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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

durchdrungen; sie ist aber auch nicht so jung wie die Berliner -- darum hat
die feinere Geisteskultur die derbere Volkskultur weder so stark paralysiert wie
in Berlin noch so stark assimiliert wie in Leipzig. Wer die Elite des
Münchner Lebens sucht, wird nicht ins Hofbrüuhaus gehn, und wer den Spie߬
bürger sucht, nicht ins Cafe Luitpold. Wer von München erwartet, daß es
ein großes Atelier oder ein großes Museum sei, in dem es von Farbentöpfen
noch mehr wimmelt als von Bierkrügen, wird sich ebenso enttäuscht fühlen,
als wenn er von ihm erwartet, ein Paradies von Bier und Weißwürsten zu
finden. Wer aber zwischen Kunst- und Biergenuß das rechte Maß zu halten
weiß, wer den Kunstphilister nicht einseitig und selbstgefällig herausbeißt und
auch für die hausbackne Herzenspoesie des echten Münchner Philistertums etwas
übrig hat, der wird nicht in den Fehler des Herrn Joseph Ruderer verfallen,*)
der trotz allen Rühmens mit seiner Münchner Abstammung doch nur wenig hat
von dem warmen Gemüt seines kernigen Volkstums. Es ist der moderne
Literat, der, aus dem Boden seiner Heimatstadt herausgewachsen, nur mit
dem irrlichtelierenden Scheinwerfer seines Geistes blendende Schlaglichter auf
das Treiben dieser Stadt wirft, die aber nur einzelne Bilder aus der höhern
Gesellschaft im scharfen Lichte der Satire, oft auch im verzerrenden Spiegel
der Karikatur zeigen, nicht mit der hellen Klarheit sachlicher Kritik die Seelen¬
winkel des Münchners durchleuchten. Es ist die Ausgeburt einer tollen Künstler¬
laune, nicht die Schöpfung eines ordnenden Künstlergeistes, was Ruderer hier
bietet. Seiner Vaterstadt aber soll man mit einer gewissen Ehrfurcht gegenüber¬
treten, wenn man vor Fremden ihr Bild festhalten will.

Demgegenüber erscheint es mir als eine Pflicht der Dankbarkeit für
glückliche, in der Jsarstadt verbrachte Jahre, einige Charakterzüge ihres Wesens
zu einem wenn auch noch so anspruchslosen Bilde zusammenzufügen.

Das bäuerliche, ja zuweilen bäurische Element im Wesen des Münchner
Bürgers kann sich nicht verleugnen, weder im geselligen noch im amtlichen
Verkehr. Wie der echte Bauer, so ist auch der echte Münchner stockkonservativ,
freilich nicht im preußischen politischen Sinne, sondern im sozialen. Wie der
Bauer hält er noch an seinem herzlichen "Grüß Gott" fest, wie der Bauer
trägt er noch sein Brodmesser hinten in der Hosentasche, in einer Scheide
steckend wie ein Hirschfänger; wie ein Bauer raucht er seine Pfeife im Hof¬
brüuhaus und unterhält sich mit seinem "Herrn Nachbar", ohne zu wissen,
mit wem er es zu tun hat. Etwas bäuerlich-patriarchalisches hat auch die
Art, wie der Bürger an schönen Sommerabenden in den zahlreichen Biergärten,
"Keller" genannt, sein Abendbrot verzehrt: er bringt sich seinen Schinken, sein
"Gselchtes" oder sein "Durcheinander" (gemischter Aufschnitt) in Papier ge¬
wickelt mit, breitet es mit seinem Papier offen vor sich aus und beginnt es
mit seinem Dolchmesser zu bearbeiten, nachdem er sich von der Kellnerin nur



") J.Ruderer, München (Städte und Landschaften, Bd. I). Stuttgart und München, 1907.
sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

durchdrungen; sie ist aber auch nicht so jung wie die Berliner — darum hat
die feinere Geisteskultur die derbere Volkskultur weder so stark paralysiert wie
in Berlin noch so stark assimiliert wie in Leipzig. Wer die Elite des
Münchner Lebens sucht, wird nicht ins Hofbrüuhaus gehn, und wer den Spie߬
bürger sucht, nicht ins Cafe Luitpold. Wer von München erwartet, daß es
ein großes Atelier oder ein großes Museum sei, in dem es von Farbentöpfen
noch mehr wimmelt als von Bierkrügen, wird sich ebenso enttäuscht fühlen,
als wenn er von ihm erwartet, ein Paradies von Bier und Weißwürsten zu
finden. Wer aber zwischen Kunst- und Biergenuß das rechte Maß zu halten
weiß, wer den Kunstphilister nicht einseitig und selbstgefällig herausbeißt und
auch für die hausbackne Herzenspoesie des echten Münchner Philistertums etwas
übrig hat, der wird nicht in den Fehler des Herrn Joseph Ruderer verfallen,*)
der trotz allen Rühmens mit seiner Münchner Abstammung doch nur wenig hat
von dem warmen Gemüt seines kernigen Volkstums. Es ist der moderne
Literat, der, aus dem Boden seiner Heimatstadt herausgewachsen, nur mit
dem irrlichtelierenden Scheinwerfer seines Geistes blendende Schlaglichter auf
das Treiben dieser Stadt wirft, die aber nur einzelne Bilder aus der höhern
Gesellschaft im scharfen Lichte der Satire, oft auch im verzerrenden Spiegel
der Karikatur zeigen, nicht mit der hellen Klarheit sachlicher Kritik die Seelen¬
winkel des Münchners durchleuchten. Es ist die Ausgeburt einer tollen Künstler¬
laune, nicht die Schöpfung eines ordnenden Künstlergeistes, was Ruderer hier
bietet. Seiner Vaterstadt aber soll man mit einer gewissen Ehrfurcht gegenüber¬
treten, wenn man vor Fremden ihr Bild festhalten will.

Demgegenüber erscheint es mir als eine Pflicht der Dankbarkeit für
glückliche, in der Jsarstadt verbrachte Jahre, einige Charakterzüge ihres Wesens
zu einem wenn auch noch so anspruchslosen Bilde zusammenzufügen.

Das bäuerliche, ja zuweilen bäurische Element im Wesen des Münchner
Bürgers kann sich nicht verleugnen, weder im geselligen noch im amtlichen
Verkehr. Wie der echte Bauer, so ist auch der echte Münchner stockkonservativ,
freilich nicht im preußischen politischen Sinne, sondern im sozialen. Wie der
Bauer hält er noch an seinem herzlichen „Grüß Gott" fest, wie der Bauer
trägt er noch sein Brodmesser hinten in der Hosentasche, in einer Scheide
steckend wie ein Hirschfänger; wie ein Bauer raucht er seine Pfeife im Hof¬
brüuhaus und unterhält sich mit seinem „Herrn Nachbar", ohne zu wissen,
mit wem er es zu tun hat. Etwas bäuerlich-patriarchalisches hat auch die
Art, wie der Bürger an schönen Sommerabenden in den zahlreichen Biergärten,
„Keller" genannt, sein Abendbrot verzehrt: er bringt sich seinen Schinken, sein
„Gselchtes" oder sein „Durcheinander" (gemischter Aufschnitt) in Papier ge¬
wickelt mit, breitet es mit seinem Papier offen vor sich aus und beginnt es
mit seinem Dolchmesser zu bearbeiten, nachdem er sich von der Kellnerin nur



») J.Ruderer, München (Städte und Landschaften, Bd. I). Stuttgart und München, 1907.
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[0578] sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten durchdrungen; sie ist aber auch nicht so jung wie die Berliner — darum hat die feinere Geisteskultur die derbere Volkskultur weder so stark paralysiert wie in Berlin noch so stark assimiliert wie in Leipzig. Wer die Elite des Münchner Lebens sucht, wird nicht ins Hofbrüuhaus gehn, und wer den Spie߬ bürger sucht, nicht ins Cafe Luitpold. Wer von München erwartet, daß es ein großes Atelier oder ein großes Museum sei, in dem es von Farbentöpfen noch mehr wimmelt als von Bierkrügen, wird sich ebenso enttäuscht fühlen, als wenn er von ihm erwartet, ein Paradies von Bier und Weißwürsten zu finden. Wer aber zwischen Kunst- und Biergenuß das rechte Maß zu halten weiß, wer den Kunstphilister nicht einseitig und selbstgefällig herausbeißt und auch für die hausbackne Herzenspoesie des echten Münchner Philistertums etwas übrig hat, der wird nicht in den Fehler des Herrn Joseph Ruderer verfallen,*) der trotz allen Rühmens mit seiner Münchner Abstammung doch nur wenig hat von dem warmen Gemüt seines kernigen Volkstums. Es ist der moderne Literat, der, aus dem Boden seiner Heimatstadt herausgewachsen, nur mit dem irrlichtelierenden Scheinwerfer seines Geistes blendende Schlaglichter auf das Treiben dieser Stadt wirft, die aber nur einzelne Bilder aus der höhern Gesellschaft im scharfen Lichte der Satire, oft auch im verzerrenden Spiegel der Karikatur zeigen, nicht mit der hellen Klarheit sachlicher Kritik die Seelen¬ winkel des Münchners durchleuchten. Es ist die Ausgeburt einer tollen Künstler¬ laune, nicht die Schöpfung eines ordnenden Künstlergeistes, was Ruderer hier bietet. Seiner Vaterstadt aber soll man mit einer gewissen Ehrfurcht gegenüber¬ treten, wenn man vor Fremden ihr Bild festhalten will. Demgegenüber erscheint es mir als eine Pflicht der Dankbarkeit für glückliche, in der Jsarstadt verbrachte Jahre, einige Charakterzüge ihres Wesens zu einem wenn auch noch so anspruchslosen Bilde zusammenzufügen. Das bäuerliche, ja zuweilen bäurische Element im Wesen des Münchner Bürgers kann sich nicht verleugnen, weder im geselligen noch im amtlichen Verkehr. Wie der echte Bauer, so ist auch der echte Münchner stockkonservativ, freilich nicht im preußischen politischen Sinne, sondern im sozialen. Wie der Bauer hält er noch an seinem herzlichen „Grüß Gott" fest, wie der Bauer trägt er noch sein Brodmesser hinten in der Hosentasche, in einer Scheide steckend wie ein Hirschfänger; wie ein Bauer raucht er seine Pfeife im Hof¬ brüuhaus und unterhält sich mit seinem „Herrn Nachbar", ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Etwas bäuerlich-patriarchalisches hat auch die Art, wie der Bürger an schönen Sommerabenden in den zahlreichen Biergärten, „Keller" genannt, sein Abendbrot verzehrt: er bringt sich seinen Schinken, sein „Gselchtes" oder sein „Durcheinander" (gemischter Aufschnitt) in Papier ge¬ wickelt mit, breitet es mit seinem Papier offen vor sich aus und beginnt es mit seinem Dolchmesser zu bearbeiten, nachdem er sich von der Kellnerin nur ») J.Ruderer, München (Städte und Landschaften, Bd. I). Stuttgart und München, 1907.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/578>, abgerufen am 22.06.2024.