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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die preußische Artillerie im Dienste des Küstenrettungswesens

Die Versuche in Memel hatten hauptsächlich den Zweck, festzustellen, ob
die Raketen nicht die Leine über ein gestrandetes Schiff tragen könnten, das
für die Bombe nicht erreichbar war. Daneben sollten, wie im Jahre 1828,
die Raketen als Leuchtkörper erprobt werden. Auffällig ist, daß man sich weder
die Erfindungen und Erfahrungen, die in England seit dem Jahre 1807 durch
Trengrouse und Denuett gemacht worden waren, noch die Ergebnisse der Versuche
des Oberfeuerwerkers Kohler zunutze machte, fondern die Idee, als sei sie neugeboren,
den Weg über die ersten entmutigenden Schwierigkeiten nochmals antreten ließ.

Müller verwandte zuerst eine hölzerne 15 Zoll lange Rakete -- sie war
zu kurz und zu schwer. Eine zweite, aus mehreren Stücken verzinnten Eisen¬
blechs zusammengesetzte hielt das Einschlagen des Vrennsatzes nicht aus. Eine
dritte aus Messingblech erlag der Brennkraft des Satzes, sie erreichte mit der
Leine nur eine Flugweite von 292 Schritt und verbrannte. Die vierte aus
rohem Eisenblech trug die Leine nur 30 Schritt weit, da der Draht, der die
Leine mit der Rakete verband, verbrannte. Auch der Boden der Rakete wider¬
stand nicht der Brennkraft des Satzes, die eiserne Balancierstange wurde kreis¬
förmig verzogen und zersprang beim Aufschlagen des Geschosses. Die fünfte,
nach diesen Erfahrungen verstärkte Rakete flog bei gutem Wetter 695 Schritt
weit und hatte nur neun Fuß Seitenabweichung, aber sie zerriß die Leine. Erst
die sechste, die ganz so wie die fünfte konstruiert war, trug die Leine gegen
starken Sturm 425 Schritt weit ans Ziel. Dieses Naketenmodell wurde noch
mit einem stärkern Brennsatze gefüllt und mit einem schwerern Stab versehen
und dann wieder probiert. Dabei zerriß die erste Rakete eine fünf Linien dicke
Leine in mehrere Stücke und flog in guter Richtung 641 Schritt weit, die
zweite zerriß die fast sieben Linien starke Leine, flog nur 40 Schritt weit und
Platzte. Die dritte erreichte eine Flugweite von 346 Schritt und traf das Ziel,
die Leine blieb an einer Zielstange Hunger. Die vierte zerriß die Leine, zer¬
brach den Stab, schlug 63 Schritt vor dem Schießstand auf die Erde und
krepierte. Die fünfte zersprang beim Abfeuern. Die sechste verlor Leine und
Spitzkappe und flog 673 Schritt weit.

Müller bemerkt zu diesen Versuchen, daß nach den Ergebnissen die Raketen
ihrem Zweck nicht entfernt entsprächen, daß aber das verfolgte Ziel durch Geld,
unermüdlichen Fleiß und große Aufmerksamkeit erreicht werden könne, und bot
seine Dienste und damit das geistige Betriebskapital der Regierung an. Den
bisherigen Gewinn an technischen Erfahrungen und die sich daraus ergebenden
Aufgaben faßte er in folgenden Sätzen zusammen: Die Eisenblechhülsen dürften
brauchbar sein, doch erfordre dieses Material die sorgfältigste Bearbeitung, da
die daraus gefertigten Geschosse sonst für die Bedienungsmannschaft gefährlich
werden könnten. Die Sorgfalt müsse sich auch auf die Auswahl des Roh¬
materials erstrecken, da offenbar infolge der Sprödigkeit des verwandten Eisens
neue Hülsen beim Abfeuern zersprungen seien, während eine schon zweimal ge¬
brauchte zum drittenmal habe verwandt werden können. Die Form und der


Die preußische Artillerie im Dienste des Küstenrettungswesens

Die Versuche in Memel hatten hauptsächlich den Zweck, festzustellen, ob
die Raketen nicht die Leine über ein gestrandetes Schiff tragen könnten, das
für die Bombe nicht erreichbar war. Daneben sollten, wie im Jahre 1828,
die Raketen als Leuchtkörper erprobt werden. Auffällig ist, daß man sich weder
die Erfindungen und Erfahrungen, die in England seit dem Jahre 1807 durch
Trengrouse und Denuett gemacht worden waren, noch die Ergebnisse der Versuche
des Oberfeuerwerkers Kohler zunutze machte, fondern die Idee, als sei sie neugeboren,
den Weg über die ersten entmutigenden Schwierigkeiten nochmals antreten ließ.

Müller verwandte zuerst eine hölzerne 15 Zoll lange Rakete — sie war
zu kurz und zu schwer. Eine zweite, aus mehreren Stücken verzinnten Eisen¬
blechs zusammengesetzte hielt das Einschlagen des Vrennsatzes nicht aus. Eine
dritte aus Messingblech erlag der Brennkraft des Satzes, sie erreichte mit der
Leine nur eine Flugweite von 292 Schritt und verbrannte. Die vierte aus
rohem Eisenblech trug die Leine nur 30 Schritt weit, da der Draht, der die
Leine mit der Rakete verband, verbrannte. Auch der Boden der Rakete wider¬
stand nicht der Brennkraft des Satzes, die eiserne Balancierstange wurde kreis¬
förmig verzogen und zersprang beim Aufschlagen des Geschosses. Die fünfte,
nach diesen Erfahrungen verstärkte Rakete flog bei gutem Wetter 695 Schritt
weit und hatte nur neun Fuß Seitenabweichung, aber sie zerriß die Leine. Erst
die sechste, die ganz so wie die fünfte konstruiert war, trug die Leine gegen
starken Sturm 425 Schritt weit ans Ziel. Dieses Naketenmodell wurde noch
mit einem stärkern Brennsatze gefüllt und mit einem schwerern Stab versehen
und dann wieder probiert. Dabei zerriß die erste Rakete eine fünf Linien dicke
Leine in mehrere Stücke und flog in guter Richtung 641 Schritt weit, die
zweite zerriß die fast sieben Linien starke Leine, flog nur 40 Schritt weit und
Platzte. Die dritte erreichte eine Flugweite von 346 Schritt und traf das Ziel,
die Leine blieb an einer Zielstange Hunger. Die vierte zerriß die Leine, zer¬
brach den Stab, schlug 63 Schritt vor dem Schießstand auf die Erde und
krepierte. Die fünfte zersprang beim Abfeuern. Die sechste verlor Leine und
Spitzkappe und flog 673 Schritt weit.

Müller bemerkt zu diesen Versuchen, daß nach den Ergebnissen die Raketen
ihrem Zweck nicht entfernt entsprächen, daß aber das verfolgte Ziel durch Geld,
unermüdlichen Fleiß und große Aufmerksamkeit erreicht werden könne, und bot
seine Dienste und damit das geistige Betriebskapital der Regierung an. Den
bisherigen Gewinn an technischen Erfahrungen und die sich daraus ergebenden
Aufgaben faßte er in folgenden Sätzen zusammen: Die Eisenblechhülsen dürften
brauchbar sein, doch erfordre dieses Material die sorgfältigste Bearbeitung, da
die daraus gefertigten Geschosse sonst für die Bedienungsmannschaft gefährlich
werden könnten. Die Sorgfalt müsse sich auch auf die Auswahl des Roh¬
materials erstrecken, da offenbar infolge der Sprödigkeit des verwandten Eisens
neue Hülsen beim Abfeuern zersprungen seien, während eine schon zweimal ge¬
brauchte zum drittenmal habe verwandt werden können. Die Form und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/565>, abgerufen am 22.06.2024.