige Regsamkeit zweifellos nachteilig eingewirkt hat -- es ist hier
natürlich immer nur von dem Münchner der mittlern Stände die Rede --
und in ihm jene behäbig-behagliche Stimmung erzeugt, die mehr den Klein¬
städter kennzeichnet als den Großstädter und offenbar wieder ein Residuum
ist von der patriarchalischen Bauernkultur Oberbayerns, die im städtischen
Rahmen weiterlebt und gerade in diesem Rahmen jenen entzückenden Reiz
ausübt, den zumal der norddeutsche Großstadtmensch so stark empfindet.

Was hier als trotziger Stammesindividualismus so wohltuend wirkt, das
wird freilich bedenklicher, wenn es sich in die Formen des Partikularismus hüllt.
Doch habe ich immer den Eindruck gehabt, daß es sich im Grunde weniger
um politischen als um Kulturpartikularismus handelt, hervorgegangen aus dem
Überwiegen des bäuerlich-stammestümlichen gegenüber dem bürgerlich-städtischen




*) städtisch ist nur eine, dazu kommen aber fünf des Münchner Volksbildungsvereins,
serner fünf konfessionelle (zwei katholische und drei evangelische).
**) Treffend sagt M. Haushofer: "Der Müncher liebt es nicht, Bücher zu lesen oder zu
kaufen . . . Und es gibt, selbst unter den Angehörigen der gebildeten Klassen Münchens, genug
Leute, die von einem oder dem andern der hervorragendsten Münchner Autoren niemals etwas
gelesen haben."
sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

entsprechenden Volksbibliotheken und Lesehallen.*) Der Drang nach Wißbegierde
und geistigem Fortschritt ist eben noch nicht so groß in den Massen. Das
literarische Interesse geht bei diesen nicht weit hinaus über die Fliegenden
Blätter und das Bayrische Vaterland: lachen und kannegießern bilden ihre
Lieblingsbeschäftigung. Darum ist es bezeichnend, daß in München bis vor
kurzem keine ernste literarische Zeitschrift erschien, wenn man von der literarischen
Beilage der leider nun auch dahingegangnen Allgemeinen Zeitung absieht.
Erst in den letzten Jahren ist das besser geworden, wie die kurz hintereinander
entstandnen Süddeutschen Monatshefte, Das Hochland und Der März be¬
weisen. Für den Mittelstand sind auch diese nicht berechnet, und so fehlt es
für diesen auch jetzt noch an einem guten literarischen Familienorgan.**)

Aber selbst wenn er wollte, wann sollte der gute Münchner auch lesen?
Im Sommer füllt es ihm nicht ein; dazu ist er ein viel zu großer Naturfreund,
und den Liebeswerbungen der in der Ferne winkenden Gebirgssee kann er nicht
widerstehn. Der Herbst und Winter aber ist für ihn ein förmliches Karussell von
Lustbarkeiten. Mit dem Oktoberfeste beginnt es, erst langsam, dann von Weih¬
nachten an mit rasender Schnelle: erst die wilden Bacchanalien des Karnevals,
dann die Katerstimmung der Bockbierzeit, hierauf die Frühlingsfeier auf Münchens
heiligem Berge — dem wahrhaftigen monile Lalvatioll —, dem Nokherberg,
weiter im Mai die sogenannte Auer Dult (ein Trödelmarkt in der Vorstadt An),
bis das Oktoberfest die holde Kette schließt, eine Kette bunt durcheinander
wirbelnden Wechselspiels weltlicher und kirchlicher Feste, wie es ja im Wesen
der katholischen Bauernreligion liegt, beides unbefangen zu vereinigen.

Diese unerschöpfliche Genußfreudigkeit des Münchners ist es also, die auch
auf seine geistige Regsamkeit zweifellos nachteilig eingewirkt hat — es ist hier
natürlich immer nur von dem Münchner der mittlern Stände die Rede —
und in ihm jene behäbig-behagliche Stimmung erzeugt, die mehr den Klein¬
städter kennzeichnet als den Großstädter und offenbar wieder ein Residuum
ist von der patriarchalischen Bauernkultur Oberbayerns, die im städtischen
Rahmen weiterlebt und gerade in diesem Rahmen jenen entzückenden Reiz
ausübt, den zumal der norddeutsche Großstadtmensch so stark empfindet.

Was hier als trotziger Stammesindividualismus so wohltuend wirkt, das
wird freilich bedenklicher, wenn es sich in die Formen des Partikularismus hüllt.
Doch habe ich immer den Eindruck gehabt, daß es sich im Grunde weniger
um politischen als um Kulturpartikularismus handelt, hervorgegangen aus dem
Überwiegen des bäuerlich-stammestümlichen gegenüber dem bürgerlich-städtischen




*) städtisch ist nur eine, dazu kommen aber fünf des Münchner Volksbildungsvereins,
serner fünf konfessionelle (zwei katholische und drei evangelische).
**) Treffend sagt M. Haushofer: „Der Müncher liebt es nicht, Bücher zu lesen oder zu
kaufen . . . Und es gibt, selbst unter den Angehörigen der gebildeten Klassen Münchens, genug
Leute, die von einem oder dem andern der hervorragendsten Münchner Autoren niemals etwas
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[0582] sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten entsprechenden Volksbibliotheken und Lesehallen.*) Der Drang nach Wißbegierde und geistigem Fortschritt ist eben noch nicht so groß in den Massen. Das literarische Interesse geht bei diesen nicht weit hinaus über die Fliegenden Blätter und das Bayrische Vaterland: lachen und kannegießern bilden ihre Lieblingsbeschäftigung. Darum ist es bezeichnend, daß in München bis vor kurzem keine ernste literarische Zeitschrift erschien, wenn man von der literarischen Beilage der leider nun auch dahingegangnen Allgemeinen Zeitung absieht. Erst in den letzten Jahren ist das besser geworden, wie die kurz hintereinander entstandnen Süddeutschen Monatshefte, Das Hochland und Der März be¬ weisen. Für den Mittelstand sind auch diese nicht berechnet, und so fehlt es für diesen auch jetzt noch an einem guten literarischen Familienorgan.**) Aber selbst wenn er wollte, wann sollte der gute Münchner auch lesen? Im Sommer füllt es ihm nicht ein; dazu ist er ein viel zu großer Naturfreund, und den Liebeswerbungen der in der Ferne winkenden Gebirgssee kann er nicht widerstehn. Der Herbst und Winter aber ist für ihn ein förmliches Karussell von Lustbarkeiten. Mit dem Oktoberfeste beginnt es, erst langsam, dann von Weih¬ nachten an mit rasender Schnelle: erst die wilden Bacchanalien des Karnevals, dann die Katerstimmung der Bockbierzeit, hierauf die Frühlingsfeier auf Münchens heiligem Berge — dem wahrhaftigen monile Lalvatioll —, dem Nokherberg, weiter im Mai die sogenannte Auer Dult (ein Trödelmarkt in der Vorstadt An), bis das Oktoberfest die holde Kette schließt, eine Kette bunt durcheinander wirbelnden Wechselspiels weltlicher und kirchlicher Feste, wie es ja im Wesen der katholischen Bauernreligion liegt, beides unbefangen zu vereinigen. Diese unerschöpfliche Genußfreudigkeit des Münchners ist es also, die auch auf seine geistige Regsamkeit zweifellos nachteilig eingewirkt hat — es ist hier natürlich immer nur von dem Münchner der mittlern Stände die Rede — und in ihm jene behäbig-behagliche Stimmung erzeugt, die mehr den Klein¬ städter kennzeichnet als den Großstädter und offenbar wieder ein Residuum ist von der patriarchalischen Bauernkultur Oberbayerns, die im städtischen Rahmen weiterlebt und gerade in diesem Rahmen jenen entzückenden Reiz ausübt, den zumal der norddeutsche Großstadtmensch so stark empfindet. Was hier als trotziger Stammesindividualismus so wohltuend wirkt, das wird freilich bedenklicher, wenn es sich in die Formen des Partikularismus hüllt. Doch habe ich immer den Eindruck gehabt, daß es sich im Grunde weniger um politischen als um Kulturpartikularismus handelt, hervorgegangen aus dem Überwiegen des bäuerlich-stammestümlichen gegenüber dem bürgerlich-städtischen *) städtisch ist nur eine, dazu kommen aber fünf des Münchner Volksbildungsvereins, serner fünf konfessionelle (zwei katholische und drei evangelische). **) Treffend sagt M. Haushofer: „Der Müncher liebt es nicht, Bücher zu lesen oder zu kaufen . . . Und es gibt, selbst unter den Angehörigen der gebildeten Klassen Münchens, genug Leute, die von einem oder dem andern der hervorragendsten Münchner Autoren niemals etwas gelesen haben."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/582>, abgerufen am 22.06.2024.