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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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sozialpsychologische Gindrücke aus deutschen
Großstädten
Karl Vieterich von München
1

on der protestantischen Bürger- und Kaufmannsstadt Leipzig in
die katholische Bauern- und Königsstadt München ist auf den
ersten Blick ein starker Sprung. Doch es ist schon dafür gesorgt,
daß es nicht an mildernden Übergängen fehlt. Wir sahen ja
schon, daß Leipzig manches vom Süden angenommen hat, und
suchten das an mehreren kleinen Zügen festzustellen, die wir in der bayrischen
Hauptstadt wiederfinden. Der Bayrische Bahnhof in Leipzig ist ja auch
schon ein Vorposten des deutschen Südens. Und doch, welch eine andre Welt
steigt vor einem auf, wenn statt des stolzen Leipziger Rathausturms das dick¬
köpfige, untersetzte Zwillingspaar der Frauentürme aus der Ferne herüber¬
grüßt! Jener ein Sinnbild trotzigen Bürgertums, diese ein Sinnbild für die
Vereinigung kirchlicher Macht und bäuerlich-urwüchsiger Kraft; denn nicht nur,
daß die Frauenkirche, wie jede katholische, im Zentrum der Stadt liegt, auch
die runden Kappen ihrer Türme erinnern an die zwiebelförmigen Turmdächer
der bayrischen Dorfkirchen. So sehen wir denn in der Frauenkirche den
Katholizismus als echte Bauernreligion verkörpert vor uns, und so sehen wir
auch in München und dem Münchner vor allem das in die Stadt verpflanzte,
verbürgerte Bauerntum, das dem Münchner Leben die Struktur gibt, das
soziale Kalkplateau bildet, auf dem sich erst die dünne Humusschicht der höhern
Stände abgelagert hat. Diese aber, die eigentlichen Trüger des geistigen
Lebens in München, verdanken ihr Dasein nicht so sehr der Triebkraft des
bäurischen Volkstums als der bewußten Kulturarbeit des bayrischen König¬
tums und dem durch dieses geschaffnen Kulturboden; München als Zentrale
der bayrischen Volkskultur ist etwas andres denn als Zentrale einer modernen
Geisteskultur; nur jene ist bodenständig, diese dagegen importiert oder besser
okuliert. Indem man das volkstümliche München und das künstlerisch-literarische
München oft nicht genügend voneinander geschieden hat, ist man ungerecht
gegen beide geworden. Die Münchner Kultur ist noch nicht so alt wie die
Leipziger -- deshalb haben sich ihre verschiednen Schichten noch nicht so stark


Grenzboten II 1908 73


sozialpsychologische Gindrücke aus deutschen
Großstädten
Karl Vieterich von München
1

on der protestantischen Bürger- und Kaufmannsstadt Leipzig in
die katholische Bauern- und Königsstadt München ist auf den
ersten Blick ein starker Sprung. Doch es ist schon dafür gesorgt,
daß es nicht an mildernden Übergängen fehlt. Wir sahen ja
schon, daß Leipzig manches vom Süden angenommen hat, und
suchten das an mehreren kleinen Zügen festzustellen, die wir in der bayrischen
Hauptstadt wiederfinden. Der Bayrische Bahnhof in Leipzig ist ja auch
schon ein Vorposten des deutschen Südens. Und doch, welch eine andre Welt
steigt vor einem auf, wenn statt des stolzen Leipziger Rathausturms das dick¬
köpfige, untersetzte Zwillingspaar der Frauentürme aus der Ferne herüber¬
grüßt! Jener ein Sinnbild trotzigen Bürgertums, diese ein Sinnbild für die
Vereinigung kirchlicher Macht und bäuerlich-urwüchsiger Kraft; denn nicht nur,
daß die Frauenkirche, wie jede katholische, im Zentrum der Stadt liegt, auch
die runden Kappen ihrer Türme erinnern an die zwiebelförmigen Turmdächer
der bayrischen Dorfkirchen. So sehen wir denn in der Frauenkirche den
Katholizismus als echte Bauernreligion verkörpert vor uns, und so sehen wir
auch in München und dem Münchner vor allem das in die Stadt verpflanzte,
verbürgerte Bauerntum, das dem Münchner Leben die Struktur gibt, das
soziale Kalkplateau bildet, auf dem sich erst die dünne Humusschicht der höhern
Stände abgelagert hat. Diese aber, die eigentlichen Trüger des geistigen
Lebens in München, verdanken ihr Dasein nicht so sehr der Triebkraft des
bäurischen Volkstums als der bewußten Kulturarbeit des bayrischen König¬
tums und dem durch dieses geschaffnen Kulturboden; München als Zentrale
der bayrischen Volkskultur ist etwas andres denn als Zentrale einer modernen
Geisteskultur; nur jene ist bodenständig, diese dagegen importiert oder besser
okuliert. Indem man das volkstümliche München und das künstlerisch-literarische
München oft nicht genügend voneinander geschieden hat, ist man ungerecht
gegen beide geworden. Die Münchner Kultur ist noch nicht so alt wie die
Leipziger — deshalb haben sich ihre verschiednen Schichten noch nicht so stark


Grenzboten II 1908 73
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[0577] [Abbildung] sozialpsychologische Gindrücke aus deutschen Großstädten Karl Vieterich von München 1 on der protestantischen Bürger- und Kaufmannsstadt Leipzig in die katholische Bauern- und Königsstadt München ist auf den ersten Blick ein starker Sprung. Doch es ist schon dafür gesorgt, daß es nicht an mildernden Übergängen fehlt. Wir sahen ja schon, daß Leipzig manches vom Süden angenommen hat, und suchten das an mehreren kleinen Zügen festzustellen, die wir in der bayrischen Hauptstadt wiederfinden. Der Bayrische Bahnhof in Leipzig ist ja auch schon ein Vorposten des deutschen Südens. Und doch, welch eine andre Welt steigt vor einem auf, wenn statt des stolzen Leipziger Rathausturms das dick¬ köpfige, untersetzte Zwillingspaar der Frauentürme aus der Ferne herüber¬ grüßt! Jener ein Sinnbild trotzigen Bürgertums, diese ein Sinnbild für die Vereinigung kirchlicher Macht und bäuerlich-urwüchsiger Kraft; denn nicht nur, daß die Frauenkirche, wie jede katholische, im Zentrum der Stadt liegt, auch die runden Kappen ihrer Türme erinnern an die zwiebelförmigen Turmdächer der bayrischen Dorfkirchen. So sehen wir denn in der Frauenkirche den Katholizismus als echte Bauernreligion verkörpert vor uns, und so sehen wir auch in München und dem Münchner vor allem das in die Stadt verpflanzte, verbürgerte Bauerntum, das dem Münchner Leben die Struktur gibt, das soziale Kalkplateau bildet, auf dem sich erst die dünne Humusschicht der höhern Stände abgelagert hat. Diese aber, die eigentlichen Trüger des geistigen Lebens in München, verdanken ihr Dasein nicht so sehr der Triebkraft des bäurischen Volkstums als der bewußten Kulturarbeit des bayrischen König¬ tums und dem durch dieses geschaffnen Kulturboden; München als Zentrale der bayrischen Volkskultur ist etwas andres denn als Zentrale einer modernen Geisteskultur; nur jene ist bodenständig, diese dagegen importiert oder besser okuliert. Indem man das volkstümliche München und das künstlerisch-literarische München oft nicht genügend voneinander geschieden hat, ist man ungerecht gegen beide geworden. Die Münchner Kultur ist noch nicht so alt wie die Leipziger — deshalb haben sich ihre verschiednen Schichten noch nicht so stark Grenzboten II 1908 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/577>, abgerufen am 22.06.2024.