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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

als ein städtischer Dialekt, weil er im Bauern-, nicht im Bürgertum wurzelt.
Das kann man besonders beobachten, wenn man ihn mit dem abgeschliffnern
Wiener Dialekt vergleicht.

Eine gewisse schwerfällige Behaglichkeit wie in seiner Sprache zeigt der
Münchner auch in seiner Lebensbetätigung. Er geht langsam und würdevoll
einher, er übereilt sich nie und bewahrt immer seine Ruhe. Das Hetzen und
Jagen wie in andern Großstädten kennt man in München nicht. Darum ist
aber der Münchner kein Geschäftsmann, er rührt sich nicht leicht, auch wenn
es seinen Vorteil gilt, und läßt sich deshalb leicht von unternehmenden Fremden
aus dem Felde schlagen. Was München als moderne Großstadt ist, verdankt
es sicher nicht den Münchnern. Manche kleine Rückständigkeiten in öffent¬
lichen Einrichtungen zeigen noch, was München wäre, wenn es nur ein ober¬
bayrisches München wäre. Da gilt zum Beispiel noch die Bestimmung, daß
sich der Empfänger einer Geldsendung diese selbst von der Post abholen muß,
was für Publikum und Beamte sehr lästig ist, zumal weil die kleinern Postämter
wenig geräumig und oft stark überlastet sind. Etwas veraltet ist auch das
Prinzip, wonach bestimmte Züge an Sonntagen "nur bei gutem Wetter" ab¬
gelassen werden. Im letzten Sommer wurde auch über die unerträglichen
Zustände im Hauptbahnhof wiederholt (vgl. z. B. die Grenzboten 1907, Ur. 34)
öffentlich Klage erhoben, die dem gesteigerten Reiseverkehr offenbar nicht mehr
genügen.

Angenehmer für den einzelnen sind in diesem sorglosen Sichgehenlassen
die geringern Anforderungen, die an die physische Kraft der Beamten und an
den Geldbeutel des Steuerzahlers gestellt werden. Die Lehrer an den Münchner
Schulen haben zum Beispiel weniger Pflichtstunden als ihre Kollegen in Leipzig,
Berlin oder Hamburg, werden freilich auch schlechter besoldet, was jedoch durch
die langen Sommerferien (Mitte Juli bis Ende September) wieder ausgeglichen
wird. Auch die Steuerschraube wird bei weitem nicht so stark angezogen wie
in andern Großstädten, z. B. Berlin oder Leipzig.

Leben und leben lassen, sich und seinen Mitmenschen das Leben nicht
unnütz sauer machen -- das ist die Losung des bayrischen Beamten und des
Münchner obenan. So auch in dem persönlichen Verkehr mit dem Publikum;
nicht als ob er nicht auch grob sein könnte, er kann sogar recht grob werden,
saugrob. Aber auch in dieser Grobheit liegt eine gewisse derbe Biederkeit,
die sich schon darin äußert, daß der Grobwerdende seinem Erguß fast immer
die Anrede: "Mei Liaba" hinzusetzt. Es ist etwas wie eine Grobheit unter
Brüdern, im grimmigen, aber doch wohlgeölten Bierbaßton voll und breit
herausquellend, nicht wie die dem schneidenden Nordwind gleichende, im schrillen
Diskant herabsausende, mit militärischem Unfehlbarkeitsdünkel gemischte Grob¬
heit des preußischen Beamten. Jene wirkt etwa so, als würde man etwas
derb massiert, diese dagegen, als würde man geohrfeigt. Beamtentum und
Menschentum vermag der Bayer überhaupt nicht scharf zu trennen. Will er


sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

als ein städtischer Dialekt, weil er im Bauern-, nicht im Bürgertum wurzelt.
Das kann man besonders beobachten, wenn man ihn mit dem abgeschliffnern
Wiener Dialekt vergleicht.

Eine gewisse schwerfällige Behaglichkeit wie in seiner Sprache zeigt der
Münchner auch in seiner Lebensbetätigung. Er geht langsam und würdevoll
einher, er übereilt sich nie und bewahrt immer seine Ruhe. Das Hetzen und
Jagen wie in andern Großstädten kennt man in München nicht. Darum ist
aber der Münchner kein Geschäftsmann, er rührt sich nicht leicht, auch wenn
es seinen Vorteil gilt, und läßt sich deshalb leicht von unternehmenden Fremden
aus dem Felde schlagen. Was München als moderne Großstadt ist, verdankt
es sicher nicht den Münchnern. Manche kleine Rückständigkeiten in öffent¬
lichen Einrichtungen zeigen noch, was München wäre, wenn es nur ein ober¬
bayrisches München wäre. Da gilt zum Beispiel noch die Bestimmung, daß
sich der Empfänger einer Geldsendung diese selbst von der Post abholen muß,
was für Publikum und Beamte sehr lästig ist, zumal weil die kleinern Postämter
wenig geräumig und oft stark überlastet sind. Etwas veraltet ist auch das
Prinzip, wonach bestimmte Züge an Sonntagen „nur bei gutem Wetter" ab¬
gelassen werden. Im letzten Sommer wurde auch über die unerträglichen
Zustände im Hauptbahnhof wiederholt (vgl. z. B. die Grenzboten 1907, Ur. 34)
öffentlich Klage erhoben, die dem gesteigerten Reiseverkehr offenbar nicht mehr
genügen.

Angenehmer für den einzelnen sind in diesem sorglosen Sichgehenlassen
die geringern Anforderungen, die an die physische Kraft der Beamten und an
den Geldbeutel des Steuerzahlers gestellt werden. Die Lehrer an den Münchner
Schulen haben zum Beispiel weniger Pflichtstunden als ihre Kollegen in Leipzig,
Berlin oder Hamburg, werden freilich auch schlechter besoldet, was jedoch durch
die langen Sommerferien (Mitte Juli bis Ende September) wieder ausgeglichen
wird. Auch die Steuerschraube wird bei weitem nicht so stark angezogen wie
in andern Großstädten, z. B. Berlin oder Leipzig.

Leben und leben lassen, sich und seinen Mitmenschen das Leben nicht
unnütz sauer machen — das ist die Losung des bayrischen Beamten und des
Münchner obenan. So auch in dem persönlichen Verkehr mit dem Publikum;
nicht als ob er nicht auch grob sein könnte, er kann sogar recht grob werden,
saugrob. Aber auch in dieser Grobheit liegt eine gewisse derbe Biederkeit,
die sich schon darin äußert, daß der Grobwerdende seinem Erguß fast immer
die Anrede: „Mei Liaba" hinzusetzt. Es ist etwas wie eine Grobheit unter
Brüdern, im grimmigen, aber doch wohlgeölten Bierbaßton voll und breit
herausquellend, nicht wie die dem schneidenden Nordwind gleichende, im schrillen
Diskant herabsausende, mit militärischem Unfehlbarkeitsdünkel gemischte Grob¬
heit des preußischen Beamten. Jene wirkt etwa so, als würde man etwas
derb massiert, diese dagegen, als würde man geohrfeigt. Beamtentum und
Menschentum vermag der Bayer überhaupt nicht scharf zu trennen. Will er


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[0580] sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten als ein städtischer Dialekt, weil er im Bauern-, nicht im Bürgertum wurzelt. Das kann man besonders beobachten, wenn man ihn mit dem abgeschliffnern Wiener Dialekt vergleicht. Eine gewisse schwerfällige Behaglichkeit wie in seiner Sprache zeigt der Münchner auch in seiner Lebensbetätigung. Er geht langsam und würdevoll einher, er übereilt sich nie und bewahrt immer seine Ruhe. Das Hetzen und Jagen wie in andern Großstädten kennt man in München nicht. Darum ist aber der Münchner kein Geschäftsmann, er rührt sich nicht leicht, auch wenn es seinen Vorteil gilt, und läßt sich deshalb leicht von unternehmenden Fremden aus dem Felde schlagen. Was München als moderne Großstadt ist, verdankt es sicher nicht den Münchnern. Manche kleine Rückständigkeiten in öffent¬ lichen Einrichtungen zeigen noch, was München wäre, wenn es nur ein ober¬ bayrisches München wäre. Da gilt zum Beispiel noch die Bestimmung, daß sich der Empfänger einer Geldsendung diese selbst von der Post abholen muß, was für Publikum und Beamte sehr lästig ist, zumal weil die kleinern Postämter wenig geräumig und oft stark überlastet sind. Etwas veraltet ist auch das Prinzip, wonach bestimmte Züge an Sonntagen „nur bei gutem Wetter" ab¬ gelassen werden. Im letzten Sommer wurde auch über die unerträglichen Zustände im Hauptbahnhof wiederholt (vgl. z. B. die Grenzboten 1907, Ur. 34) öffentlich Klage erhoben, die dem gesteigerten Reiseverkehr offenbar nicht mehr genügen. Angenehmer für den einzelnen sind in diesem sorglosen Sichgehenlassen die geringern Anforderungen, die an die physische Kraft der Beamten und an den Geldbeutel des Steuerzahlers gestellt werden. Die Lehrer an den Münchner Schulen haben zum Beispiel weniger Pflichtstunden als ihre Kollegen in Leipzig, Berlin oder Hamburg, werden freilich auch schlechter besoldet, was jedoch durch die langen Sommerferien (Mitte Juli bis Ende September) wieder ausgeglichen wird. Auch die Steuerschraube wird bei weitem nicht so stark angezogen wie in andern Großstädten, z. B. Berlin oder Leipzig. Leben und leben lassen, sich und seinen Mitmenschen das Leben nicht unnütz sauer machen — das ist die Losung des bayrischen Beamten und des Münchner obenan. So auch in dem persönlichen Verkehr mit dem Publikum; nicht als ob er nicht auch grob sein könnte, er kann sogar recht grob werden, saugrob. Aber auch in dieser Grobheit liegt eine gewisse derbe Biederkeit, die sich schon darin äußert, daß der Grobwerdende seinem Erguß fast immer die Anrede: „Mei Liaba" hinzusetzt. Es ist etwas wie eine Grobheit unter Brüdern, im grimmigen, aber doch wohlgeölten Bierbaßton voll und breit herausquellend, nicht wie die dem schneidenden Nordwind gleichende, im schrillen Diskant herabsausende, mit militärischem Unfehlbarkeitsdünkel gemischte Grob¬ heit des preußischen Beamten. Jene wirkt etwa so, als würde man etwas derb massiert, diese dagegen, als würde man geohrfeigt. Beamtentum und Menschentum vermag der Bayer überhaupt nicht scharf zu trennen. Will er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/580>, abgerufen am 22.06.2024.